FLiK‐Modul „Invektivität“
FLiK-Modul
FLiK steht für „Forschen und Lernen im interdisziplinären Kontext“. Das FLiK-Modul wurde im Sinne der Qualitätsziele der TU Dresden zur Förderung des Dialogs über Fächergrenzen hinaus entwickelt. Es ist zweisemestrig angelegt und kann sowohl vollständig (15 CP) als auch in seinen Einzelbestandteilen besucht werden (Staffelvorlesung 5 CP; Forschungswerkstatt/-seminar 10 CP; abrechenbar im Pflicht- wie im Ergänzungsbereich). In administrativer Hinsicht werden FLiK-Module vom Zentrum für interdisziplinäres Lehren und Lernen (ZiLL) begleitet; außerdem stehen die Mitarbeitenden des Zentrums für Weiterbildung (ZfW) bei methodisch-didaktischen Fragen beratend zur Seite.
Durchgeführt wurde das FLiK-Modul "Invektivität" unter der Koordination von Antje Junghanß von Heike Greschke (Soziologie), Silke Fehlemann und Gerd Schwerhoff (Geschichte), Lea Hagedorn (Kunstgeschichte), Elisabeth Tiller (Romanistik), Bernhard Kaiser und Christoph Schwameis (Klassische Philologie) sowie Antje Sablotny (Germanistik).
Der erste Bestandteil des FliK-Moduls zur Invektivität, die Staffelvorlesung, diente dazu, die Studierenden mit zentralen Begriffen und Themenstellungen des SFB vertraut zu machen. Die einzelnen Sitzungen der Vorlesung wurden jeweils von mehreren Lehrenden bespielt, deren Ausführungen stets aufeinander bezogen waren. Innovative Formate führten dazu, dass ein reger Austausch sowohl unter den Lehrenden als auch mit den Studierenden zustande kam, der zugleich Gewinn und Herausforderungen interdisziplinären Forschens verdeutlichte.
Der zweite Modulteil fand coronabedingt online statt. In der Forschungswerkstatt erhielten die Studierenden die Gelegenheit, sich selbst in einem interdisziplinären Kontext auszuprobieren: In Kleingruppen entwickelten und bearbeiteten sie gemeinsam mit Kommiliton:innen anderer Fächer eigenständige Fragestellungen. Es gab regelmäßige Konsultationstermine mit den Betreuer:innen; außerdem fanden mehrere Blockseminarsitzungen für Zwischenpräsentationen im Plenum statt. Die Arbeiten mündeten in ansprechende Formate der Ergebnispräsentation (etwa Vidcast bzw. Podcast).
Podcast
Die folgenden Podcast-Beiträge sind aus der Forschungswerkstatt 2020 hervorgegangen:
Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge "Konstellationen – Invektiven im politischen Kontext von Weimar bis heute"
Folge 3: Jan Böhmermann und Recep Tayyip Erdoğan
„Dümmer als das Presserecht erlaubt“, „Medien müssen Grenzen einhalten“, „Sackdoof, feige und verklemmt“, „Böhmermann zeigt Erdogan, dass Satire Grenzen hat“, „Drohungen wegen Erdogan-Gedicht, Böhmermann steht unter Polizeischutz“, „Böhmermanns Schmähgedicht bleibt teilweise verboten“, „Böhmermann vs Erdogan - Schimpf oder Schande?“, „Recep Fritzl Priklopil - Böhmermann beleidigt Erdogan aufs Übelste“, „bewusst verletzend“, „Das ZDF hat die Türkei beleidigt“, „Der Fall Böhmermann wird zunehmend zur Belastungsprobe für die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland“, „Schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Beleidigung aller 78 Millionen Türken“…„erschüttert in allem, an das ich je geglaubt habe“
Mit diesen Artikelüberschriften, die die Feuilletons ab April 2016 füllten, wollen wir diese Folge unseres Podcast beginnen und Ihnen zugleich die Vielschichtigkeit der heutigen Invektive aufzeigen. Kaum ein Fall aus aktueller Zeit könnte sinnbildlicher für den schmalen Grat zwischen Schmähung bzw. Invektive und Kunst- bzw. Meinungsfreiheit stehen, wie die sogenannte Causa Jan Böhmermann gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Nicht bloß eine politische Invektive, sondern die Invektive selbst wurde zum Politikum und zum entscheidenden Anlass, Recht, Diplomatie und Politik auf den Prüfstand zu stellen.
