Nov 10, 2015
Was macht die Lehrerbildung, wenn sie Lehrerbildung macht?
Prof. Dr. Matthias Proske ist seit 2009 Professor für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik der Sekundarschule am Institut für Allgemeine Didaktik und Schulforschung der Universität zu Köln. Sein Forschungs- und Lehraufenthalt an der TU Dresden steht im Zusammenhang mit dem Kooperationsprojekt „Die soziale Praxis der Lehrerbildung“. Prof. Proske untersucht in dem seit 2012 laufenden Projekt "Videogestützte Professionalisierung im (neuen) Lehramtsstudium", welche Bedeutung die Nutzung von Unterrichtsvideographien für die Analyse- und Reflexionskompetenz von Lehramtsstudierenden hat. An der TU Dresden ist er eingebunden in das interdisziplinäre Kooperationsprojekt "Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Reflexion und Gestaltung naturwissenschaftlichen Unterrichts der Fakultät für Erziehungswissenschaften" von Prof. Bennewitz und Prof. Niethammer.
Ist dieser Aufenthalt das erste Mal, dass Sie in Dresden sind?
Nein. Ich hatte bereits Gelegenheit, an zwei Tagungen hier in der Stadt teilzunehmen. Das war zum einen 2008 die Tagung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) und zum anderen 2012 die Tagung der Kommission Professionsforschung und Lehrerbildung der DGfE. Deswegen sind mir sowohl die Stadt als auch die Universität und das Institut für Erziehungswissenschaften durchaus ein wenig vertraut.
Sie arbeiten ja hier eng mit Frau Prof. Bennewitz zusammen. Wie ist Ihr Kontakt zustande gekommen?
Wir sind im Moment am Ausloten eines gemeinsamen Forschungszusammenhanges, den wir unter den Titel „Die soziale Praxis der Lehrerbildung“ gestellt haben. Dabei wollen wir gar nicht so sehr wissen, was Lehramtsstudierende wissen, sondern wir wollen dabei noch einen Schritt weiter zurückgehen und fragen, was wir eigentlich tun, wenn wir Lehrerbildung ausführen, indem wir zum Beispiel ein Seminar anbieten, eine Praxisphase begleiten, den Studierenden den Auftrag geben, ein Studienprojekt in der Praxisphase durchzuführen oder eine Hausarbeit zu schreiben. Wir wollen uns also ganz elementar anschauen, was die Studierenden machen und was wir mit den Studierenden machen und wir wollen über diese Analysen herausfinden, wie finden eigentlich Wissensaushandlungsprozesse über Schule und Unterricht in der Lehrerbildung an der Universität statt.
Ich bin seit längerer Zeit an einem Projekt in Köln beteiligt, in dem wir die Bedeutung untersucht haben, die es hat, wenn man in Hochschulseminaren mit Unterrichtsvideographien arbeitet. Damit wollen wir die schulische Wirklichkeit qua Daten in das Seminar hereinholen und untersuchen, was für einen Einfluss diese Videographien auf die Wahrnehmungsprozesse der Studierenden auf ihre Vorstellungen von gutem Unterricht nimmt. Da wir in diesem Kölner Projekt deutlich über die Explorationsphase hinaus sind, was die Idee, das mit einem Seminar hier in Dresden zu verbinden. Frau Prof. Bennewitz führt zusammen mit Frau Prof. Niethammer ein Seminar durch, in dem sie aus fachdidaktischen, konkret Chemie- und Technikunterricht und erziehungswissenschaftlichen Perspektiven mit Simulationen von Unterricht arbeiten. Die Studierenden haben den Auftrag, den Ausschnitt einer Unterrichtsstunde vorzubereiten, die dann mit Kommilitonen durchgeführt und auf Video aufgezeichnet wird. Der andere Teil des Seminars ist dann aufgefordert, sich diesen Mitschnitt aus fachdidaktischer und erziehungswissenschaftlicher Perspektive anzuschauen. Aus diesen Teilprojekten soll, sofern realisierbar, ein kleinerer Forschungszusammenhang hergestellt werden. Weil Frau Bennewitz wusste, dass wir schon ein wenig weiter sind mit unseren Forschungen, hat sie mich vor ungefähr einem Jahr gefragt, ob ich im Rahmen des DRESDEN FELLOW-Programms für eine gewisse Zeit nach Dresden kommen möchte, damit wir gemeinsam am aufgenommenen Material arbeiten können.
Was bedeutet dabei der Begriff der Videographie im konkreten Fall?
