Rückblick Diskussionsreihe "Zwischen Drinnen und Draußen"
An vier Terminen diskutierten im Wintersemester 2015/16 Wissenschaftler/innen der Universitäten Dresden, Wroclaw und Trento über Flucht und Migration als europäische Herausforderung. Die Diskussionsreihe fand in Zusammenarbeit mit der SLUB Dresden und dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden statt. Organisiert wurde sie vom Büro für Internationales des Bereichs GSW.
Auftakt der Diskussionsreihe „Zwischen Drinnen und Draußen. Flucht und Migration als europäische Herausforderung“
„Aufgabe von Wissenschaft ist es aus unserer Sicht nicht, im Elfenbeinturm zu verharren, sondern sich aktuellen Debatten zu stellen.“ – Mit diesen Worten machte Bereichssprecher Prof. Matthias Klinghardt in seinem Grußwort das Anliegen der Diskussionsreihe deutlich. An vier Abenden in diesem Wintersemester werden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus dem Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften mit internationalen Gästen u.a. aus den Partneruniversitäten Wrocław und Trento über ein Thema diskutieren, das Europa derzeit wie kein anderes beschäftigt: Flucht und Migration.
Den Auftakt am 9. November 2015 bestritten Prof. Karlheinz Ruhstorfer, Professor für systematische Theologie an der TU Dresden, sowie Piotr Buras, ehemaliger Berlinkorrespondent der „Gazeta Wyborcza“ und derzeitiger Leiter des Warschauer Büros des European Council on Foreign Relations. Moderiert wurde die Diskussion von Prof. Dagmar Ellerbrock, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden. Zwei grundlegende Fragen standen im Zentrum der Diskussion: Welche moralische Verpflichtung hat Europa zur Aufnahme von Geflüchteten, resultierend aus den Werten der Aufklärung und den allgemeinen Menschenrechten? Und inwiefern stoßen die EU-Staaten an Grenzen des Machbaren?
Piotr Buras machte gleich zu Beginn deutlich, dass es keinen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma gibt: „Eine Abschottung Europas ist, selbst wenn man dies wollte, schlicht nicht durchführbar. Zudem wird sie einen hohen Preis haben: Wenn wir uns nach außen abschotten, werden wir häufiger mit sinkenden Flüchtlingsbooten zu tun haben.“ Das liberale Antlitz europäischer Gesellschaften ist in Gefahr, denn entsprechende Sicherheitsmaßen nach außen sind ohne Verlust von Freiheiten im Inneren nicht zu machen. Gleichzeitig könnten Werte wie die Menschenrechte politisches Handeln nicht ersetzen. Politik sei dazu gezwungen, zwischen konkurrierenden Werten, wie Freiheit einerseits und Schutz und Sicherheit andererseits, abzuwägen und dabei auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen.
Karlheinz Ruhstorfer verwies bei allem Kompromisszwang in der Politik darauf, dass Menschen, neben wirtschaftlichen Erwägungen, auch deshalb nach Deutschland kommen, weil es hier ein funktionierendes Gemeinwesen und eine politische Elite gibt, die mit einem bestimmten Ethos Politik macht. „Wenn dies verloren geht und die Pragmatik zunimmt, kollabiert das Gemeinwesen. Die Leuchtpunkte der Freiheit und der Verheißung müssen als Grundlagen der europäischen Gesellschaften erhalten bleiben. Und diese Verheißungen müssen sich auch für die Neuankömmlinge einlösen. Auch im Islam gibt es viele Vertreter, die sich für die gleichen Werte einsetzen.“
„Die Aufnahme von Flüchtlingen,“ so Piotr Buras, „ist eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft.“ Polen als sehr individualistische Gesellschaft, so seine Befürchtung, könne sich damit schwer tun, zumal es bisher kaum Flüchtlinge und wenig Erfahrung mit Fremden gebe. Das Selbstverständnis als katholische Nation werde zudem durch die Ankunft von muslimischen Flüchtlingen in Frage gestellt. „Jedoch habe die Diskussion darüber „die polnische Gesellschaft schon verändert, bevor der erste Flüchtling angekommen ist“.
