28.10.2025
Fünf Jahre Beschwerdestelle, fünf Jahre Aktivismus gegen geschlechterspezifische Gewalt: Interview mit Anja Wiede
In diesem Jahr begeht die Beschwerdestelle bei Vorkommnissen von Belästigung, Diskriminierung und Gewalt an der TUD ihr fünfjähriges Bestehen. Ebenso findet das Programm zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen im November bereits zum fünften Mal statt. Diese doppelte Wegmarke bietet Anlass, genauer hinzuschauen: Wo stehen wir im Umgang mit sexualisierter Belästigung, Diskriminierung und Gewalt an Hochschulen?
Im Interview spricht culTUre mit Anja Wiede, der Ansprechperson der Beschwerdestelle bei Vorkommnissen von Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, darüber, wie geschlechterspezifische Gewalt an Universitäten wirkt, welche Maßnahmen die TUD bereits etabliert hat und welche Schritte weiter notwendig sind, um nachhaltige Veränderung zu erreichen.
Was bedeutet „geschlechterspezifische Gewalt“? Was umfasst der Begriff?
Geschlechterspezifische Gewalt, häufig auch als sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt (abgekürzt SBDG) bezeichnet, meint jede Form von Gewalt, die sich gegen eine Person aufgrund ihres zugeschriebenen oder tatsächlichen Geschlechts richtet. Dazu gehören körperliche, sexuelle, psychische, ökonomische und digitale Gewaltformen. Sie kann dabei in allen Lebensbereichen auftreten: im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, an der Universität, in Partner:innenschaften oder im privaten Umfeld.
Gewalt wird dabei verstanden als Kontinuum, also einer Spannbreite unterschiedlicher Verhaltensweisen. Dieses reicht von abwertenden Kommentaren, sexualisierenden „Scherzen“ oder ungewollten Berührungen bis hin zu schwerer körperlicher und sexualisierter Gewalt oder sogar Femiziden. Dadurch wird deutlich, dass geschlechterspezifische Gewalt nicht erst dann beginnt, wenn ein klar strafrechtlich relevanter Tatbestand vorliegt. Die meisten Betroffenen erleben diese Gewalt weit unterhalb dieser Schwelle. Im Alltag, subtil oder offen, aber wirksam mit einer Bandbreite an Folgen, z. B. Konzentrations- oder Schlafschwierigkeiten, Leistungsabfall oder sozialer Isolation.
Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz wird sexualisierte Belästigung als Form der Geschlechterdiskriminierung verstanden. Entscheidend ist hier nicht die Absicht der belästigenden Person, sondern die Wirkung auf die betroffene Person. Das heißt: Wenn eine (ungewünschte) Handlung herabwürdigend, entwürdigend oder grenzüberschreitend wirkt, ist sie als Belästigung ernst zu nehmen.
Und ein wesentlicher Punkt: Wir sprechen bewusst von sexualisierter und nicht von sexueller Gewalt. Sexualisierte Gewalt nutzt Sexualität als Mittel zur Machtausübung, zur Kontrolle oder zur Herabwürdigung. Es geht nicht um Anziehung oder Intimität, es geht um Dominanz, Grenzüberschreitung und das Verletzen von Autonomie.
Wen betrifft geschlechterspezifische Gewalt (direkt oder indirekt) an Hochschulen?
Geschlechterspezifische Gewalt macht auch vor Hochschulen nicht Halt. Universitäten sind Teil der Gesellschaft und spiegeln damit ihre Machtverhältnisse, Ungleichheiten und Diskriminierungsdynamiken wider. Deshalb betrifft SBDG grundsätzlich alle Hochschulangehörigen als Betroffene, als Ausübende oder als Zeug:innen.
Ein Gedankenexperiment verdeutlicht, wie stark unsere Vorstellungen geprägt sind. Wenn wir gebeten werden, uns eine Situation sexualisierter Gewalt vorzustellen, haben viele ein sehr enges Bild vor Augen. Meist eine junge, weiße, nicht-behinderte Frau. Menschen, die mehrfach marginalisiert sind (wie beispielsweise behinderte oder mehrgewichtige Frauen, queere Personen oder Personen mit Rassismuserfahrung), werden in diesem Bild häufig nicht als Betroffene gedacht, sondern in manchen Fällen sogar stereotyp als ausübende Gewalt imaginiert. Dieses Bild ist falsch und verhindert, dass Betroffene gesehen und ernst genommen werden.
Statistisch ist gut belegt, dass SBDG überwiegend von Männern ausgeübt wird. Andere Faktoren wie Bildung oder sozialer Status spielen dabei kaum eine Rolle. Relevanter sind Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale wie geringes Empathievermögen, narzisstische Tendenzen, feindseliger Sexismus, Machtstreben oder eine starke Orientierung an Hierarchien.
