Dec 20, 2016
"Geflügelte Worte" oder "Replikantia": Der Sprachwissenschaftler Pavel Donec
Von September bis November 2016 weilte der Sprachwissenschaftler und Germanist Prof. Dr. Pavel Donec von der Nationalen Vasil Karazin-Universität Charkow im Rahmen eines Humboldt-Stipendiats am Institut für Slavistik. Donec, der bereits mehrere innovative Beiträge zur Semantik und Semiotik, zur Interkulturellen Kommunikation und zur Kulturwissenschaftlichen Linguistik vorgelegt hat, befasste sich während seines Aufenthalts mit seinem aktuellen Forschungsprojekt zu den so genannten "Präzendenzphänomenen" bzw. "Replikantia" in der deutschen Sprachkultur. Wir sprachen mit ihm über seine Erfahrungen in Dresden, sein Forschungsprojekt und die gemachten Fortschritte und über deutsch-ukrainische Unterschiede in der universitären Lehre.
Sind Sie zum ersten Mal in Dresden?
Ich habe von 1977 bis 1981 in Ostberlin Germanistik studiert. Während dieses Aufenthaltes war ich mehrmals zu Exkursionen in Dresden. In Erinnerung ist mir aber nur die Gemäldegalerie, genauer das Antlitz der Sixtinischen Madonna geblieben. Ich habe mich etwas gewundert, dass ich gar keine Erinnerungen mehr an die Stadt hatte, aber wahrscheinlich hat es damals ganz anders ausgesehen. Außerdem waren wir im späten Herbst oder Winter da, sodass das Wetter keine großen Stadtbesichtigungen zuließ. In Dresden gibt es so viele Dinge, die es sich lohnt anzuschauen, deswegen habe ich die fast schon verstrichenen drei Monate dazu genutzt, mir intensiv die Stadt und die nähere Umgebung anzuschauen.
Was gefällt Ihnen besonders an der Stadt?
Dresden hinterlässt bei mir einen gespaltenen Eindruck. Es gibt sehr schöne Ecken, wie die Elbwiesen mit dem berühmten Canaletto-Blick, bzw. der Blick vom Landtag auf das Neustädter Elbufer. Was mich irritiert hat war, dass die Türme alle schwarz sind. Viele glauben, dass das durch die Verrußung entsteht aber mein Gastgeber, Professor Kuße hat mir erklärt, dass das die Eigenschaft des sächsischen Sandsteins ist. Weiterhin fiel mir auf, dass es sehr viele weite Flächen in der Stadt gibt, die sicher von der Zerstörung im Krieg her rühren oder dass auf diesen Flächen früher Plattenbauten standen, die man abgerissen hat. Sehr gefallen hat mir auch Schloss Pillnitz, der Weiße Hirsch, die Villenvororte. Sehr interessant fand ich auch das Dresdner Quartier Latin, die Neustadt. Ich habe auch nicht erwartet, dass bis heute die Treidlerwege an der Elbe erhalten sind. In der näheren Umgebung habe ich Meißen und die Festung Königstein besucht. Ich denke, dass die Stadt in der Zukunft noch schöner wird. Ich habe mich hier aber sehr wohl gefühlt und würde gerne wiederkommen.
Wie kam Ihre Verbindung zu Prof. Kuße zustande?
Nun, es gibt zwischen deutschen Slavisten und slavischen Germanisten eine große Überschneidungszone. Wir wissen viel über Deutschland, analog dazu wissen die deutschen Slavisten viel über Russland, die Ukraine, Belarus oder andere slavische Länder. Es gibt daher immer Gemeinsamkeiten in den Interessen, zudem fungieren die Germanisten oder Slavisten immer als Vermittler der jeweiligen Wissenschaften und können als Multiplikatoren ihr Wissen weitergeben. In der Sowjetunion und später in allen GUS-Staaten beschäftigte man sich intensiv mit Überschneidungen und gegenseitiger Beeinflussung der beiden Sprachen und Kulturen. Außerdem gibt es in der Russländischen Föderation einen sehr aktiv arbeitenden Germanistenverband, der aktiv durch den DAAD unterstützt wird. Jedes Jahr findet eine große Konferenz statt, zu der hunderte Linguisten und Literaturwissenschaftler zusammenkommen. Dazu werden auch immer deutsche Gäste eingeladen. Auf einer dieser Konferenzen lernte ich Prof. Kuße kennen, der einen meiner Vorträge besuchte. In diesem Vortrag sprach ich über Lingokulturologie. Bei der Humboldt-Stiftung ist es so, dass es einen Hauptaufenthalt gibt, der ein Jahr dauert, darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, andere Projekte in einem kürzeren Zeitraum zu bestreiten. Dazu kann man drei Monate einen Studienaufenthalt im Ausland beantragen. So wand ich mich an Herrn Kuße, arbeitete ein Projekt aus und wurde durch die Humboldt-Stiftung ausgewählt.
