05.03.2024
Christian Kosmas Mayers Residency-Projekt "Maa Kheru" wird an der Sorbonne Nouvelle vorgestellt
Am 22.03.2024 wird Dr. Bernhard Stricker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur der TUD sowie Gastdozent an der Sorbonne Nouvelle, Paris, Christian Kosmas Mayers künstlerische Forschungen während seiner Schaufler Residency@TU Dresden 2020 Studierenden und Lehrenden der Pariser Universität vorstellen.
Über Strickers Vortrag im Rahmen des Forschungskolloquiums des CEREG (Centre d’études et de recherches sur l’espace germanophone):
Zeit-Räume: Zum Verhältnis von Kalender und Geologie
Dr. Bernhard Stricker (TU Dresden)
Johann Peter Hebels berühmtes »Unverhofftes Wiedersehen«, die »schönste Geschichte der Welt« (Ernst Bloch), erzählt auf Grundlage einer realen Begebenheit von der Bergung der Leiche eines vor fünfzig Jahren verschollenen Bergmanns, die sich durch das Vitriolwasser in dem Stollen auf wundersame Weise ihr jugendliches Aussehen bewahrt hat. Wie Hebel in dieser Geschichte die Hinfälligkeit der gealterten Verlobten des Bergmanns mit dessen in jugendlicher Frische konservierter Gestalt kontrastiert, darf als typisch für die Texte gelten, die Johann Peter Hebel zwischen 1803 und 1819 für den badischen Volkskalender, den Rheinländischen Hausfreund, verfasst hat. Charakteristisch für diese Texte ist eine Reflexion über die unterschiedlichen zeitlichen Ordnungen, die im Mehrspaltendruck des Kalenders auch räumlich nebeneinanderstehen und so die ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ zur Darstellung bringen. Miteinander synchronisiert werden so natürliche und kulturelle Zeit-Rhythmen: das Sonnenjahr, das auf dem Umlauf der Erde um die Sonne beruht; der an dem Umlauf des Mondes um die Erde orientierte Monat; und die auf der biblischen Überlieferung fußende Sieben-Tage-Woche; darüber hinaus die unterschiedlichen Festtagskalender der verschiedenen Konfessionen und Religionen.
Die Zeit, in der Hebels Kalendertexte entstehen, ist nicht bloß durch die Auswirkungen einer bis dato unerhörten sozialen und technischen Beschleunigung geprägt, die durch neue Transport- und Übertragungsmedien befördert wird, sondern sie fällt auch in die Epoche, in der die Geologie anhand der Untersuchung sedimentierter Gesteinsschichten erstmals zu der Hypothese gelangt, dass die Erdgeschichte um viele Größenordnungen länger sein könnte als die Geschichte der Menschheit. Mit seiner Theory of the Earth (1789) wird James Hutton zum Entdecker der ›Tiefenzeit‹ und so zum Begründer der Geochronologie, die in der Folge auf dem Weg geographischer Kartierung eine Art »Atlas der Zeit« (Bjornerud 2022, 31) schaffen sollte.
In meinem Vortrag wird es zum einen um die Frage gehen, ob und inwieweit es einen Einfluss der Geologie auf Hebels Vorstellung von unterschiedlichen zeitlichen Ordnungen und ihrer Spatialisierung im Kalender gegeben haben könnte (nicht umsonst borgt ja Reinhart Kosellek von der Geologie die Metapher der ›Zeitschichten‹; Kosellek 2003). Zum anderen werde ich den Auswirkungen der Geologie auf die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Hebelschen Werks nachgehen. Diese umfasst neben intertextuellen Bezugnahmen auf Hebel bei Autoren wie Bloch, Benjamin, Canetti, W.G. Sebald, Patrick Roth oder Durs Grünbein auch künstlerische Werke. Zu den interessantesten künstlerischen Auseinandersetzungen mit Hebel in der Gegenwartskunst zählen die beiden Ausstellungen Unverhofftes Wiedersehen (Galerie Nagel Draxler Berlin) und Aeviternity (Mumok, Wien; Mayer 2019), beide im Jahr 2019, des deutschen Künstlers Christian Kosmas Mayer (* 1976). In bildkünstlerischen und installativen Formen geht Mayer den Zusammenhängen zwischen Hebels Erzählung, der realen Geschichte des verschollenen Bergmanns Mats Israelsson und der Naturgeschichte nach. Eine Treue zu Hebel wahren seine Ausstellungsstücke dabei, indem sie selbst Zeit verräumlichen und sie als etwas in unterschiedlichen Objekten Materialisiertes zur Darstellung bringen.