30.01.2021
Was bedeuten 79° für den Eismassenverlust in Grönland?
Mit 79° wird nicht etwa eine Temperatur in Grönland angegeben, sondern eine geografische Bezeichnung: Gemeint ist der Nioghalvfjerdsbræ (dänisch für 79-Gletscher), der sich bei ca. 79° nördlicher Breite in Nordost-Grönland befindet. Dieser Gletscher gehört zusammen mit seinem südlichen Nachbarn Zachariae Isstrøm und dem mehr als 100 km weiter südlich liegenden Storstrømmen zu den drei großen Ausflußgletschern des North East Greenland Ice Stream, kurz NEGIS. Der Nioghalvfjerdsbræ bildet eine mehr als 75 km lange, schwimmende Gletscherzunge aus, die 22 bis 32 km breit ist. Der NEGIS selbst lässt sich über eine Distanz von mehr als 700 km vom Eisrand bis zur Eisscheide im Inneren des grönländischen Eisschilds verfolgen, so dass ihm eine herausragende Bedeutung beim Studium der Dynamik und Änderung des Eisschilds zukommt.
Genau mit dieser Region im Nordosten Grönlands beschäftigt sich ein am 28.01.2021 in der renommierten Fachzeitschrift Journal of Geophysical Research: Earth Surface erschienener wissenschaftlicher Artikel. Maria Kappelsberger, weitere Kolleg:innen der Arbeitsgruppe Geodätische Erdsystemforschung und S. A. Khan von der Dänischen Technischen Universität (DTU Space, Kopenhagen) haben dafür Satellitendaten und bodengebundene GNSS-Messungen analysiert.
Eine zentrale Frage, mit der sich Spezialist:innen weltweit beschäftigen, lautet: Wie ändert sich die Eismasse des grönländischen Eisschilds? Da der Eisschild mit 2500 km Nord-Süd-Ausdehnung und bis 1000 km Ost-West-Ausdehnung kontinentale Ausmaße aufweist, müssen für diese Untersuchung Satellitendaten benutzt werden. Bisherige Studien haben die Verfahren der Satellitengravimetrie (Messung der Anziehungswirkung der veränderlichen Massen) und der Satellitenaltimetrie (Messung der veränderlichen Eisoberflächenhöhe) bisher meist getrennt voneinander betrachtet. Mit der Studie konnte nun nachgewiesen werden, dass eine die Vorteile beider Verfahren zusammenführende kombinierte Auswertung zu einer verbesserten Schätzung der Eismassenbilanz Grönlands führt. Dabei wurden neben dem eigentlichen Eisschild auch die peripheren Gletscher und Eiskappen einbezogen. Wir erhalten für den Zeitraum 2010 – 2017 für Gesamtgrönland eine Eismassenänderungsrate von (233 ± 43) Gt/a. (233 Gigatonnen pro Jahr sind 233 Milliarden Tonnen pro Jahr oder 233 Billionen Kilogramm pro Jahre und entsprechen 233 Kubikkilometer Wasser pro Jahr). Von den drei großen Ausflußgletschern des NEGIS weist der Zachariae Isstrøm mit (3,7 ± 1,3) Gt/a den größten Anteil auf, während die Raten für Nioghalvfjerdsbræ und Storstrømmen jeweils weniger als 0,5% der Gesamtänderung betragen.
Aber wie können diese Zahlen verifiziert werden? Dazu machen wir uns zunutze, dass die feste Erde mitnichten als starrer Körper zu betrachten ist, sondern je nach Tiefe unterschiedlich ausgeprägte elastische bzw. viskoelastische Eigenschaften aufweist. Diese von Temperatur und Druck abhängigen rheologischen Eigenschaften führen dazu, dass sich die Erde unter dem Einfluss einer veränderlichen Massenauflast deformiert. Die vom zeitlichen Verlauf der Massenänderung abhängige Deformation führt zu Positionsänderungen, insbesondere zur Senkung oder Hebung der Erdkruste, die wir an fest vermarkten Punkten mit geodätischer GNSS-Technik messen können. Im zeitlichen Verlauf muss insbesondere zwischen heutigen Eismassenänderungen – also denjenigen, die mit Hilfe der genannten Satellitenverfahren bestimmt werden sollen – und vergangenen Eismassenänderungen, die bis ins letzte glaziale Maximum zurückreichen, unterschieden werden. Die vergangenen Eismassenänderungen sorgen für den glazial-isostatischen Ausgleich (GIA), also eine langfristige Reaktion der festen Erde. Dieser anhaltende Ausgleichsvorgang sorgt außerdem dafür, dass es im Erdinneren (in der sog. Asthenosphäre) zu einem Massenfluss kommt, dessen gravitativer Effekt insbesondere in den Messungen der Satellitengravimetrie enthalten ist und deshalb korrigiert werden muss.
