22.10.2019
"Expertendämmerung - Öffentliche Konflikte um wissenschaftliche Autorität". Ein Nachbericht von Christoph Schwameis
Am Abend des 8. Oktober 2019 lud der SFB 1285 „Invektivität“ zu einem öffentlichen Vortrag des Historikers Caspar Hirschi (St. Gallen) ein. Im Anschluss daran diskutierte der Vortragende mit den Dresdner ProfessorInnen Marina Münkler (Ältere und frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur), Thomas Henle (Lebensmittelchemie) und Jochen Schanze (Umweltentwicklung und Risikomanagement) unter der Moderation von Cornelius Pollmer (Süddeutsche Zeitung) im Rahmen einer Podiumsdiskussion.
Caspar Hirschi begann seinen Vortrag mit einem Bonmot aus dem angelsächsischen Raum. Es gebe drei Typen von Lügnern: Einfache Lügner, unverschämte Lügner – und wissenschaftliche Experten. Dieser Running Gag in Großbritannien und den Vereinigten Staaten fasse knapp die dortige Skepsis zusammen, die Mitglieder der gesellschaftlichen Elite wie Politiker und Beamte bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu artikulieren begonnen hätten. In einer Zeit des technokratischen Überschwangs hätten sich insbesondere Politiker gegen die Autorität von Wissenschaftlern gewandt, um sich in ihrer Machtfülle nicht einschränken zu lassen.
Nach dieser launigen Einleitung kam Hirschi zum Hauptteil seines Vortrags, den er in vier Thesen gliederte:
Mit seiner ersten These führte er weiter aus, dass die Kritik an wissenschaftlichen ExpertInnen im Vereinigten Königreich System habe, seitdem ihre Rolle als Sachverständige vor Gericht und als unabhängige Berater in der Politik im 18. Jahrhundert Gestalt angenommen habe. Mit ihrem privilegierten Zugang zu PolitikerInnen hätten sie dem Grundsatz demokratischer Gleichheit widersprochen und ein demokratisches Skandalon dargestellt. Die öffentliche Kritik an ihnen sei seither üblich, im 20. Jahrhundert sei sie noch dazu durch GeisteswissenschaftlerInnen wie Habermas verschärft worden. ExpertInnen seien im demokratischen Rechtsstaat für Gewählte wie für Wählende eine konstante Quelle der Irritation.
Als zweite These postulierte Hirschi, es gehe nicht um die Frage, warum ExpertInnen zu Zielscheiben populistischer Schmähungen geworden seien. Man müsse vielmehr untersuchen, wie es PopulistInnen gelingen konnte, die öffentliche Kritik an ExpertInnen zu monopolisieren und qualifiziertere Stimmen zu verdrängen. Hirschi erklärte diese Entwicklung in der Folge dergestalt: In den 90er- und 00er-Jahren sei es zu einer noch nie da gewesenen Instrumentalisierung unabhängiger Expertenkommissionen gekommen. Diese hätten den Machtinteressen einer Regierungspolitik gedient, die sie eher als Legitimatoren denn als Berater gebraucht habe. Das habe es PopulistInnen ermöglicht, eine Opposition gegen das Establishment und seine ExpertInnen aufzubauen: Während sie selbst auf Seiten des Volkes stünden, würden ExpertInnen nur die Interessen der Politik oder Wirtschaft vertreten. Welch unheilvollen Folgen diese Entwicklung hatte, belegte Hirschi mit dem Brexit-Volksentscheid 2016: Die Brexit-Gegner hätten hier auf die Überzeugungsarbeit von WirtschaftsexpertInnen wie des IWF oder der Bank of England gesetzt. Ein Großteil der britischen Bevölkerung sei aber gar nicht empfänglich für rationale wirtschaftliche Argumente gewesen. Daher sei es PopulistInnen leichtgefallen, die Mehrheit der Bevölkerung für sich zu gewinnen, indem sie einfache Botschaften wie das Argument der Souveränität einsetzten, bewusst gegen ExpertInnen auftraten und ihnen vorwarfen, im Dienste des Establishments unbegründete Ängste zu schüren.
Dieses Beispiel führte Hirschi zu seiner etwas überraschenden dritten These: Es existiere gar nicht eine genuine Glaubwürdigkeitskrise wissenschaftlicher ExpertInnen, vielmehr gebe es eine Autoritätskrise politischer Eliten, die auf ExpertInnen durchschlage. Dies begründete er mit englischen Statistiken, die zeigten, dass die Bevölkerung NaturwissenschaftlerInnen und GeisteswissenschaftlerInnen mehr vertraue, PolitikerInnen und ÖkonomInnen hingegen sehr viel weniger. Die prinzipielle Glaubwürdigkeit von ExpertInnen manifestiere sich auch im Verhalten der populistischen Politik, die sich durchaus auf ExpertInnen berufen würde – immer dann, wenn es ihr gerade passte.