Wir haben Studierende in die Handhabung der erziehungswissenschaftlichen Videographie eingeführt. Danach sind sie in Teams in Schulen gegangen und haben den Alltagsunterricht gefilmt. Die Filme wiederum haben wir dann gemeinsam zu bestimmten Themenstellungen aufbereitet. So war etwa ein Thema, wie im Unterricht Aufgaben gestellt werden oder ein anderes Thema war das der Klassenführung. Diese Kurzausschnitte benutzen wir nun, um mit anderen Studierenden, die an der Entstehung der Filme nicht beteiligt waren, über die Sequenzen zu sprechen. Natürlich könnte man dazu auch Fragebögen benutzen aber wenn man bildliche Szenen vor Augen geführt bekommt, lässt sich manches leichter erkennen. Wir wissen also, was sich innerhalb der Lehrerbildung in den letzten Jahren verändert hat, aber wir wissen immer noch nicht sehr genau, was eigentlich in der Lehrerbildung passiert.
Kann man in diesem Zusammenhang Lehrerbildung und Unterrichtsforschung gleichsetzen? Letztere ist ja ein Teil ihres Hauptforschungsschwerpunktes.
Es ist nicht völlig identisch aber dadurch, dass das Unterrichten ein Kernbereich der professionellen Anforderung eines Lehrers ist, gibt es dadurch einen Gegenstandsbezug. Das, was Lehrerbildung ausmacht, ist auch eine Kompetenz, den Unterricht analysieren zu können, um ihn gegebenenfalls später besser gestalten zu können. Das ist sicherlich ein Verbindungsglied, der Gegenstand selbst ist sicher ein wenig anders. Wir als Tätige in der Lehrerbildung müssen uns die Frage stellen, welche Vorstellungen von gutem Unterricht und von Handlungsmöglichkeiten im Unterricht versuchen wir den Studierenden zu vermitteln. Jeder der Lehramtskandidaten ist ja ein Profi im Gebiet des Unterrichts, er hat ja selbst oft Unterricht verfolgt und ein spezielles Bild vor Augen, wie dieser am besten auszuführen ist. Wichtig dabei ist für uns, diese Alltagsvorstellung an der einen oder anderen Stelle auch einmal irritieren zu können. Und das klappt datengestützt manchmal besser, als allein durch Reden.
Kann man daraus ein Verhältnis zwischen intuitivem und erlerntem Handeln des Lehrers ableiten? Existieren dafür Zahlenverhältnisse?
Direkte Zahlenverhältnisse sind daraus nicht ableitbar. Es gibt aber eine Forschung darüber, welche Bedeutung Wissen für Handeln im Lehrerberuf hat. Daraus weiß man, dass das akademische Wissen nicht direkt das Handeln determiniert. Der Lehrer trifft vielmehr Entscheidungen, die tief im kognitiven Bereich verankert sind und damit seinen eigenen Eingebungen folgt. Denn im Unterricht hat man nicht viel Zeit, um über eine Entscheidung in einer bestimmten Situation lange nachzudenken. Was die Forschung aber auch durch das so genannte „Experten-Novizen-Paradigma“ gezeigt hat, ist, dass Experten durchaus in der Lage sind, Situationen umfangreicher wahrzunehmen, als dass bei Berufsanfängern der Fall ist. Der Wissenshorizont erweitert sich also mit laufender Praxis.
Ist das Verhältnis zwischen Theorie- und Praxisphasen im Studium Ihrer Meinung nach ausgewogen?
Das variiert stark nach Bundesländern. In Nordrhein-Westfalen wurde die Lehrerbildung dahingehend umstrukturiert, dass es ein ganzes Praxissemester gibt. Das findet im zweiten Mastersemester statt und wird von einem Orientierungspraktikum vorbereitet. Persönlich halte ich das für absolut ausreichend und im Studienablauf sinnvoll platziert, aber wenn Sie die Studierenden fragen, wird sicherlich immer die Antwort kommen, dass der praktische Anteil zu gering ist. Das Studium wird dabei häufig als praktische Ausbildung missverstanden. Das könnte man zwar so konzipieren, dann müsste man aber auf ein Modell des 19. Jahrhunderts zurückgreifen, in dem der Lehrling sein Handeln beim Meister abschaut. In der heutigen Wissenswelt halte ich das allerdings für keine praktikable Lösung.
Welchen Herausforderungen sehen sich Lehrer*innen ausgesetzt?