Gibt es Ihrerseits gemeinsame Projekte mit Prof. Kuße?
Ja, es gibt eine Art Pilotprojekt, das sich vorerst auf das deutsche Material bezieht aber es lässt sich sehr leicht für das russische Material transformieren. Die Thematik, die wir untersuchen, wurde bereits in der Sowjetunion untersucht und nannte sich dort „Präzedenzphänomene“, wenngleich ich den Ausdruck „Replikantia“ bevorzuge. Am besten ließen sich diese Ausdrücke mit dem Terminus „geflügelte Worte“ beschreiben. Diese geflügelten Worte stammen aber nicht nur aus der lateinischen oder griechischen Philosophie oder der klassischen Literatur, sondern auch aus der Werbung oder aus berühmten Filmen. Diese Einheiten fungieren als eine Art sprachlicher Parallelkorpus zur Alltagssprache. Bis jetzt ist es sehr ungenügend untersucht worden und auch lexikographisch nicht erfasst. Es gibt aber z.B. im Zitaten-Duden festgeschriebene Werbungsformeln, z.B. „Man gönnt sich ja sonst nichts“. Aber solche Einheiten gehen in die Tausende. So etwas verlang natürlich eine sehr große Arbeit. Wir unterscheiden dabei in Einheiten, die sich in der Kindheit angeeignet werden, das sind vor allem Sätze aus Grimms Märchen oder St. Martins-Lieder und solchen, die man sich später aneignet, da vor allem aus der Werbung oder aus (Kult)filmen. Es gibt beispielsweise die Filme über die Olsenbande, in denen immer wieder das Zitat „Mächtig gewaltig“ verwendet wird. Mich interessiert, in welchen Situationen man welche Zitate anwendet, deswegen bin ich gerade dabei, einen Fragebogen auszuarbeiten. Abhängig von der Auswertung des Fragebogens wird dann die Perspektive des Projekts sein. Ich werde meine Ergebnisse in mehreren Artikeln veröffentlichen und für die Erschaffung einer Arbeitsgruppe plädieren, die sich mit der Ausarbeitung eines Wörterbuchs solcher Phänomene befassen wird. Man muss im Zuge des so genannten „cultural turn“ in der Linguistik wegkommen vom Begriff „Sprache als reines System“, sondern hin zu „Sprache in der Verwendung“ bzw. „Sprache als etwas kulturell Durchzogenes“.
Sie haben vor zwei Jahren eine Monographie zum Thema „Grenze“ herausgegeben. Nehmen die Untersuchungen zu den „Replikantia“ in irgendeiner Weise Anschluss an das Grenzphänomen?
Nein, das ist etwas völlig anderes. Die Entstehung dieser Monographie besitzt auch einen Bezug zu einer Konferenz. Diese fand in Breslau statt und wurde vom Humboldt-Klub in Polen organisiert. Die Humboldt-Stiftung besitzt in jedem Land so einen Klub, wobei einer der aktivsten in Polen ist. Es ist unter den Humboldtianern ein schöner Brauch, dass jeder Klub ein Seminar oder eine Konferenz organisiert, zu der auch Teilnehmer aus benachbarten Staaten eingeladen werden. So kam ich etwa um das Jahr 2000 in Kontaktmit dem deutschen Historiker Prof. Höcker. Er lud mich seinerseits zu einer Konferenz zum Thema „Grenze multidisziplinär“ ein und ich machte mir Gedanken, was ich dazu beitragen könnte. Ich fand Gefallen an diesem Thema und entschloss mich, es weiter zu bearbeiten. Zuerst wollte ich eine Arbeit unter dem Gesichtspunkte des interkulturellen Diskurses an der Grenze erstellen, dann aber studierte ich bei einem Gastaufenthalt in Düsseldorf die vorhandene Literatur zur Grenze. Dabei stellte ich fest, dass das Thema sehr multidisziplinär ist, also viele Wissenschaften betrifft. Diesen wichtigen Begriff der Grenze hatte bis dato noch niemand genau bestimmt. Mit Mitteln der kognitiven Linguistik habe ich begonnen, ihn näher zu bestimmen. Das war die so genannte Konzeptologie, die hier wenig bekannt ist, die aber eine der sich am intensivsten entwickelnden Diskurse in der UdSSR bzw. Russland ist. Dass ein großes Interesse an diesen Ausführungen besteht, bezeugen die Bestände in Bibliotheken, in denen der Band vielfach vertreten ist. Aber generell ist die Entstehung dieses Werkes stellvertretend dafür, wie wichtig persönliche Kontakte unter Wissenschaftlern sind. Darauf ist auch das Programm der Humboldt-Stiftung ausgerichtet.
Sie haben bereits bzw. werden noch Lehrveranstaltungen in Dresden durchgeführt. Sehen Sie wesentliche Unterschiede zwischen deutschen und ukrainischen Studierenden?