Mit seiner vierten These skizzierte Hirschi eine mögliche Lösung des Problems: Fast zwei Drittel der Befragten begrüßten Kontroversen. Daher sei es heute die Aufgabe wissenschaftlicher ExpertInnen, eine öffentliche Kultur des konstruktiven Dissenses zu entwickeln und zu pflegen: Erst, wenn sichtbar werde, wo es Unterschiede gebe, könne Wissenschaft die Diskussion bereichern, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
In der anschließenden Diskussion widersprach Jochen Schanze zunächst dieser vierten These am Beispiel der Klimafolgenforschung: Die breite Akzeptanz, die es inzwischen in der Bevölkerung über die Folgen des Klimawandels gebe, basiere auf einer Konvergenz der wissenschaftlichen Meinung. Diese sei durch die Etablierung des Weltklimarates erreicht worden, der dazu beigetragen habe, dass die LeugnerInnen des Klimawandels überstimmt worden seien. Mechanismen, die dazu beitrügen, dass Diskurse kanalisiert werden, seien also wirksam.
Nach dieser direkt auf den Vortrag bezogenen Replik entfernte sich die Diskussion zuerst von dessen Thesen. Thomas Henle beklagte, dass die Naturwissenschaft oft einen Kampf gegen eine öffentliche Meinung führen müsse, die überzeugt sei, zu wissen, was richtig sei. Man sei als NaturwissenschaftlerIn häufig mit einer Emotionalisierung und Voreingenommenheit konfrontiert, gegen die man nur mit wissenschaftlichen Argumenten und einer rationalen Zugangsweise nicht ankomme.
Marina Münkler stimmte in diese Kritik ein: Das Entstehen einer Wissensgesellschaft, die leichtere Zugänglichkeit durch das Internet und die damit verbundene höhere Beteiligung weiter Bevölkerungsschichten hätten nicht – wie von manchen ForscherInnen erwartet – zu höherer Rationalität geführt. Tatsächlich sei das Gegenteil der Fall, es habe eine stärkere Emotionalisierung stattgefunden, und nun könne man oft einen Empörungsgestus gegen ExpertInnen feststellen. Die sozialen Medien verstärkten dies noch zusätzlich: Generell habe das Internet die Leitdifferenz zwischen ExpertInnen und Laien aufgehoben, sodass jeder meinen könne, Experte oder Expertin zu sein, weil er oder sie sich Informationen einfach beschaffen könne. Die Literaturwissenschaftlerin sprach das im öffentlichen Bewusstsein öfters erscheinende Korruptionsnarrativ an, wonach WissenschaftlerInnen von ‚der Politik‘ oder ‚der Wirtschaft‘ korrumpiert seien. Die Folge sei eine weit verbreitete Empörung über alle möglichen ExpertInnen. An diesem Punkt widersprach sie auch Hirschis dritter These: Diese Entrüstung bilde sich oft nicht in Statistiken ab. Auf die Frage des Moderators, wie man dagegen vorgehen könnte, wies Münkler auf die Schwierigkeiten hin: Moderierte Plattformen, wie sie bei Zeitungen existieren, seien zu wenig. Gleichgesinnte kämen in den sozialen Medien zusammen und verstärkten sich, es entstünden Blasen.
Die Präsentation von Wissenschaft und die Kooperation von WissenschaftlerInnen mit anderen VertreterInnen der Gesellschaft bestimmte den abschließenden Teil der Diskussion: Thomas Henle führte aus seinem Bereich die Risikobewertung von Lebensmitteln als positives Beispiel an. Daran seien nicht nur ExpertInnen beteiligt, sondern auch KonsumentenvertrerInnen, Greenpeace usw. Man versuche hierbei, allen Beteiligten eine Stimme zu gewähren. Danach wies Henle auf eine Gefahr hin, die bereits im Vortrag angeklungen war: Die Politik suche manchmal gezielt WissenschaftlerInnen, die das Gewünschte untermauerten, ohne dabei auf die wissenschaftliche Diskussion einzugehen.
Schanze skizzierte demgegenüber ein aus seiner Sicht ideales Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Gesellschaft: WissenschaftlerInnen dürften PolitikerInnen nicht nur eine einzige Lösung anbieten, sondern sollten lieber Handlungsräume und mögliche Pfade aufzeigen, wobei sie der Politik genügend Raum lassen sollten, diese Pfade auszuwählen. Das würde die Front zwischen wissenschaftlicher Meinung und Politik auflösen.
