May 06, 2022
Regionalbotschafterin für die Ukraine und Großbritannien an der TUD
Interview mit der Resilienz-Forscherin Ianina Scheuch, die nun ihren geflohenen Landsleuten auch Hilfe und Unterstützung hier in Dresden anbietet
Seit einigen Wochen treibt die gebürtige Ukrainerin Ianina Scheuch die Sorge um ihre Landsleute um, die sie buchstäblich Tag und Nacht mit dem Einsatz all ihrer Beziehungen und persönlichen Energie unterstützt. Eine Nachwuchswissenschaftlerin, vielfach international vernetzt, die zur Resilienz forscht und gerade ihre Dissertation abgeben wollte, als ein Krieg begann. Im Interview mit der Absolventenreferentin Susann Mayer spricht sie über ihren Werdegang, die Lage in der Ukraine und ihr Engagement für die jungen Akademikerinnen und Akademiker von dort.
UJ: Ianina, danke, dass Du trotz dieser – für Dich besonders erdrückenden – Ereignisse uns von Dir erzählen möchtest. Sage doch bitte, was der Grund war, sich für ein Studium an der TU Dresden zu entscheiden.
Ianina Scheuch: Ich habe Wirtschaftswissenschaften sowie internationale Beziehungen in der Ukraine und Deutschland studiert. Bereits in jüngeren Jahren interessierte ich mich für andere Kulturen, Kunst, Literatur und Menschenrechte, und hatte so den Wunsch, selbst internationale Erfahrung zu sammeln. So absolvierte ich ein deutsch-ukrainisches DAAD-Austauschprogramm, darauf aufbauend mein Studium der Wirtschaftswissenschaften und Internationale Beziehungen unter Förderung der Konrad-Adenauer-Stiftung. Bereits während des Studiums habe ich mich bei internationalen Themen, insbesondere bei der Unterstützung von Studierenden aus anderen Ländern engagiert. So begleiteten mich stets die Themen Internationalität und Integration. Weil es mir wichtig war, meinen Horizont zu erweitern und meine Sprachkenntnisse zu verbessern, kam ich dann zum Studium nach Dresden. Heute, nach mehreren Jahren in anderen Städten und Ländern, bin ich mit meiner Familie sehr glücklich und dankbar, mein Zuhause in Dresden und an der TUD gefunden zu haben.
Woran arbeitest und forschst Du gerade?
Ich arbeite in einem BMBF-geförderten Verbundprojekt »MP-INVET - Metaprojekt zu Forschung zur Internationalisierung der Berufsbildung«, das von der TU Dresden, der Universität Mainz und der Universität Bremen geleitet wird. An der TU Dresden ist es an der Professur für Erwachsenenbildung, Schwerpunkte berufliche Weiterbildung und komparative Bildungsforschung angesiedelt, wo wir federführend für Monitoring, Evaluation und Netzwerkbildung von internationalen Forschungsprojekten aus Europa, Asien, Afrika zuständig sind. Auf der Forschungsebene arbeite ich vor allem zu den aktuellen Themen rund um Resilienzförderung und Diversität und promoviere an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Hier leite ich ein aktuelles TransCampus-Projekt zur Kompetenzbildung im Bereich Resilienz und Wohlbefinden von Studierenden in Zusammenarbeit mit Kings College London (KCL).
Ich weiß, Du engagierst Dich außerdem …
Meine Erfahrung in internationalen Projekten im Bereich Bildung und Kultur nutze ich, um z.B. Workshops und Seminare von Stiftungen zu organisieren und zu moderieren. Und – daher kennen wir beide uns ja – ich engagiere mich ehrenamtlich als TUD-Regionalbotschafterin, aber auch als Mentorin für junge Wissenschaftlerinnen sowie Schülerinnen und Schüler vor allem mit Migrationshintergrund.
Was würdest du heute jüngeren Menschen empfehlen? Gerade heute kommen so viele Menschen aus der Ukraine zu uns.
Deutschland gibt einem sehr viele Möglichkeiten, aber man muss auch sehr hart für den Erfolg arbeiten. Das gilt für alle, dass man dem Glück und Zufall ein wenig mit Fleiß und Motivation nachhelfen muss. Heute haben wir dennoch eine besondere Lage: Viele junge Menschen mussten ihre Familien oder Freunde in der Ukraine zurücklassen. Sie fühlen sich hilflos und haben keine Kraft oder Motivation, die sie hier vorantreiben sollte. Sie brauchen unsere Hilfe und persönlichen Support – ich freue mich, dass ich als Regionalbotschafterin an der TUD helfen kann.
Als Regionalbotschafterin für die Ukraine bist Du aktiv, um beide Länder beim Studierenden- und Forscheraustausch zu unterstützen. Seit Wochen geht es vor allem um Unterstützung Deiner Landsleute. Kannst Du kurz beschreiben, was in den ersten Tagen passiert ist?