Die UniSAFE-Studie zu geschlechterspezifischer Gewalt an europäischen Hochschulen zeigt deutlich, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit behinderte Personen, queere Menschen und Personen mit Rassismuserfahrung SBDG erleben. Gleichzeitig berichten sowohl Frauen als auch Männer von solchen Erfahrungen. Insgesamt haben zwei Drittel der Befragten angegeben, geschlechtsspezifische Gewalt an der eigenen Institution erlebt zu haben, ein Drittel erlebte sexuelle Belästigung/Gewalt. Nur zehn Prozent haben diese Erlebnisse gemeldet. Personen, die es nicht meldeten, gaben an, dass sie nicht sicher waren, ob das Vorkommnis ernst genug war, dass sie nicht glaubten, dass etwas passieren würde oder befürchteten Vergeltung.
Weil SBDG ein Ausdruck von Machtmissbrauch ist, trifft sie vor allem Personen, die in Abhängigkeits-, oder Hierarchieverhältnissen stehen, zum Beispiel Studierende gegenüber Lehrenden oder Beschäftigte mit befristeten Verträgen. Hochschulen sind also nicht nur Orte des Wissens, sie sind auch Orte von Ungleichheit. Und genau deshalb haben sie die Verantwortung, für sichere und diskriminierungssensible Strukturen zu sorgen.
Was tut die TUD zum Schutz ihrer Angehörigen?
In den vergangenen fünf Jahren hat sich an der TUD sehr viel bewegt. Wir orientieren uns dabei unter anderem am sogenannten 7-P-Modell der UniSAFE-Studie, das zentrale Handlungsfelder zur Prävention sexualisierter Belästigung, Diskriminierung und Gewalt benennt.
1. Policies
Mit der Richtlinie zum Umgang mit Belästigung, Diskriminierung und Gewalt hat die TUD einen verbindlichen Rahmen geschaffen, in dem sexualisierte Gewalt explizit benannt und adressiert wird.
2. Prevention
Es gibt vielfältige Sensibilisierungs-, Vernetzungs- und Empowerment-Angebote. Jedes Jahr werden beispielsweise Veranstaltungen zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen im November oder zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter-, und Transfeindlichkeit im Mai organisiert. Als einzige Hochschule haben wir auch die Lizenz zum „Bringing in the Bystander“-Workshop erworben. Öffentlichkeitskampagnen wie „Sicherer Campus“ vom Social Media-Team tragen auch dazu bei, Aufmerksamkeit zu schaffen, Wissen zugänglich zu machen und Zivilcourage zu stärken. 2021 beteiligte sich die TUD auch an der Kampagne „Orange the world“ und ließ das Rektorat in orange erstrahlen.
3. Provision of Services
Angehörige der TUD können sich intern vertraulich oder anonym beraten lassen, etwa über die zentralen und dezentralen Gleichstellungsbeauftragten oder durch Anja Wiede als ausgebildete Fachkraft für Prävention sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz. Zudem verfügen der StuRa und viele Fachschaftsräte über Awareness-Strukturen für Veranstaltungen. Gleichzeitig sind wir gut mit externen Fachberatungsstellen wie Opferhilfe e. V., Gerede e. V., dem D.I.K., dem Männernetzwerk oder dem sowieso e. V. vernetzt.
4. Protection
Mit der digitalen Meldeplattform BKMS wurde ein niedrigschwelliger und anonymer Zugang zur Beschwerdestelle geschaffen. Betroffene können dort Vorkommnisse melden und Unterstützung sowie Hinweise zum weiteren Vorgehen erhalten.
5. Prosecution
Die Beschwerdestelle bei Vorkommnissen von Belästigung, Diskriminierung und Gewalt besteht seit 2020. Sie prüft eingehende Fälle sorgfältig aus verschiedenen Perspektiven und leitet anschließend geeignete Maßnahmen ein, die zur Intervention und zur Prävention weiterer Vorfälle beitragen.
6. Prevalence
Die TUD unterstützt aktiv Forschung und Datenerhebung zum Thema. Sie war Teil der europaweiten UniSAFE-Studie und ermöglicht Studierenden eigene Untersuchungen dazu. Zudem berichtet Anja Wiede jährlich im Senat über Meldungen und Entwicklungen. Diese Transparenz ist keineswegs selbstverständlich im Hochschulkontext.
7. Partnerships
Wir arbeiten hochschulübergreifend, beispielsweise in der bukof-Kommission „Sexualisierte Gewalt an Hochschulen“. Dieser Austausch ermöglicht es, gemeinsam Standards zu entwickeln und institutionelle Verantwortung weiter auszubauen.
Das ist nur jedoch ein Ausschnitt dessen, was bereits an unserer Universität passiert. Aber dennoch bleibt klar, dass Prävention und Schutz keine abgeschlossenen Prozesse sind. Es ist ein kontinuierlicher und insbesondere gemeinsamer Auftrag, den wir alle zusammen haben und dem wir nachgehen müssen.
