30.11.2021
Gespenster, Scheintod, Geheimbünde, Träume und Wahnsinn
Prof. Lars Koch und sein Team erforschen die Facetten der Angst im »Schauerroman« des 18. Jahrhunderts
Beate Diederichs
Jede geschichtliche und kulturelle Epoche hat ihre eigenen literarischen Ausdrucksformen und bringt oft auch typische Genres hervor, die es vorher so nicht gab und die danach wieder verschwanden oder sich änderten. Dies trifft umso mehr auf Zeiten zu, in denen sich große Umbrüche ereigneten, wie die sogenannte »Sattelzeit«. »Sattel« ist hier im Sinne eines Bergsattels gemeint und soll illustrieren, dass in den Jahren zwischen der Spätzeit der Aufklärung und der Französischen Revolution, also etwa zwischen 1750 und 1850, ein allmählicher, aber tiefgreifender Wandel stattfand. So löste damals die bürgerliche die ständische Gesellschaft ab, hielt die Industrialisierung Einzug, verloren überlieferte Denkgebäude, allen voran das Christentum, massiv an Glaubwürdigkeit. Die gesellschaftlichen Umwälzungen waren enorm, sie betrafen alle Formen von Autorität, das politische System, gewohnte Gesellschafts- und Körperbilder. »Damals büßten viele Traditionen und bisher gültige Vorstellungen an Überzeugungskraft ein und es tat sich ein neuer Möglichkeitsraum auf, der zugleich aber auch immense Orientierungsleistungen herausforderte«, so beschreibt Prof. Lars Koch die Zeit, in der die Werke entstanden, die er in seinem Projekt untersucht. Sie gehören alle zur Gattung »Schauerroman«, die damals sehr populär war und in der Themen wie Gespenster, Scheintod, Geheimbünde, Träume und Wahnsinn als Gegenstände und Konfliktfelder vorkommen, anhand derer die damalige Gesellschaft über die eigenen Deutungsunsicherheiten ins Nachdenken kommen konnte. Das Projekt heißt »Schauergeschichten. Literarische Emotionspraktiken der Angst um 1800«. Es wird seit Oktober für drei Jahre von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Zum DFG-Projektteam gehören neben dem Inhaber der Professur für Medienwissenschaft und neuere deutsche Literatur am TUD-Institut für Germanistik Lars Koch der Mitarbeiter Jakob Baur, dessen Promotionsstelle mit Projektmitteln finanziert wird, und die wissenschaftliche Hilfskraft Ilona Kunkel.
Lars Koch und sein Team haben für ihre Arbeit einen Textkorpus zusammengestellt, den sie momentan sichten und erweitern und von dem sie sich wichtige Erkenntnisse über spezifische Gefühlslagen des großen politischen und kulturellen Umbruchs um 1800 erhoffen. »Dabei haben wir uns bewusst für den Schauerroman entschieden, der manchmal nicht unbedingt höchsten ästhetischen Ansprüchen genügt, wohl aber aufgrund seiner Popularität und Resonanz ein wichtiger Faktor der Herausbildung der zeitspezifischen Gefühlskultur war«, sagt der Wissenschaftler. Um ein möglichst umfassendes Bild der zeitgenössischen literarischen Kommunikation zum Thema Angst zu erhalten, konnten sie sich nicht auf die einschlägigen Autoren beschränken, die Lars Koch als »literaturwissenschaftlich kanonisiert« bezeichnet, wie Friedrich Schiller, E.T.A. Hoffmann oder Ludwig Tieck. Auch die zweite oder dritte Reihe kommt zu Wort, wie Heinrich Zschokke, ein deutsch-schweizerischer Schriftsteller und Pädagoge, Josef Alois Gleich, ein österreichischer Theaterdichter und Schriftsteller, und Sophie Albrecht, die zu ihrer Zeit eine gefragte Schauspielerin war und ebenfalls literarische Werke verfasste. »Das Kriterium für die Auswahl ist nicht die heutige Bekanntheit der Verfasser, sondern die Relevanz, die ihnen als Stimmen der zeitgenössischen Angstimagination zukommt«, kommentiert Lars Koch. Das Team widmet sich zwar der deutschsprachigen Literatur, zieht jedoch auch immer wieder die englischsprachige »gothic novel « zum Vergleich heran, unter deren Autorinnen und Autoren wahrscheinlich Mary Shelley und Edgar Allan Poe am bekanntesten sein dürften. Mit den Fragen, die Koch und sein Team stellen, möchten sie herausfinden, wie Angst »kulturell codiert ist«, also sich in der Literatur zeigt. Der Professor nennt Beispiele: Welche Verunsicherungslagen und Diskurse werden thematisiert, indem man Angst hervorruft und darstellt?
Welche Deutungen von Subjekt, Welt und Gesellschaft sind hierin involviert? Welche Ausdrucks-, aber auch Kanalisierungsmöglichkeiten eines prekären Weltverhältnisses werden durchgespielt? Lars Koch interessiert sich, seit er zu forschen begann, dafür, wie Gesellschaften mit »kollektiven Denormalisierungsereignissen «, also Umbrüchen, Krisen oder Katastrophen, umgehen. Hier fragt er beispielsweise danach, welche erzählerischen Ressourcen die Menschen nutzen, um mit neuen Situationen fertig zu werden, die Angst machen, weil sie einerseits mit mehr Möglichkeiten, andererseits mit gesteigerten Erfahrungen von neuen Widersprüchlichkeiten einhergehen. »Angst ist neben Hass und Scham eine der wichtigsten negativen Emotionen, die ein immenses Politisierungspotenzial birgt. Darum interessiere ich mich für ihre kulturelle Funktion.« Aus dieser Faszination für das Gefühl heraus arbeitet Lars Koch seit einiger Zeit an einer breiter angelegten Literaturgeschichte der Angst, wo die Perspektive sich vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart weitet. Hierzu sollen die Ergebnisse des Projekts natürlich einen wertvollen Beitrag leisten. Darüber hinaus umreißt der Professor das Ziel des Vorhabens folgendermaßen: »Es will zum einen methodologische Beiträge zur literatur-, kultur- und medienwissenschaftlichen Emotionsforschung liefern. Dazu werde ich konzeptionell orientierte Aufsätze erarbeiten. Darüber hinaus geht es uns aber auch um einen literaturgeschichtlichen Beitrag zur weiteren Kartierung der deutschsprachigen Literatur um 1800, die mit Blick auf den Schauerroman noch deutlich vorangetrieben werden kann. Hierzu wird Jakob Baur seine Dissertation verfassen.« Auch was Veranstaltungen angeht, gibt es schon konkrete Pläne: Im nächsten März wird ein interdisziplinärer Workshop stattfinden, bei dem Koch und sein Team gemeinsam mit nationalen und internationalen Expertinnen und Experten diskutieren, wie man historische Gefühle erforschen kann und welche Schwierigkeiten dabei auftreten. Beim Blick in die fernere Zukunft stellt Lars Koch zudem in Aussicht, dass man die Ergebnisse der internationalen Abschlusstagung im Jahr 2024 »an prominenter Stelle für die weitere Diskussion zugänglich machen wird«.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 19/2021 vom 30. November 2021 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.