Mar 24, 2017
Komplizen als Feinde – Feinde als Komplizen
Wohl kaum ein gesellschaftliches Phänomen in den letzten zehn Jahren hat so viel Zeitungstexte und Sendeminuten provoziert, hat so viele polarisierende Diskussionen hervorgerufen, hat so viele Menschen – pro und kontra – auf die Straße gebracht wie Pegida. Seit Oktober 2014 sind die Anhänger der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« mit ihren »Spaziergänge « genannten Demonstrationen, Kundgebungen und Internet-Veröffentlichungen aktiv. Stoff und Notwendigkeit also genug für soziologische und politikwissenschaftliche Forschungen.
Das Buch »Pegida – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung?« (herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz und Tino Schlinzig) enthält einen Überblick über verschiedene Analysen. Dabei bezieht sich der Inhalt des Buches auf das achtstündige »Public Sociology Forum«, das die Deutsche Gesellschaft für Soziologie am 30. November 2015 in Dresden veranstaltet hatte und das vor allem von Wissenschaftlern der TU Dresden konzipiert, organisiert und inhaltlich getragen wurde. Forum wie Buch gingenbzw. gehen den Fragen nach den Ursachen des Phänomens Pegida nach, untersuchen, wie die »Spaziergänge«, Demonstrationen und Kundgebungen abgelaufen sind und stellen verschiedene auch kontroverse Interpretationen des Pegida-Phänomens vor.
Mit den Beiträgen von insgesamt 29 Autoren deckt das Werk einen sehr breiten inhaltlichen Bereich ab. Ein Schwerpunkt des ersten Teils ist die Frage »Warum Dresden?« Dabei müsse man, so Autor Karl-Siegbert Rehberg, unterscheiden zwischen Dresden als Bühne und Dresden als Quelle.
Der Hauptteil fächert ein breites Themenspektrum auf. Dabei geht es unter anderem darum, inwieweit Dresden ein Gespür für künftig Kommendes habe und damit etwa ein »Seismograf für vergangene und kommende Erschütterungen « sei. Autor Joachim Fischer stellt dies mit seinen Darstellungen von vier exemplarischen sogenannten Stadtdebatten zur Diskussion.
Mit neun Thesen unterfüttert Werner J. Patzelt seine Auffassung, dass »Pegida und die AfD nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen ein- und desselben Sachverhaltes sind, nämlich die deutsche Form des quer über Europa anwachsenden Rechtspopulismus.« Und: »Deshalb mussten Bekämpfungsstrategien scheitern, die Pegida als rein lokales Phänomen behandeln.« Dass solche Aussagen gerade jenen gegen den Strich gehen, die von anderen deutschen Großstädten aus gern von oben herab Dresden-Kritik betreiben (eine Kritik, die manchmal sogar als »Dresden-Bashing« bezeichnet wird), ist kein Wunder.
Welche Rolle Facebook für die Popularisierung der Pegida-Ideen spielte (Stefan Scharf und Clemens Pleul), wird ebenso untersucht wie die Frage, inwieweit das Pegida-Phänomen eine Provinzposse oder ein Vorbote eines neudeutschen Rechtspopulismus ist (Hans Vorländer). Dabei wird unter anderem verdeutlicht, dass sich das »bei den Demonstranten festgestellte Ausmaß an Islam- und Fremdenfeindlichkeit nicht oder nur geringfügig von der durchschnittlichen Verbreitung dieser Einstellungsmuster in der Gesamtbevölkerung« unterscheide. Vorländer berührt unter der Überschrift »Eruption von Ost-West-Verwerfungen« ein spannendes Thema. Als ehemaliger DDR-Bürger erinnert man sich, dass damals viele Menschen der Auffassung waren, dass moralisch gut derjenige sei, der sich – zumindest gedanklich-privat – gegen die Oberen positioniere, und derjenige wurde scheel angeschaut, der nach oben strebte. Eine Verlängerung dieser Einstellung bis in die Zeiten nach der Wende war leicht, weil auch die nun neuen Oberen häufig als inkompetent und egozentrisch wahrgenommen wurden. Vorländer spricht von einer »ressentimentgeladenen Elitenfeindlichkeit«.