Münkler unterstrich daraufhin, dass die vergangene Autorität der Wissenschaft nicht mehr hergestellt werden könne. Es gelte, die Rollenzuweisung, die der Wissenschaft zugeschrieben werde, zu reflektieren. Wichtig wäre es, in unmittelbare face-to-face-Kommunikation mit der Bevölkerung einzutreten, was aber viel Zeit und Mühe erfordere. Es komme darauf an, Überzeugungsprozesse zu moderieren.
Hirschi stimmte hier ein: ExpertInnen wüssten manchmal nicht, wie sie komplexe Sachverhalte vermitteln könnten. Dadurch werde die Kommunikation in den Universitäten professionalisiert, was aber auch kritisch zu sehen sei.
Am Ende der Veranstaltung wurden Publikumsfragen beantwortet, was neue Aspekte in die Diskussion brachte. Die Frage eines emeritierten Physikprofessors zielte auf die Rolle der Medien ab: Oft würden dieselben ExpertInnen gefragt, auch wenn diese gar nicht unbedingt kompetent seien. So würden sie manchmal erst von den Medien zu ExpertInnen gemacht, was dazu beitrage, dass ExpertInnen weniger glaubwürdig seien.
Caspar Hirschi bestätigte dies: Er selbst sei einmal bei einem Fernsehinterview ohne sein Wissen und gegen seinen Willen als ‚Experte für Technikgeschichte‘ eingeblendet worden. Ferner ergänzte er, dass Medien seinen Lösungsansatz für die Skepsis gegenüber Wissenschaft erschweren würden, da sie mit Ungewissheit und Dissens oft nicht sehr gut umgehen könnten, sondern diese oft eher skandalisierten und problematisierten.
Marina Münkler wandte ein, dass man die ExpertInnenschelte nun aber auch nicht durch eine Medienschelte ersetzen sollte: Man sollte sich als ForscherIn nicht bewusst vor Medien verschließen und jene, die darin auftreten, kritisieren, sondern sich lieber selbst ‚ins Getümmel stürzen‘.
Im Anschluss wurde nochmals ein weiterer möglicher Grund für Wissenschaftsskepsis ins Feld geführt, als Thomas Henle die im Wissenschaftsbetrieb verbreitete Maxime „No risk, no funding“ selbstkritisch ansprach. Es käme manchmal vor, dass NaturwissenschaftlerInnen gesellschaftliche Gefahren hochstilisierten, um ihre eigene Forschung als einzige Möglichkeit darzustellen, diesen entgegenzutreten. Wenn man seine Disziplin auf diese Weise als relevant erweisen wolle, könne das auch zur Skepsis beitragen.
Abschließend ging es jedoch wieder um Lösungsansätze: Henle unterstrich, dass Wissenschaftstheorie und -kommunikation ein dringendes Desiderat an die naturwissenschaftliche Lehre seien. Man müsse bei den Studierenden anfangen und ihnen beibringen, wie sie ihre Wissenschaft kommunizierten. Dementsprechend plädierte Schanze für eine Art ‚Kodex‘ innerhalb der Wissenschaft: Es sollten Leitlinien einer guten wissenschaftlichen Kommunikation aufgestellt werden.
Am Ende der Veranstaltung brachte SFB-Teilprojektleiterin Dagmar Ellerbrock aus dem Publikum noch eine ganz andere Perspektive auf die gesamte Diskussion und die Klage über Wissenschaftsskepsis ins Spiel: Das Zweifeln in der Öffentlichkeit und das Hinterfragen von Expertenmeinungen sei per se gar nicht verwerflich, sondern begrüßenswert. Dies werde nur deswegen als Problem dargestellt, weil man als ForscherIn selbst davon betroffen sei. Leider konnten die Diskutanten auf diesen konträren Blickwinkel nicht mehr eingehen, sodass die höchst gedankenreiche und gehaltvolle Diskussion mit dieser Anregung endete.
Text:
Vortrag:
- Caspar Hirschi - Professur für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen
Mit unserem Gast diskutierten:
- Marina Münkler - Professur für Ältere und frühneuzeitliche deutsche Literatur und Kultur an der TU Dresden; Stellvertretende Sprecherin des SFB 1285 'Invektivität'
- Thomas Henle - Professur für Lebensmittelchemie an der TU Dresden
- Jochen Schanze - Professur für Umweltentwicklung und Risikomanagement an der TU Dresden
Moderation:
- Cornelius Pollmer - Sueddeutsche Zeitung
Vortrag und Podiumsdiskussion fanden im Rahmen der Veranstaltungsreihe "TU Dresden im Dialog" statt.