Die größte Herausforderung ist meiner Meinung nach, sich als Lehr als Leiter einer Gruppe zu verstehen und innerhalb dieser Gruppe Prozesse in Gang zu initiieren und zu steuern, die letztlich zu einem Ergebnis führen sollen. So etwas lässt sich akademisch nicht erlernen, sondern kann ausschließlich an der Praxis erprobt und gelernt werden. Einen Fehlschluss halte ich allerdings die Annahme, die Lehrerbildung komplett außeruniversitär zu verorten und rein praktisch auszulegen. In der Geschichte der Lehrerbildung gab es immer wieder Tendenzen in Bezug auf verstärkte Praxisorientierung oder verstärkte Theoretisierungen der Ausbildung.
Wie schätzen Sie allgemein die Qualität der Lehramtsstudierenden ein? Gibt es möglicherweise Unterschiede, die im Laufe der Jahre aufgetreten sind?
Im Längsschnitt gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, die auf eine Verbesserung oder Verschlechterung der Qualität des Potentials der Studierenden hinweisen würden. Was wir gesichert sagen können ist, dass der Lehrerberuf unter denjenigen, die sehr gute schulische Abschlüsse haben, nicht die erste Wahl ist. Über die Jahre gesehen, macht mir eher das immer jüngere Alter der Studierenden eine Sorge. Diese sind mit gerade mal 18 Jahren an der Universität und haben ihr Studium dann teilweise bereits mit 23 Jahren beendet. Ob diese dann in der Lage sind, vor pubertierenden 14- oder 15-jährigen Jungen und Mädchen zu unterrichten, bereitet mir gewisse Zweifel, da man aus der Sozialisationsforschung weiß, dass es für Schüler wichtig ist, ein erkennbares Gegenüber zu haben. Deshalb rate ich alle jungen Menschen, sich noch andere Erfahrungen zuzuführen, als direkt von der Schule in die Universität und wieder zurück in die Schule.
Welche Aufgaben sehen Sie hinsichtlich aktueller Prozesse auf zukünftige Lehrer zukommen?
Das Thema selbst ist in Deutschland ja nicht neu und wurde bereits in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik im Zusammenhang mit den Kindern der Gastarbeiter diskutiert. In der DDR gab es auch Vertragsarbeiter, deren Familien mit zugezogen sind und am Schulsystem partizipiert haben. Es gibt Forschungen darüber, was damals gut und schlecht funktioniert hat. Dahingehend kann man heute nicht so tun, als wäre das Thema ganz neu. Es gab damals Ansätze zum Aufbau eines Parallelschulsystems. Diese haben sich allerdings als Sackgasse erwiesen, weil sie die Separation der Bevölkerungsschichten verfestigt haben. In der Forschung wurde das unter dem Stichwort der Institutionellen Diskriminierung diskutiert. Heute muss sich das System als Ganzes der Aufgabe stellen, dass es eine Integrationsleistung zu erbringen hat. Das bedeutet, es muss eine sehr zügige Integration in die Regelbeschulung anstreben, das heißt, die Schüler müssen nahtlos in den Unterricht integriert werden. Für ältere Immigranten ergibt es gleichsam wenig Sinn, sie endlos in irgendwelchen Vorbereitungsschleifen warten zu lassen, sondern sie müssten vielmehr schnellstmöglich in den normalen Arbeitsprozess integriert werden. Sprachkompetenz ist in der Lehrerbildung sicherlich ein großes Thema, das intensiviert betrieben werden muss, da Sprache das fundamentale Mittel ist, Wissen weiterzugeben. Darauf müssen sich die Universitäten in der Ausbildung von Lehrern sicher einstellen.
Wenn man sich die Heterogenität von Klassen betrachtet, so steht auf kultureller Seite meiner Meinung nach die Jugendkultur über Herkunftskultur, sodass kulturelle Unterschiede wahrscheinlich weitaus geringer sind als angenommen. Eine mögliche größere Herausforderung ist die Bedeutung der Religion in der Schule. Das derzeitige Modell der weitgehenden Neutralität des Staates gegenüber Religion in der Schule ist vor dem Hintergrund einer weitgehend homogen christlichen Bevölkerung entstanden und muss immer mehr in Zweifel gezogen werden.
Werden Sie nach Ende Ihres Aufenthaltes für das Projekt noch einmal nach Dresden zurückkommen oder wird das über die Distanz realisiert?
Konkret haben wir bereits einen Nachfolge-Workshop vereinbart, der aus den vorhandenen Sachmitteln ermöglicht werden konnte. Danach muss sich zeigen, wie man einen solchen Forschungsverbund realisiert. Ich habe die Zeit hier nach knapp drei Wochen als sehr produktiv empfunden, insofern kann es gut sein, dass es hier vor Ort noch einmal ein Treffen geben wird.