Feb 13, 2019
Staat hatte auf Repertoire in den Tanzsälen wenig Einfluss
TUD-Absolvent schrieb ein wissenschaftliches Buch zur DDR-Tanzmusik zwischen 1945 und 1961
Mathias Bäumel
Schon das Wort »Tanzmusik« erzeugt Fragezeichen, denn dieser Begriff ist unter jungen Leuten kaum noch geläufig ... Was wäre »Tanzmusik« ins Heute übersetzt? Und dann der Zeitraum: Von 1945 bis 1961 waren die Großeltern jetziger Studenten gerademal blutjunge Familiengründer, und der Alltag roch immer noch nach Krieg, war geprägt von dessen Folgen.
Während sich im Westen die Nachkriegswirtschaft aufrappelte und der durch den Marshall-Plan erleichterte Wiederaufbau Westeuropas – in Deutschland verknüpft mit dem Begriff des Wirtschaftswunders – seinen Lauf nahm und für Prosperität, Wohlstand und damit auch für wachsende Vergnügungsindustrie und Unterhaltungskultur sorgte, litt der Osten über Jahre an den Demontagen und Reparationen in Richtung Sowjetunion, von der auch strenge ideologische und politische Reglementierungen des Alltags in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ, bis 1949) bzw. DDR ausgingen.
Für die Entwicklung der Tanz- und Unterhaltungsmusik gab es also in beiden Teilen Deutschlands ganz verschiedene Bedingungen, die im Alltag zu völlig unterschiedlichen Tanz- und Unterhaltungsmusik- Kulturen führten. Der Musikwissenschafts-Absolvent der TU Dresden Simon Bretschneider hat nun im Rahmen seiner Doktorarbeit die Verhältnisse zwischen 1945 und 1961 im Osten Deutschlands am Beispiel Dresdens untersucht.
Heutige Leser seien darauf hingewiesen, dass damals das Tanzengehen eine sehr beliebte Freizeitbeschäftigung war, der man in der Nachkriegs- und Wiederaufbauzeit auch in der Region in und um Dresden in einer Vielzahl von Tanzgaststätten, Tanzbars und Kultur- bzw. Klubhäusern (die teils zu Betrieben gehörten) nachgehen konnte. Überall spielten Kapellen live und bestimmten so die Szenerie. (Erst viel später durch den drastischen Rückgang der Zahl von Gaststätten und Klubhäusern sank auch die Bedeutung der Live-Musik.) Zunächst also hatten (Schellack- und Vinyl)-Schallplatten sowie Hörfunk eine viel kleinere Bedeutung für den Tanzmusikalltag als die zahllosen Live- Tanzabende. Auch das Fernsehen im Osten spielte im Untersuchungszeitraum für die Verbreitung von Tanzmusik zunächst kaum eine Rolle; im Juni 1950 erfolgte der erste Spatenstich für das Fernsehzentrum in Ostberlin, Ende 1952 startete das »öffentliche Versuchsprogramm« mit zwei Stunden Sendezeit täglich ab 20 Uhr. Empfangsbereit waren in der DDR etwa 60 Geräte, allesamt in Berlin. Am 2. Januar 1956 endete das Versuchsprogramm des Fernsehzentrums Berlin und tags darauf begann der Deutsche Fernsehfunk (DFF) sein Programm. Ende 1958 waren über 300 000 Fernsehgeräte in der DDR angemeldet.
