Aug 10, 2020
»Wir erleben gerade das Ende der Aufklärungsideale.«
Philosophie-Professor Markus Tiedemann forscht zum gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft – und ist wenig begeistert
Beate Diederichs
Im vergangenen Semester hat sich Prof. Markus Tiedemann in einem Seminar mit Verschwörungstheorien und Fake News beschäftigt. Momentan forscht er zum Zustand der aufgeklärten Gesellschaft – mit pessimistischer Prognose.
Für dieses Semester listet die Homepage der TU Dresden keine Lehrveranstaltungen
von Markus Tiedemann auf. Coronabedingte Verzögerung? Nein, er habe gerade ein Forschungssemester, berichtet der Professor aus dem Homeoffice. Im Sommersemester sei er daher nur an einer Ringvorlesung zum Corona-Virus beteiligt. »Dennoch habe ich trotz Forschungssemester viel organisatorische Arbeit an der Uni«, sagt Tiedemann, Professor für Didaktik der Philosophie und Ethik und Leiter des Instituts für Philosophie an der TUD.
Markus Tiedemann, geboren 1970 in Hamburg, hat ursprünglich Philosophie, Psychologie, Geschichte und Erziehungswissenschaften studiert, war Lehrer, Fachseminarleiter und Fortbildner und hat bereits an der Universität Mainz und der Freien Universität Berlin gelehrt. Aus diesen Tätigkeiten haben sich seine Interessenschwerpunkte herauskristallisiert, unter anderem Menschenrechtsdiskurse, Pluralismus und multikulturelle Gesellschaft. Im Laufe seiner wissenschaftlichen Tätigkeit hat der Professor eine Reihe Bücher verfasst, zuletzt »Recht auf Widerstand« und gerade erschienen »Migration, Menschenrechte und Rassismus. Herausforderungen ethischer Bildung«.
Im Wintersemester 2019/20, vor seinem Forschungssemester, führte Markus Tiedemann, wie stets seit seinem Antritt an der TUD vor fünf Jahren, mehrere Lehrveranstaltungen durch. Darunter war ein Seminar zu einem Thema, das damals wie jetzt viele Gemüter bewegt. Es hieß »Fake News und Verschwörungstheorien als Herausforderungen für den Ethikunterricht«. Für Tiedemann ein Thema, das immer aktuell ist und mit dem sich angehende Ethiklehrer auf jeden Fall befassen sollten. »Wir haben im Seminar zunächst
geklärt, was man unter den beiden Begriffen versteht, um eine Basis für die folgende Didaktisierung zu haben, also dafür, wie man das Thema im Unterricht umsetzt«, berichtet der Dozent. Für Markus Tiedemann spielt dabei etwas eine Rolle, das er »Viereck der Begriffe« nennt: Fake News, das sei klar, seien einfach Falschinformationen. Bei der Verschwörungstheorie müsse man jedoch unterscheiden, ob sie wahr oder falsch sei. »So hat sich die Verschwörungstheorie zur Vorgehensweise der NSA im Nachhinein als richtig herausgestellt.« Bei falscher Verschwörungstheorie könne es sich dagegen um Pseudowissenschaft handeln, also um unwissenschaftliche Denkweise, die aber nicht böswillig sein müsse, sondern oft einfach auf Unkenntnis beruhe. Bei bewusst falscher
Verschwörungstheorie sei oft Propaganda, also gezielte Manipulation von Weltanschauungen, gegeben. Dabei nutze man oft Fake News. »Im Seminar stellten die Studierenden dann nach der Begriffsklärung rund zehn Verschwörungstheorien vor, von der NSA über die Kondensstreifen bei Flugzeugen bis zur sogenannten Auschwitz-Lüge. Wir prüften danach gemeinsam, ob es sich dabei um Propaganda oder Pseudowissenschaft handelte«, erzählt Markus Tiedemann. Am Ende entwarfen die
Teilnehmer Ideen für die praktische Umsetzung in verschiedenen Klassenstufen in Schulen von Oberschule über Gymnasium bis Berufsschule. Der Professor hält es für möglich, dieses Seminar in ähnlicher Form zu wiederholen. »Es ist auf jeden Fall ein interessantes Forschungsfeld. Besonders lohnt es sich meiner Meinung nach zu untersuchen, wie man Schüler erreichen kann, die Verschwörungstheorien bereits verinnerlicht haben.«
Das ist noch Zukunftsmusik. Jetzt, in seinem Forschungssemester, beschäftigt sich Markus Tiedemann unter anderem mit einem Thema, das in den Bereich Fachphilosophie gehört:
der postaufklärerischen Gesellschaft. Seine These dazu stimmt nicht optimistisch: »Wir erleben gerade das Ende der Aufklärungsideale und unsere Generation wird meines Erachtens die Rückkehr dieser Ideale nicht mehr erleben.« Einerseits sei es erstaunlich,
wie lange die Gesellschaften der westlichen Welt mit den Werten der Aufklärung – Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und andere – existiert hätten, andererseits sei diese Zeit geschichtlich gesehen eine kurze Epoche. »Wir sprechen hier historisch von rund 200
Jahren und kulturell von einer weltweiten Minderheit, auch wenn diese sehr wirkmächtig ist. Die Mehrheit der Menschen auf der Welt hat immer in autoritären Regimen gelebt.« Die Werte der Aufklärung müssten immer aufs Neue verteidigt werden, und dafür brauche es den mündigen Bürger. »Doch der verschwindet!« Zur Mündigkeit gehört es nämlich nach Tiedemanns Meinung, dass man sich nicht nur in einer Filterblase aufhält, wie das viele Menschen tun, sondern sich aus verschiedenen Quellen informiert, auch wenn das anstrengend ist. »Aber in einer Zeit, in der die breite Masse kaum Texte liest, die länger sind als der durchschnittliche Tweet?« Außerdem seien aufgeklärte Gesellschaften noch vielfältigen anderen »Stressfaktoren« ausgesetzt, wie Migrationsbewegungen, ökonomischer Spaltung und der Bedrohung des Lebensraums durch Umweltzerstörung. Dass diese Faktoren wirken, könne man an mehreren Symptomen sehen, zeigt Markus Tiedemann: »So werden beispielsweise populistische Parteien gewählt, die Wahlbeteiligung sinkt langfristig, auch wenn es immer wieder positive Ausreißer gibt, die Wertschätzung für Menschen in öffentlichen Ämtern ist im freien Fall.« Daher ist die abschließende Prognose des Professors für die Gesellschaften düster, die bisher die
Werte der Aufklärung hochgehalten haben: »Reine Diktaturen werden sie zwar nicht werden. Doch das Modell einer illiberalen Demokratie, wie es zum Beispiel Viktor Orbán in Ungarn praktiziert, droht zum Vorbild für Europa zu werden.«
Hoffnung bezüglich der Zukunft schöpft Markus Tiedemann derzeit hauptsächlich aus Bewegungen wie Fridays for Future, die sich mit den Herausforderungen auseinandersetzen, die das Kommende bringen wird. »Es ist eine beachtliche politische und moralische Leistung, wenn sich eine Generation aktiv darum bemüht, einen ökonomisch geringeren Lebensstandard zu realisieren als ihre Eltern.«
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 12/2020 vom 23. Juni 2020 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.