In dieser Folge wollen wir deshalb nicht nur beleuchten, wer hier letztendlich wen geschmäht hat, sondern auch aufzeigen, wie eine Invektive selbst zum Politikum werden konnte, das auch im Jahr 2020 noch laufende gerichtliche Verfahren nach sich zieht. Denn eine Invektive lebt immer von ihrer Anschlusskommunikation, wie Prof. Gerd Schwerhoff vom Sonderforschungsbereich Invektivität an der TU Dresden feststellt. Nach ihm sei Invektivität dazu geeignet, Personen oder Gruppen herabzusetzen, zu verletzen oder auszugrenzen, der Schlüssel liege jedoch nicht primär in der Motivation einzelner Sprecher, sondern konstituiere sich im Kraftfeld einer triadischen Konstellation von Akteuren und werde entscheidend vom jeweiligen Kontext sowie ihrer Anschlusskommunikation bestimmt.
So widmen wir uns der Causa Böhmermann:
Es ist der 31. März 2016, als Jan Böhmermann in seiner wöchentlich auf ZDF neo
ausgestrahlten Satiresendung „Neo Magazin Royale“ die Verse verliest, die bis heute vor Gericht verhandelt werden: Schmähkritik - so der schlichte und für sich selbst stehende Titel. Anlass hierzu lieferte ihm ein Beitrag der NDR-Satiresendung Extra3, die zwei Wochen zuvor mit ihrem Lied „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ bereits satirisch gegen den türkischen Staatschef schossen, um vor allem auf die eingeschränkte Pressefreiheit in der Türkei aufmerksam zu machen. In der Folge bestellte Erdogan verärgert den deutschen Botschafter Martin Erdmann ein, um u.a. die Verbreitung des Beitrags zu unterbinden. - Erfolglos.
Die harsche Reaktion des Präsidenten auf einen satirischen Beitrag zum Anlass nehmend
sprach Böhmermann den türkischen Präsidenten in seiner Sendung persönlich an, um zu verdeutlichen, dass der Beitrag von Extra3 von der Kunstfreiheit gedeckte erlaubte Satire war.
Doch um zu zeigen, dass Satire auch in Deutschland Grenzen hätte, wollte er Erdogan verdeutlichen, dass Satire mit der sogenannten Schmähkritik ende, die explizit nicht erlaubt sei. Als kleine, auf einem Spartensender ausgestrahlte Quatschsendung käme man ohnehin nicht an die vermeintlichen Satire-Profis von Extra3 heran.
Die Fäden waren gespannt, im Dialog mit seinem Co-Host Ralf Kabelka klärten Böhmermann und dieser auf, worum es sich bei Schmähkritik konkret handle: Man könnte auch sagen, die Invektive als solche wurde definiert. „Wenn du Leute diffamierst, wenn du einfach nur so untenrum argumentierst. Wenn du die beschimpfst und nur bei privaten Sachen, die die ausmachen, herabsetzt - das ist Schmähkritik“, so Kabelka. Ein konkretes Beispiel mit dem mehrfachen Hinweis, dass dieses explizit nicht erlaubt sei und juristische Folgen - wenn auch erst hinterher - haben könnte, folgte prompt: Böhmermann verlas sein Gedicht „Schmähkritik“. Formal betrachtet, eine Aneinanderreihung kindlich formulierter Paarreime, die den Präsidenten Erdogan ohne jeden Grund und Kontext diffamierten und herabsetzten. Dieser praktiziere Sodomie, sei dumm, pädophil und eine Witzfigur - an dieser Stelle soll nur angedeutet werden, welch herabwürdigende Verse öffentlich vor dem Hintergrund einer türkischen Flagge und mit Untertiteln hinterlegt, verlesen wurden. Zugleich wurde mehrfach, auch während des Vortrags darauf verwiesen, dass man dies eben nicht dürfe: Gegen die Invektive könne nun juristisch vorgegangen werden, was jedoch ein langjähriges Verfahren durch diverse Instanzen nach sich ziehen würde, ehe drei vier Jahre später ein Urteil gefällt würde.