Das Buch enthält auch ein Kapitel zur mProblematik der Zählung von Demonstrationsteilnehmern (Roger Berger, Stephan Poppe und Matthias Schuh). Auffällig dabei ist die Erkenntnis, dass die Zentren der Pegida-Bewegung geografisch kongruent sind mit denen der frühen gesellschaftlichen Bewegungen, die 1989/1990 zur Wende führten.
Karl-Heinz Reuband widmete sich der sozialen Zusammensetzung und dem politischen Selbstverständnis der Pegida-Anhänger. Dabei fällt auf, dass die Frage nach religiöser und kirchlicher Bindung der Pegida-Anhänger offenbar gar nicht gestellt wurde. Sind etwa die allermeisten Möchtegern-Abendland-Retter Atheisten oder »bestenfalls« passive Kirchenmitglieder, in deren praktiziertem Alltagsleben Christlichsein keine Rolle spielt?
Dem Verhältnis von Pegida und den Medien wendet sich Lutz M. Hagen zu. »Ohne die Massenmedien zu berücksichtigen, kann man das Phänomen Pegida weder angemessen erklären noch verstehen.« Qualitätsmängel im Journalismus, die Medien als Verbreitungskanäle von Pegida-Auffassungen und der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit sind hier Schwerpunkte. Eine der vorgestellten Thesen lautet: »Traditionelle Medien repräsentieren die Gesellschaft höchst unausgewogen.«
Tino Heim wendet sich dem Verhältnis von Pegida, Politik und Massenmedien als Symptom multipler Krisen zu. Dabei spricht er von »entfremdeter epistemologischer Komplizenschaft bei gleichzeitigen wechselseitigen Feindsetzungen«. Vereinfacht dargestellt: Pegida ist Komplize der Politik, da die Pegidisten Aussagen der Politik aufgreifen und lautstark von der Politik eine praktische Umsetzung einfordern. Gleichzeitig ist die Politik in akzentuierter Weise Feindbild Pegidas. Pegida ist Komplize der Medien, denn die versimpelten und verkürzenden Welterklärungsmuster mit hohem »Brandsatz-Wert« von Pegida kommen der Tendenz zu »Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten« und dem Trend zu Verkürzung, Vereinfachung und Vereinseitigung bei einigen Medien entgegen. Und die Medien sind Komplizen der Pegida-Bewegung, denn sie verschaffen dieser hohe Aufmerksamkeitswerte. Und dennoch sind die Medien – Stichwort Lügenpresse – auch Feindbild Nummer Eins.
Schade, dass das Buch keinen ideologiegeschichtlichen Aufsatz über das lang währende Wirken von Äußerungen renommierter Politiker als Nährboden für das Entstehen von Pegida-Ideologemen enthält. Edmund Stoiber sprach Klaus J. Bade zufolge schon im Oktober 1992 pauschal von einem »hunderttausendfachen Asylmißbrauch«, Polemiken wie »Das Boot ist voll« sowie Begriffe wie »Scheinasylanten« und »Asylbetrüger« für Menschen, die sich gerade anschickten, einen Antrag zu stellen, wurden von manchen prominenten Parteipolitikern schon sehr lange vor Pegida öffentlich gebraucht. Sollte das ohne Wirkung geblieben sein?
Angesichts der Vielzahl von Beiträgen im Buch kann hier nicht auf jeden einzelnen eingegangen werden. Die Gesamtschau dieser – durchaus auch kontroversen – Beiträge zeugt jedoch von der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Themas, die Lektüre des sehr anregenden Buches sei jedem empfohlen, der beruflich oder im gesellschaftlichen Engagement mit dem Pegida-Phänomen zu tun hat.
Karl-Siegbert Rehberg, Franziska Kunz, Tino Schlinzig (Hrsg.): »Pegida – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und ›Wende‹-Enttäuschung?«, transcript Verlag Bielefeld 2016, 384 Seiten, 29,99 Euro
Autor: Mathias Bäumel
Dresdner Universitätsjournals, 28. Jahrgang, Ausgabe 5|2017, Seite 4