Da ich nicht sehr lange in Dresden unterrichtet habe, kann ich keine allgemein gültige Aussage dazu machen. Aus der eigenen Erfahrung an anderen Hochschulen weiß ich, dass die Unterschiede groß sind. Ich habe einen Kollegen – er ist Ungar – und lehrt an der Universität Erfurt. Er bat mich, im Rahmen eines Seminars, die Germanistik in der Sowjetunion und der heutigen Ukraine zu erklären. Dabei kam die Frage auf, ob sich die Unterrichtsweisen zwischen Deutschland und der Sowjetunion, der Ukraine und Russland unterscheiden und wenn ja, worin. Es hat sich gezeigt, dass die Unterschiede recht groß sind. Traditionell ist es in den Nachfolgestaaten der UdSSR so, dass an den Universitäten das Sprachlernzentrum und der theoretische Lehrstuhl, also für Landeskunde, Kultur und Sprachwissenschaft, vereinigt sind, im Gegensatz zu Deutschland, wo eine Trennung zwischen diesen Komponenten herrscht. Ich unterrichte beispielsweise Deutsch als Fremdsprache und betreue zugleich die Abschlussarbeiten der Studierenden, die sich mit anderen Themen der Germanistik befassen. Der Sprachunterricht in Russland oder der Ukraine ist auf „Drill“ ausgelegt. Das hat den Vorteil, dass die dortigen Studierenden bessere Fremdsprachenkompetenzen haben als das bei den deutschen Studierenden der Fall ist. Dagegen wird bei uns der Fokus weniger auf das Theoretische gelegt, sodass dort die deutschen Absolventen bessere Kenntnisse besitzen. Die Studierenden bei uns haben wenige Lehrbücher, arbeiten sehr selten in der Bibliothek und haben deswegen kaum Übung in Recherche für Hausarbeiten und Abschlussarbeiten. Diese Schwäche wurde noch offensichtlicher, als das Internet eine hohe Priorität begann zu erlangen und man fast alles daraus beziehen kann. Durch schwache Urheberrechtsbeschränkungen in der Ukraine oder Russland ist es einfach, alles Mögliche so wie Lehrbücher oder wissenschaftliche Literatur hochzuladen und den Studierenden zur Verfügung zu stellen. Außerdem ist es üblich geworden, dass Dissertationen vor der Verteidigung ins Internet gestellt werden. Viele unserer Studierenden bemühen sich, nach dem Studium nach Deutschland zum Masterstudium zu kommen und sind zum Teil ein wenig desillusioniert, weil sie die Kompetenzen nicht haben, eine deutsche Masterarbeit zu schreiben. Sie verstehen nicht, warum sie nicht so eng betreut werden und sind auf sich allein gestellt, womit viele ihre Schwierigkeiten haben. Zudem haben sie keine Übung im wissenschaftlichen Schreiben. Darin sehe ich Probleme in der unterschiedlichen wissenschaftlichen Praxis.
Wie ist im Moment die Stimmung in Charkow, wenn man die schwierige politische Situation bedenkt?
Die politische Situation ist ziemlich angespannt. Man legt den Fokus stärker auf die ukrainische Sprache und Kultur, als es vielleicht vor dem Konflikt in der Ostukraine der Fall war. Sprachlicherseits bezieht sich das vor allem auf Versammlungen, Sitzungen oder Gutachten, die zu Arbeiten angefertigt werden müssen. Ich arbeite seit 1981 in Charkow und kann dadurch auf einen langen Zeitraum der Entwicklung zurückblicken. Das Russischen ist zwar nicht verboten aber die meisten schreiben nun auf Ukrainisch, gerade was Masterarbeiten oder Dissertationen betrifft. Diese Ukrainisierung betrifft zu großen Teilen den akademischen Betrieb, im Alltag ist Charkow eine eher russisch geprägte Stadt, genau wie der gesamte Nordosten der Ukraine, also etwa von Charkow bis nach Odessa.
Sie sagten ja anfänglich, dass Sie gern in Dresden weiterarbeiten würden. Werden Sie zurückkommen?
Die Humboldt-Stiftung hat angedeutet, dass dieser Aufenthalt hier wohl der letzte sein soll. Es gibt einen Förderzeitraum von zwei Jahren, den ich bereits erreicht habe. Ungeachtet dessen würde ich natürlich gern zurückkommen. Vielleicht gibt es ja andere Möglichkeiten, wieder nach Dresden zurückzukommen und die Forschungen weiter zu betreiben. Eine andere Möglichkeit wäre es, das Feodor-Lynen-Programm der Humboldt-Stiftung zu nutzen, in dessen Rahmen ich jemanden einladen kann, einen Gastaufenthalt bei uns zu bestreiten.
Das Interview führte Winfried Wagner