Was kann jede:r einzelne Universitätsangehörige tun?
Jede einzelne Person kann einen wichtigen Beitrag leisten. Ein erster Schritt ist, SBDG aus der Tabuzone zu holen. Solange wir nicht darüber sprechen, bleibt das Problem unsichtbar und Betroffene bleiben allein. Es hilft, im kleinen Kreis zu beginnen. Mit Kolleg:innen, Freund:innen oder in der Familie. Viele merken dann erst, wie sehr sexualisierte Grenzüberschreitungen den Alltag vieler Menschen prägen. Am 25.11.2025, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, können wir beim GetTUgether auf dem Campus oder bei der abendlichen Filmvorstellung „In die Sonne schauen“ im Zentralkino diesbezüglich ins Gespräch kommen. Dieses Sichtbarmachen ist entscheidend, um Verantwortung nicht von sich wegzuschieben.
Dazu gehört auch, Grenzen zu respektieren – die eigenen und die anderer. Wir sollten auf unsere Sprache achten und sexualisierende oder abwertende Kommentare nicht als „harmlosen Spaß“ abtun. Wenn wir Zeug:innen von Grenzüberschreitungen werden, ist es wichtig, nicht wegzusehen. Das muss nicht heroisch sein. Man kann direkt einschreiten, Unterstützung holen oder später ein Gespräch führen. Und wenn die Situation schwierig ist, etwa aufgrund von Abhängigkeitsverhältnissen, kann es schon hilfreich sein, das Geschehen zunächst formlos festzuhalten: Was ist wann, wo, wie und mit wem passiert?
Betroffene brauchen Menschen, die ihnen zuhören, sie ernst nehmen und ihnen zutrauen, selbst zu entscheiden, welche nächsten Schritte für sie richtig sind. Daher ist es wichtig, die Beratungs- und Anlaufstellen an der Universität zu kennen und weitervermitteln zu können.
Und schließlich braucht es Selbstreflexion: Welche Rolle spiele ich selbst? Welche Strukturen stütze ich vielleicht – bewusst oder unbewusst – mit ? Eine Universität wird erst dann zu einem sicheren Ort für alle, wenn wir Verantwortung nicht delegieren, sondern gemeinsam übernehmen.
Wer tiefer einsteigen möchte, kann die Angebote des Zentrums für Weiterbildung nutzen. Dort werden regelmäßig Workshops zum Umgang mit sexualisierter Belästigung, Diskriminierung und Gewalt im Hochschulkontext angeboten.
Bei der Kampagne "Orange the world" leuchtet das Rektorat in Orange.
Was muss sich in Zukunft noch ändern, um eine sichere und diskriminierungssensible Studien, und Arbeitsumgebung für alle an der TUD zu schaffen?
Wenn wir Diversität und Gleichstellung als Grundpfeiler unserer Universität ernst nehmen, dann darf SBDG darin nicht ausgeklammert werden. Die Folgen für Betroffene sind oft gravierend: Leistungsabfall, Rückzug aus dem Campusleben, Studienabbrüche oder sogar der Wechsel der Universität sind keine Ausnahme. Wer Vielfalt fördern möchte, muss daher auch Sicherheit für diejenigen gewährleisten, die besonders häufig betroffen sind, etwa queere Personen oder Menschen mit Rassismuserfahrungen. Dafür müssen wir die Machtverhältnisse in den Blick nehmen, in denen Grenzüberschreitungen entstehen. SBDG ist kein individuelles Fehlverhalten, sondern Ausdruck struktureller Ungleichheiten.
Was ich in meiner Arbeit immer wieder erlebe: In Workshops und Vorträgen zu diesem Thema sitzen überwiegend nichtmännliche Personen. Dabei ist SBDG kein „Frauenthema“. Es betrifft uns alle. Ich wünsche mir deshalb deutlich mehr Verantwortungsbereitschaft, insbesondere von denen, die in der Universität Macht, Ressourcen oder Gestaltungsspielräume haben. Sensibilisierung darf dabei kein freiwilliges Zusatzangebot sein, das man „bei Interesse“ wahrnimmt. Sie muss kontinuierlich in Studium, Lehre und Verwaltung verankert sein, als Bestandteil professionellen Handelns.
Und schließlich geht es darum, nicht nur mehr über das Thema zu sprechen, sondern auch besser zuzuhören. Betroffene müssen darauf vertrauen können, dass ihre Erfahrungen ernst genommen werden. Wir brauchen eine Kultur, in der sie nicht in die Defensive gedrängt oder in Frage gestellt werden. Die Autorin Rupi Kaur formuliert es eindrücklich: „I’ll be quiet when we can say sexual assault and they stop screaming liar.“
Hier geht es zum Programm zum Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.