Der 24. Februar markierte eine Zeitenwende. Mit dem Überfall auf die Ukraine haben sich auch unsere persönlichen Geschichten geändert. Der Angriff startete am frühen Morgen. Meine Familie in der Ukraine hat eine Bombendrohung gehört und mich sofort angerufen, sie sind dortgeblieben und haben eine Schule für geflüchtete Kinder gegründet. Mein Bruder ist im Wohnheim in Deutschland aufgewacht, er hätte am nächsten Tag zurück in die Ukraine fliegen müssen, da sein Erasmus-Studium und seine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland beendet war. Meine Cousine aus London war in der Ukraine, da sie ihre Großeltern und ihre kleine Schwester besuchte und nach dem Angriff dortbleiben wollte, um vor Ort zu helfen. Ich musste sofort handeln – für meine Familie, aber auch für all diejenigen, die meine Hilfe benötigten. Innerhalb einer Stunde hatte ich 500 E-Mails auf Deutsch, Englisch, Ukrainisch oder Russisch erhalten, wo meine Hilfe benötigt war. Am 25. Februar 2022 – zu meinem Geburtstag (an diesem Tag wollte ich meine Dissertation abgeben, was ich nun verschieben musste) – konnte ich bereits 300 Menschen, u.a. Studierende und Professorinnen, weitervermitteln. Rückblickend verstehe ich, wie viel wir in diesen ersten Tagen bewegen konnten. Und ich bin sehr dankbar für die ganze Unterstützung von all denjenigen, die mitgeholfen haben, oder einfach auf die Straßen in Berlin, Hamburg oder Dresden in den ersten Tagen gegangen sind.
Kurz nach Kriegsausbruch fragten wir vom Absolventenreferat besorgt bei unseren ukrainischen Alumni nach ihrer Lage, und gaben Dich als Notfallkontakt in Dresden an. Ein gelungenes Beispiel ist das Willkommen einer anderen Regionalbotschafterin, Dr. Natalya Sadretdinova, mit ihren Kindern hier in Dresden ...
Ja, das freut mich sehr, dass wir noch einer Familie aus der Ukraine helfen durften. Dr. Natalya Sadretdinova kommt aus einem Vorort in der Nähe von Kiew und musste nach dem Angriff ihr Zuhause sofort verlassen. Wir haben sie und ihre beiden Kinder am Wochenende aus Wrocław geholt und ein Apartment in Dresden besorgt. Seitdem haben wir sie unter unsere Patenschaft genommen, in unsere Familie integriert und auf ihrem Weg begleitet. Wir helfen bei Formalitäten und Behördengängen, bei der Schulsuche und Integration, beantworten Fragen im Alltag, vermitteln Sprachkurse, zeigen ihnen die Stadt und die Umgebung. Wir verbringen Zeit miteinander und tauschen uns aus, da auch eine normale Umgebung für sie alle so wichtig ist. Es kommen auch schon weitere Frauen mit Kindern an, wo Nataliya uns mitgeholfen hat und vermitteln konnte.
Was möchtest Du zum Schluss den Leserinnen und Lesern sagen?
Wir als TUD-Gemeinschaft können helfen. Ob die zentrale Stelle »We-Care«, Engagements an Fakultäten wie Sprachkurse am Institut für Slawistik oder auch zahlreiche Initiativen, bei denen Studierende mitmachen können, wie bei der Refugee Law Clinic oder der Lernwerkstatt für Schulkinder auf ukrainisch. Ich freue mich, geflüchteten Menschen aus der Ukraine im Master-Studium »Weiterbildungsforschung und Organisationsentwicklung« fünf Plätze im Rahmen eines »flexiblen Austauschstudiums« zur Verfügung zu stellen. Die erste Anlaufstelle für Interessentinnen und Interessenten sind die »We-Care«-Internetseiten. Weil ausländischen Studieninteressierten häufig fachliche und sprachliche Voraussetzungen für eine direkte Studienaufnahme fehlen, gibt es im Rahmen des flexiblen Austauschstudiums erweiterte Möglichkeiten der Studienaufnahme.
Die Fragen stellte Susann Mayer.
Hintergründe zur Kontaktstelle WE-CARE und Stipendien für Geflüchtete
Die TU Dresden hat mit WE-CARE eine Kontaktstelle geschaffen, die umfangreiche Informationen wie Anlaufstellen und Hilfsangebote für Geflüchtete zur Verfügung stellt. Im Fokus sind TUD-Angehörige und -Alumni aus den vom Krieg betroffenen Ländern. Kürzlich hat die Universität für Dr. Natalya Sadretdinova und zehn weitere ukrainische Wissenschafter Anträge auf eine Förderung durch die Philipp Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung gestellt. Eine Förderzusage würde es ihr ermöglichen, die Forschung in den kommenden zwei Jahren an der TU Dresden fortzusetzen. Bis dahin arbeitet sie am Institut für Textilmaschinen und Textile Hochleistungswerkstofftechnik von Prof. Yordan Kyosev, gefördert durch ein Stipendium des DAAD.
Zudem gibt es eine Spendenaktion der Gesellschaft von Freunden und Förderern der TU Dresden e. V. für die durch den Krieg in Not geratenen Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 8/2022 vom 3. Mai 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.