Um die Senkung und Hebung der Erdkruste zu bestimmen haben wir im Zeitraum 2008 – 2017 fünf Messkampagnen in Nordost-Grönland realisiert. Dabei erfuhren wir großartige logistische Unterstützung durch das Alfred-Wegener-Institut Helmholtzzentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI Bremerhaven). Die wiederholt gemessenen GNSS-Punkte liegen in einem Gebiet mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von 350 km entlang der Küste und bis zu 150 km landeinwärts am Rand des Inlandeises. Wir haben für den genannten Zeitraum vertikale Deformationsraten von 4,5 mm/a und mehr erhalten. Unser „Hotspot“ ist ein Messpunkt an der Westküste von Lambert Land, an der Bifurkation von Nioghalvfjerdsbræ und Zachariae Isstrøm: Hier zeigt sich mit (8,9 ± 1,7) mm/a die größte Hebungsrate. Offensichtlich wirken sich hier die rezenten Massenänderungen am stärksten aus, insbesondere durch die unmittelbare Nähe zum Zachariae Isstrøm. Außerdem wurden Daten von permanent aufzeichnenden GNSS-Stationen des GNET-Projekts einbezogen, so dass die erhaltenen Ergebnisse gegenseitig validiert werden konnten. Dabei zeigte sich, dass die Hebungsraten an Punkten, die weiter entfernt vom zentralen Arbeitsgebiet liegen, geringer ausfallen (ca. 3 mm/a für YMER und ca. 4 mm/a für NORD).
Nun wird es möglich, die kombinierte Auswertung von Satellitengravimetrie und –altimetrie mit GIA-Modellen zu verknüpfen. Dabei werden neben verbesserten Massenänderungsraten ebenfalls Deformationsraten erhalten, die den summarischen Effekt von langzeitigem GIA und rezenter (elastischer) Deformation repräsentieren. Diese modellierten Deformationsraten haben wir mit den von uns mittels GNSS gemessenen Raten verglichen. Unsere Studie zeigt, dass die verwendeten GIA-Modelle im Untersuchungsgebiet große Differenzen aufweisen. Durch den Vergleich mit den in-situ Messungen gelang es, die Bandbreite der in Nordost-Grönland „gültigen“ GIA-Modelle einzugrenzen. Der GIA-Masseneffekt beträgt in Nordost-Grönland (in einem geeignet zugeschnitten Basin) fast 18% der bestimmten Eismassenänderung. Für Gesamt-Grönland beträgt dieser Effekt etwas mehr als 4%. Damit zeigt sich auch, dass der GIA-Effekt ein regional unterschiedliches Verhalten aufweist und nicht nur nicht vernachlässigt werden darf, sondern dass erst dessen genaue und zuverlässige Kenntnis eine verlässliche Schätzung der Eismassenänderung im regionalen Maßstab möglich macht.
Die Ergebnisse unserer GNSS-Messungen werden in dem JGR-Artikel erstmals veröffentlicht. Ebenfalls werden die Ergebnisse der verbesserten Schätzung der Eismassenänderungsrate veröffentlicht, und zwar in PANGAEA, einem einschlägigen Archivierungsportal für erdbezogene Daten. Unsere Studie liefert wichtige Erkenntnisse zur Wechselwirkung von Eismassenänderung und fester Erde in Nordost-Grönland. Die neuen Ergebnisse tragen zum interdisziplinären Projekt "Greenland Ice Sheet Ocean Interaction" (GROCE) bei, welches die Prozesse zwischen Ozean, Atmosphäre, Eisschild und peripheren Gletschern mit Fokus auf Nordost-Grönland untersucht.
Im Sommer 2021 sind die nächsten Feldarbeiten geplant – u.a. um den Hotspot Zachariae Isstrøm aufzusuchen und erneute GNSS-Messungen an Lambert Land durchzuführen.
Weiterführende Links:
- Artikel: https://agupubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1029/2020JF005860
- PANGAEA: https://doi.pangaea.de/10.1594/PANGAEA.922884
- Datenportal zur satellitengravimetrisch bestimmten Massenbilanz Grönlands: https://data1.geo.tu-dresden.de/gis_gmb/
- Datenportal zur Fließgeschwindigkeit grönländischer Ausflußgletscher: https://data1.geo.tu-dresden.de/flow_velocity/
- BMBF-Projekt GROCE: https://groce.de/
- GROCE-Teilprojekt 6: https://tu-dresden.de/bu/umwelt/geo/ipg/gef/forschung/groce
Die Forschungsarbeiten im Rahmen des GROCE-Projekts werden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert (FKz. 03F0778G und 03F0855C).
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NameDr.-Ing. Mirko Scheinert
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