Zur Forschungsarbeit selbst: Simon Bretschneider geht für seine Untersuchungen davon aus, dass die Übernahme afroamerikanischer Charakteristika in die Interpretation, Instrumentation und Kompositionen europäischer Tanz- und Unterhaltungsmusik ab den 1930er-Jahren in Deutschland die Regel geworden war – ein Trend, der von den USA gespeist war. Das führt ihn zur Frage, ob und inwieweit diese »Internationalisierung« der Tanzmusik auch im Osten Deutschlands nach 1945 weiterexistierte. Dabei rief Bretschneider in Erinnerung, dass nach dem Zweiten Weltkrieg der Westen im Osten als »Klassenfeind« galt. Er stellte – auch angesichts der deutlich stärkeren Wirtschaftsmacht im Westen und der politisch-ideologischen Zwänge im Osten – die Fragen: »Gelang es der staatlichen Kulturpolitik im Osten, das sozialistische Musikfeld (analog zu Bourdieus kulturellem Feld) in ihrem Sinne zu dominieren? Wurden also in der sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR eine andere, ›nationalere‹ und sozialistischere Tanzmusik produziert und rezipiert als in Westdeutschland?« Um diese Frage beantworten zu können, reicht es Bretschneider zufolge nicht aus, »sich einfach Repertoires und Musikproduktionen ost- wie westdeutscher Kapellen anzusehen und miteinander zu vergleichen. Bretschneider teilt die Ansicht, dass »Musik vor allem ein soziales Konstrukt ist«. Deswegen interessiert sich der Autor für die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die die »Existenz von Phänomenen wie ›sozialistischer‹ und ›nationaler‹ Tanzmusik, ›Swing‹ oder ›Jazz‹ erst ermöglichen.«
In einem großen, ausführlich und detailliert untersuchten Kapitel beschreibt der Autor das Handeln, die Reaktionen und kulturpolitischen Ideen sowie Leitlinien der staatlichen und kommunalen Institutionen, das heißt anfangs der Sowjetischen Militäradministration, der SED, des Rates der Stadt Dresden, des – anfangs – Sächsischen Ministeriums für Volksbildung und des Rates des Bezirkes Dresden. Dazu auch die Strategien des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) in Bezug auf Tanzmusik, schließlich auch überregionale Faktoren wie der Staatliche Rundfunk und auch Westsender sowie der überregionalen Musikwirtschaft. Akribische Quellenarbeit zeichnet dieses Kapitel aus, mit dem es Bretschneider gelingt, die Rahmenbedingungen der Tanzmusikentwicklung in Dresden zu beschreiben. Das ist gerade für jüngere Leser eine große Hilfe, die nicht aus eigenem Erleben Vorstellungen über die damaligen Verhältnisse entwickeln können.
In einem zweiten ausführlichen und ebenso akribisch untersuchten Kapitel beschreibt Bretschneider – teils auch anhand von Beispielen von Kapellen und Musikern wie Will Bellmann, Heinz Kunert, die Dresdner Tanzsinfoniker oder Theo Schumann – die Strategien der Ensembles sowie der Fans. Dabei geht es um Fragen der »Auftrittsgenehmigung« ebenso wie um Chancen, im Hörfunk gesendet (und vorher aufgenommen) zu werden. Gezeigt wird aber auch am Beispiel von Will Bellmann, wie Musiker, die ihre Orientierung an der herkömmlichen Salonorchester-Musik der Vorkriegszeit nicht aufgeben wollten oder konnten, mit den neuen, aus den USA kommenden Trends in Kollision kamen und sich als Musiker existenziell gefährdet sahen. Gleichermaßen gibt es jedoch Beispiele, wie Ensembles durch ihre Orientierung an US-amerikanischen Trends kulturpolitische Schwierigkeiten bekamen, da man ihnen ein Aufputschen der Jugend gegen die ostdeutsche bzw. DDR-Staatlichkeit unterstellte.
Insgesamt ist dieser zweite, mit vielen Quellen – zum Beispiel mit Erinnerungen und Interviews – angereicherte Teil eine Fundgrube für heutige Leser, sich detailliert mit damaligen Bands, Musikern, Auftritten und Vorkommnissen beschäftigen wollen.
Die Zusammenfassung enthält einen Gedanken, der hervorgehoben werden sollte: »Die in den Aktennachlässen der lokalen staatlichen Institutionen dokumentierten kulturpolitischen Strategien gleichen ... dem Don Quichott’schen Kampf gegen Windmühlen. Sie konnten zwar Kapellen-Verbote durchsetzen und andere Ensembles fördern, auf das Repertoire in den Tanzsälen und ›Jazz‹-Klubs jedoch hatte der Staat, selbst nach der Einführung der ›60/40‹-Verordnung, nur wenig Einfluss.«
Simon Bretschneider
»Tanzmusik in der DDR. Dresdner Musiker zwischen Kulturpolitik und internationalem Musikmarkt, 1945–1961«
Transcript Verlag Bielefeld 2018, 322 Seiten, 26,99 Euro
Simon Bretschneider hat von 1998 bis 2002 an der Dresdner Musikhochschule Orchestermusik und Fagott studiert, danach von 2003 bis 2011 Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der TU Dresden. Dort schloss er mit dem »Magister Artium« bei Hans Günter Ottenberg und Wolfgang Mende ab. Seine Abschlussarbeit über die Kulturpolitik der Dresdner Behörden in SBZ und DDR hat Bretschneider dann an der Humboldt-Universität zu Berlin 2015 bis 2018 zur Dissertation weiterentwickelt; Doktorväter waren Peter Wicke und Michael Rauhut.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 01/2019 vom 15. Januar 2019 erschienen. Die komplette Ausgabe ist hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei doreen.liesch@tu-dresden.de bestellt werden. Mehr Informationen unter universitaetsjournal.de.