Als eine mögliche Lösung der Krise plädierte Buras für eine planvolle Umsiedlungspolitik von Flüchtlingen aus den Lagern im Nahen Osten nach Europa: „Die illegale Migration ist das Problem. Sie führt zu einem Abrutschen in die Kriminalität.“ Auch Karlheinz Ruhstorfer betonte die Notwendigkeit, Staaten wie den Libanon und die Türkei zu unterstützen, die die Mehrheit der Flüchtlinge aufgenommen hätten. Außerdem müssten die Fluchtursachen bekämpft und die „Unschuld“ von Waffengeschäften hinterfragt werden: „Wer bisher tatenlos zugesehen hat und jetzt überrascht tut, verwechselt Symptom und Ursache.“
Zwischen Geschichte und Gegenwart
„Ein Blick auf die lange Geschichte von Migration in Europa kann helfen, die aufgeheizte Diskussion um Flüchtlinge zu relativieren.“ – so Prof. Roswitha Böhm, Professorin für französische Literatur- und Kulturstudien an der TU Dresden, in der zweiten Veranstaltung der Reihe „Zwischen Drinnen und Draußen. Flucht und Migration als europäische Herausforderung“. Unter dem Titel „Zwischen Geschichte und Gegenwart“ stellten am Montag, den 14. Dezember 2015, vier Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen polnische, französische, italienische und deutsche Perspektiven auf die Migration in und aus Europa dar. Dies förderte Unterschiede, aber auch viele Gemeinsamkeiten zutage.
Neben Prof. Böhm waren Dr. Dorota Kołodziejczyk von der Universität Wrocław, Dr. Cécile Kovacshazy von der Universität Limoges sowie Prof. Elisabeth Tiller, Professorin für italienische Literatur- und Kulturstudien an der TU Dresden, geladen. Moderiert wurde die vom Büro für Internationales des Bereichs Geistes- und Sozialwissenschaften organisierte Diskussion von Prof. Christian Prunitsch, Professor für polnische Literatur- und Kulturstudien an der TU Dresden.
Alle Referentinnen betonten die lange Geschichte von Migrationsbewegungen in den jeweiligen Ländern. „Frankreich existiert seit 1000 Jahren und immer hat es Migration gegeben“, so Cécile Kovacshazy. „Charles Aznavour, Serge Gainsbourg, Marie Curie, Zinédine Zidane – diese ‚typischen‘ Franzosen sind alle Migranten!“ Für Italien und Deutschland, die erst in den letzten 50 Jahren von klassischen Auswanderungs- zu Einwanderungsländern geworden sind, worauf Elisabeth Tiller und Roswitha Böhm hinwiesen, hätte man ähnliche Beispiele nennen können. Polen sticht aus dieser Reihe heraus, überwiegt dort doch trotz steigender Einwanderungszahlen, vor allem aus der Ukraine, bis heute die Emigration. Sei es in Form des polnischen Klempners, mediales Schreckgespenst vor allem in französischen Medien nach dem polnischen EU-Beitritt 2004, oder als qualifizierten IT-Wanderarbeiter, den polnische Regierungen als Gegenbild zu etablieren versuchten. Aber vor allem über das Bild des politischen Emigranten ist Migration fester Bestandteil der polnischen Kultur.
Und auch wenn die genannten Länder unterschiedlich davon betroffen sind, ähneln sich die aktuellen Debatten um steigende Flüchtlingszahlen. Die ablehnende Haltung der neuen polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, die Dorota Kołodziejczyk anhand von Zitaten drastisch vor Augen führte, unterscheidet sich in Inhalt und Rhetorik nur wenig von Positionen des französischen Front National, der im Laufe der letzten 25 Jahre zu einer „LePenisierung“ der französischen politischen Landschaft geführt habe, wie Cécile Kovacshazy ausführte. Auch in Italien, das sich, so Elisabeth Tiller, bereits seit 2011 mit steigenden Flüchtlingszahlen konfrontiert sieht, macht mit der Lega Nord eine Partei Stimmung gegen Migrantinnen und Migranten. Und in Deutschland stehen den zahlreichen Willkommensinitiativen massiv steigende Übergriffe auf Flüchtlinge bzw. deren Unterkünfte gegenüber, worauf Roswitha Böhm hinwies.
Angesichts der Brisanz dieser Debatten blieb für einen Blick auf die literarische Verarbeitung von Migration und Flucht am Ende wenig Zeit. Interessierte erhalten dazu allerdings im November 2016 ausführlicher Gelegenheit: Unter der Federführung der Professuren für italienische und französische Literatur- und Kulturstudien ist eine Tagung zu Migration und Medialisierung in Planung, wiederum in Kooperation mit den strategischen Partnerhochschulen des Bereichs Geistes- und Sozialwissenschaften, Wrocław und Trento.
