Menschenrechte und Kulturgutschutz
Kulturerbe als identitätsstiftendes Element
Kulturerbe umfasst nicht nur materielle Ausdrucksformen wie historische Monumente, Museen, Bibliotheken, Kultureinrichtungen, Baudenkmäler, archäologische Grabungsfelder, religiöse Stätten, sondern auch immaterielles Kulturerbe wie Traditionen, soziale Gebräuche und Rituale, religiöse Zeremonien, Fertigkeiten, Handwerk, darstellende Künste oder mündliche Literatur. Im kulturellen Erbe sind somit nicht nur die kollektiven Erinnerungen der Menschheit und die Ausdrucksformen unserer Vorfahren gebündelt, das kulturelle Erbe repräsentiert positiv zugleich die Würde, die Einzigartigkeit und Identität der heute lebenden Menschen, Völker, Gruppen und Gemeinschaften; es dient der Selbstvergewisserung und befördert gesellschaftliche Kohäsion. Für Minderheiten und indigene Völker ist das von den Vorfahren überlieferte Kulturerbe heute, gerade auch weil es in der kolonialen Vergangenheit vielfacht zerstört und geraubt wurde, zugleich eine Art „einigendes Band“ und wird konstitutiv für das eigene Überleben bzw. den Fortbestand als Gemeinschaft angesehen. (Siehe Sabine von Schorlemer, Weltkulturerbe, in Woyke/Varwick, Handwörterbuch Internationale Politik, 2015. Weiterlesen zu Kulturerbe).
Angriff auf Kulturerbe als Angriff auf die Menschenrechte
Sinnlose und willkürliche Angriffe auf Kulturgüter dienen nicht selten dazu, die kulturelle und religiöse Identität von Minderheitengruppen zu zerstören und geflüchtete Menschen von der Rückkehr in ihre Heimat abzuhalten. Intentionelle Zerstörungen können somit nicht nur Kulturgüterrecht verletzen, sondern daneben in vielfältiger Weise auch gegen geltende Menschenrechte, vor allem gegen kulturelle Rechte, verstoßen: Im Fall der Zerstörung von Gebetsstätten kann das Recht auf freie Religionsausübung verletzt sein, daneben – etwa im Fall der Zerstörung von Bibliotheken und Museen – das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben. Generell können Verstöße gegen die Nicht-Diskriminierung oder die Menschenwürde vorliegen. Auch die im Anschluss an bewaffnete Konflikte vielfach notwendig werdende Restitution von Eigentum, Kulturgut eingeschlossen, weist eine Menschenrechtsdimension auf.
Zu den neueren Erkenntnissen gehört, dass Kulturverbrechen ein Indikator für bevorstehenden Mord und Vertreibung, insbesondere von Minderheiten, sein können. Absichtliche Zerstörungen von Kulturerbe zeugen in der Regel von größter Verachtung gegenüber der Würde der jeweiligen Bevölkerungen und können Vorläufer für später folgende Ausschreitungen gegen Menschen, evtl. sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sein.
Menschenrechtsbasierter Kulturgutschutz
Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat in seinem General Comment No. 21 vom 21. Dezember 2009 den normativen Gehalt des Rechts auf kulturelle Teilhabe in Artikel 15 Abs. 1 lit. a) des Internationalen Paktes über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte konkretisiert. Dabei war sich der Ausschuss offenbar auch der Bedeutung des Schutzes kultureller Rechte und Diversität als ein unverzichtbares Instrument für Toleranz und öffentliche Sicherheit bewusst. „Der Umstand, dass das Kulturerbe der Welt gerade in einer Reihe jüngerer bewaffneter Konflikte von terroristischen Gruppen, wie dem IS, gezielt angegriffen wird, lässt diese Einschätzung des Ausschusses unverändert aktuell erscheinen." (Sabine von Schorlemer, Kulturgutzerstörung, Nomos 2016, S. 176).
Eine Antwort auf diese Herausforderungen kann der menschenrechtsbasierte Ansatz des Kulturgutschutzes sein. Der „human rights based approach" kann als ein komplementärer Ansatz zum klassischen Erhaltungsansatz angesehen werden, die Sorgfaltsanforderungen für den Erhalt von kulturellem Erbe werden geschärft. Handelt es sich bei der Zerstörung oder Beschädigung von Kulturerbe zugleich um eine Verletzung der Minderheitenrechte oder auch Menschenrechte, so wird der rechtswidrig handelnde Territorialstaat in stärkerem Maße rechenschaftspflichtig.
Die Stärke des „human rights approach“ liegt damit auf der Hand: Die Anerkennung der Rechte auf das kulturelle Erbe als Menschenrecht gewährt für die betreffenden Gemeinschaften und Bevölkerungsgruppen ein stärkeres Schutzregime als dasjenige, das ansonsten im kulturgutschützenden Vertrags- und Völkergewohnheitsrecht verankert ist. Dies bedeutet, „dass der internationale Kulturgutschutz in rechtlich bindender Weise durch den internationalen Menschenrechtsschutz flankiert und zugleich verstärkt wird – ein Potenzial, das bislang zu wenig gewürdigt wurde." (Sabine von Schorlemer, Kulturgutzerstörung, Nomos 2016, S. 202).
Ausgewählte Veröffentlichungen zu Kulturerbe und Menschenrechten
Sabine von Schorlemer, Kulturgutzerstörung. Die Auslöschung von Kulturerbe in Krisenländern als Herausforderung für die Vereinten Nationen, The United Nations and Global Change, Band 11. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016, 1025 S.
Sabine von Schorlemer, Weltkulturerbe, in: Wichard Woyke, Johannes Varwick (Hrsg.), Handwörterbuch Internationale Politik,13. Aufl., Verlag Barbara Budrich, Opladen 2015, S. 518-526