10.02.2016
Zwischen Meinungsfreiheit und Hate speech
Die steigende Zahl von Menschen, die in Europa Schutz suchen, hat neben viel Hilfsbereitschaft auch zu einer Welle von öffentlichen Unmutsäußerungen und Hasskommentaren geführt – vor allem im Internet. Viele Zeitungen haben ihre Kommentarfunktionen im Internet abgeschaltet, Hasskommentaren in sozialen Netzwerken sollen schneller gelöscht werden. Doch stimmt es wirklich, dass Hate speech im Zuge der Flüchtlingsdebatte und durch das Aufkommen neuer Medien zugenommen hat? Welche Rolle spielt Hate speech im politischen Diskurs und wie begegnet man dem wirkungsvoll? Über diese Fragen diskutierten vor vollem Haus Prof. Adam Chmielewski (Philosoph, Wrocław) und Prof. Joachim Scharloth (Linguist, Dresden). Moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Lutz Hagen (Kommunikationswissenschaftler, Dresden).
Adam Chmielewski versuchte zu Beginn der Diskussion erst einmal zu umreißen, was unter Hate speech, ein in der europäischen Debatte recht neuer Begriff, überhaupt zu verstehen ist: „Ich verstehe Hate speech als eine Beleidigung, die auf einen zentralen Bereich unserer Identität zielt. Sie ist Ausdruck von Intoleranz, unterminiert unseren sozialen Status, schließt Menschen aus der Gesellschaft aus.“ Joachim Scharloth stimmte dieser Definition im Großen und Ganzen zu, betonte aber, eine Definition von Hate speech müsse klar und möglichst eng gefasst sein: „Der Begriff wird in den Medien gerade inflationär gebraucht. Nicht jede Beleidigung ist gleich Hate speech. Aber der Begriff definiert gerade den Gegenstand neu, womöglich auch mit Folgen für Rechtsbegriffe wie Volksverhetzung oder Beleidigung. Deshalb brauchen wir einen klaren Begriff, der sich von Beleidigung unterscheidet.“ Kritisch sah Scharloth die zunehmende Macht von Plattformbetreibern wie Facebook. „Es ist zu beobachten, dass staatlicherseits immer stärker gegen Hate speech und Beleidigungen vorgegangen wird. Aber was bedeutet es, wenn Facebook beginnt, ohne Rechtsgrundlage Nutzer zu sperren und bestimmte Postings zu löschen? Wohin verlagern wir die Kriterien dafür, was gesagt werden darf?“
Hate speech sei darüber hinaus kein neues Phänomen und habe es so auch schon auf Flugblättern der Reformationszeit gegeben. Der Eindruck, solche Beleidigungen hätten mit Aufkommen der sozialen Medien zugenommen, hänge wohl damit zusammen, dass derlei Stimmen vorher schlicht nicht hörbar gewesen seien: „Das blieb am Stammtisch gesagt.“ Darüber hinaus, so Scharloths provokante These, könne Hate speech durchaus auch funktional sein. Dies zeige seine Beschäftigung mit der 68er-Bewegung: „Hate speech und Beleidigungen wurden da auch emanzipativ gebraucht, als Mittel, um das Establishment in Frage zu stellen. Das hat durchaus gesellschaftsveränderndes Potential und ist deshalb nicht so einfach und klar zu verurteilen.“ Adam Chmielewski zeigte sich hier kritisch. Hate speech werde in der polnischen Politik instrumentalisiert – besonders erfolgreich vom Vorsitzenden der derzeitigen Regierungspartei, Jarosław Kaczyński: „Aber die Frage ist: Wollen wir wirklich eine Gesellschaft, die tolerant gegenüber Hate speech ist?“ Abfällige Aussagen von Kaczyński über Geflüchtete hätten Dinge sagbar gemacht, die vorher Tabu waren. „Er signalisiert den Menschen damit: Ihr dürft solche Aussagen in der Öffentlichkeit äußern. Das hat zu einer massiven Welle von Hate speech geführt.“ Das größte Problem sei aber nicht die Polarisierung von Gesellschaften, sondern deren völlige Unfähigkeit, auf einer gemeinsamen Grundlage über Probleme zu kommunizieren. „Das alte Habermas‘sche Ideal, dass alle in einer Diskussion akzeptiert sind und Argumente austauschen, wird permanent dadurch unterlaufen, dass Personen und Positionen nicht angehört, sondern grundsätzlich in Frage gestellt werden.“
Einer Reaktion aus dem Publikum, ob es vielleicht nicht genug Möglichkeiten gebe, seine kritische Position zu Geflüchteten zu formulieren, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden, erteilte Joachim Scharloth aber eine klare Absage: „Ich glaube, das gehört zu einer offenen Gesellschaft dazu, dass jemand, der sich positioniert, dafür von anderen kritisiert wird. Wer so denkt, macht sich falsche Vorstellungen davon, wie öffentlicher Diskurs funktioniert.“