Zwischen Meinungsfreiheit und Hate speech
Die steigende Zahl von Menschen, die in Europa Schutz suchen, hat neben viel Hilfsbereitschaft auch zu einer Welle von öffentlichen Unmutsäußerungen und Hasskommentaren geführt – vor allem im Internet. Viele Zeitungen haben ihre Kommentarfunktionen im Internet abgeschaltet, Hasskommentaren in sozialen Netzwerken sollen schneller gelöscht werden. Doch stimmt es wirklich, dass Hate speech im Zuge der Flüchtlingsdebatte und durch das Aufkommen neuer Medien zugenommen hat? Welche Rolle spielt Hate speech im politischen Diskurs und wie begegnet man dem wirkungsvoll? Über diese Fragen diskutierten vor vollem Haus Prof. Adam Chmielewski (Philosoph, Wrocław) und Prof. Joachim Scharloth (Linguist, Dresden). Moderiert wurde die Veranstaltung von Prof. Lutz Hagen (Kommunikationswissenschaftler, Dresden).
Adam Chmielewski versuchte zu Beginn der Diskussion erst einmal zu umreißen, was unter Hate speech, ein in der europäischen Debatte recht neuer Begriff, überhaupt zu verstehen ist: „Ich verstehe Hate speech als eine Beleidigung, die auf einen zentralen Bereich unserer Identität zielt. Sie ist Ausdruck von Intoleranz, unterminiert unseren sozialen Status, schließt Menschen aus der Gesellschaft aus.“ Joachim Scharloth stimmte dieser Definition im Großen und Ganzen zu, betonte aber, eine Definition von Hate speech müsse klar und möglichst eng gefasst sein: „Der Begriff wird in den Medien gerade inflationär gebraucht. Nicht jede Beleidigung ist gleich Hate speech. Aber der Begriff definiert gerade den Gegenstand neu, womöglich auch mit Folgen für Rechtsbegriffe wie Volksverhetzung oder Beleidigung. Deshalb brauchen wir einen klaren Begriff, der sich von Beleidigung unterscheidet.“ Kritisch sah Scharloth die zunehmende Macht von Plattformbetreibern wie Facebook. „Es ist zu beobachten, dass staatlicherseits immer stärker gegen Hate speech und Beleidigungen vorgegangen wird. Aber was bedeutet es, wenn Facebook beginnt, ohne Rechtsgrundlage Nutzer zu sperren und bestimmte Postings zu löschen? Wohin verlagern wir die Kriterien dafür, was gesagt werden darf?“
Hate speech sei darüber hinaus kein neues Phänomen und habe es so auch schon auf Flugblättern der Reformationszeit gegeben. Der Eindruck, solche Beleidigungen hätten mit Aufkommen der sozialen Medien zugenommen, hänge wohl damit zusammen, dass derlei Stimmen vorher schlicht nicht hörbar gewesen seien: „Das blieb am Stammtisch gesagt.“ Darüber hinaus, so Scharloths provokante These, könne Hate speech durchaus auch funktional sein. Dies zeige seine Beschäftigung mit der 68er-Bewegung: „Hate speech und Beleidigungen wurden da auch emanzipativ gebraucht, als Mittel, um das Establishment in Frage zu stellen. Das hat durchaus gesellschaftsveränderndes Potential und ist deshalb nicht so einfach und klar zu verurteilen.“ Adam Chmielewski zeigte sich hier kritisch. Hate speech werde in der polnischen Politik instrumentalisiert – besonders erfolgreich vom Vorsitzenden der derzeitigen Regierungspartei, Jarosław Kaczyński: „Aber die Frage ist: Wollen wir wirklich eine Gesellschaft, die tolerant gegenüber Hate speech ist?“ Abfällige Aussagen von Kaczyński über Geflüchtete hätten Dinge sagbar gemacht, die vorher Tabu waren. „Er signalisiert den Menschen damit: Ihr dürft solche Aussagen in der Öffentlichkeit äußern. Das hat zu einer massiven Welle von Hate speech geführt.“ Das größte Problem sei aber nicht die Polarisierung von Gesellschaften, sondern deren völlige Unfähigkeit, auf einer gemeinsamen Grundlage über Probleme zu kommunizieren. „Das alte Habermas‘sche Ideal, dass alle in einer Diskussion akzeptiert sind und Argumente austauschen, wird permanent dadurch unterlaufen, dass Personen und Positionen nicht angehört, sondern grundsätzlich in Frage gestellt werden.“
Einer Reaktion aus dem Publikum, ob es vielleicht nicht genug Möglichkeiten gebe, seine kritische Position zu Geflüchteten zu formulieren, ohne in die rechte Ecke gestellt zu werden, erteilte Joachim Scharloth aber eine klare Absage: „Ich glaube, das gehört zu einer offenen Gesellschaft dazu, dass jemand, der sich positioniert, dafür von anderen kritisiert wird. Wer so denkt, macht sich falsche Vorstellungen davon, wie öffentlicher Diskurs funktioniert.“