Der Vorhang schließt sich, die Invektive verbreitet sich. Die Ausstrahlung auf ZDFneo sowie in der ZDF Mediathek sehen neben den im Kölner Studio anwesenden 200 ZuschauerInnen schätzungsweise 600.000 Menschen. Der Spielball liegt nun beim Geschmähten, dem türkischen Präsidenten. Seine Reaktion und sein Handeln wird darüber entscheiden, ob das Gedicht zur Invektive wird, denn - es sei daran erinnert, dass weniger die Motivation des Sprechers, hier Jan Böhmermann, über die Invektive entscheidet, sondern diese aus der Anschlusskommunikation heraus konstituiert wird. Ob Erdogan sich wirklich persönlich herabgesetzt, verletzt oder ausgegrenzt fühlte, können wir nur mutmaßen, doch die öffentliche Anschlusskommunikation spricht deutliche Worte:
Am 1. April 2016 twittert Böhmermann noch: „Ich denke, wir haben heute am 1. April 2016
gemeinsam mit dem ZDF eindrucksvoll gezeigt, wo die Grenzen der Satire bei uns in Deutschland sind. Endlich! Sollte ich bei der gebührenfinanzierten Erfüllung meines pädagogischen Auftrags die Gefühle eines lupenreinen Demokraten verletzt haben, bitte ich ergebenst um Verzeihung.“
In der Folge überschlagen sich die Ereignisse beinahe und drohen, eine diplomatische Krise zwischen Deutschland und der Türkei in einer Zeit auszulösen, in der der Flüchtlingsdeal mit der Türkei den politischen Alltag bestimmt. Die Invektive gegen die Person Erdogan wird zum Politikum. Die Sequenz wird aus der Mediathek sowie der Wiederholung der Sendung im ZDF Hauptprogramm einen Tag später entfernt - Die Parodie entspreche nicht den Ansprüchen des ZDF an die Qualität von Satiresendungen, Grenzen seien überschritten - so die offizielle Begründung des Zweiten Deutschen Fernsehens. Bundeskanzlerin Angela Merkel betitelte das Gedicht gegenüber dem türkischen Ministerpräsidenten Davutoglu als „bewusst verletzend“, woraufhin die Türkei ein Strafverlangen gegen Böhmermann nach §104a des Strafgesetzbuches ersuchte, um ihn der Beleidigung eines ausländischen Präsidenten nach §103 anzuklagen.
In Verhandlung mit den SPD geführten Ressorts des Außen- und Justizministeriums sowie den CDU geleiteten Kanzleramt und Innenministerium entschied Merkel letztlich, dass die deutsche Bundesregierung dem Strafantrag stattgeben werde. Kritik wurde lauter, nicht nur weil sie das Gedicht ohne seinen sendungsbegleitenden Kontext kannte, sondern auch, weil Erdogan selbst bereits zivilrechtlich Anzeige wegen Beleidigung erstattet hatte und folglich ohnehin die Justiz über das weitere Geschehen verhandeln sollte.
Konstellationen – Invektiven im politischen Kontext von Weimar bis heute
Autor der Podcast-Folge: Moritz Lotz 3 Die Invektive rückte somit endgültig in den Mittelpunkt des politischen Geschehens und machte das Gedicht dadurch umso bekannter und auch im Ausland verbreitet. Man spricht von dem sogenannten Streisand-Effekt - das soziologische Phänomen, dass der Versuch, eine Information zu unterdrücken ins Gegenteil verkehrt und eine umso größere öffentliche Aufmerksamkeit und Verbreitung nach sich zieht. Während sich die beiden eigentlichen Protagonisten, Böhmermann und Erdogan aus der öffentlichen Debatte zurückzogen - jener legte eine Medienpause ein, sagte u.a. seine Teilnahme an der Grimme-Preisverleihung ab, dieser äußerte sich lediglich in Form seines deutschen Anwalts - entbrannten einschneidende Debatten in Politik und Gesellschaft.
Der Schmähende und der Geschmähte wurden in der Tragweite dieser Invektive zu Randfiguren, die fortan in einem, wie von Böhmermann vorhergesagten rechtsstaatlichen Verfahren zivil- und strafrechtlich verhandelten. Die Anschlusskommunikation wurde endgültig zum Mittelpunkt der Debatte. Unterdessen rückten Vorwürfe von türkischer Seite, dass das gesamte türkische Volk in jenem Beitrag beleidigt worden sei und es sich hier um ein schweres Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte, in den Vordergrund. Thomas Bellt, der Intendant des ZDF drückte sein Bedauern aus und erklärte, dass in kurzer Zeit 2000 Mails und Anrufe in Mainz eingegangen seien. Böhmermann wurde gar selbst Invektiven ausgesetzt und u.a. von Mitgliedern der rechtsextremen türkischen Partei, den Grauen Wölfen, bedroht. Die zweite große Debatte spielte sich im deutschen Bundestag und der Medienlandschaft ab. Auslöser waren der umstrittene §103, ein Relikt aus der Kaiserzeit, das folglich mit Wirksamkeit zum 1.1.2018 abgeschafft wurde sowie die Diskussion, was Kunst, was Schmähung/Invektive sei.
Böhmermann sagte hierzu, er wolle in einem Land leben. in dem das Erkunden der Grenzen der Satire erlaubt, gewünscht und Gegenstand einer zivilgesellschaftlichen Debatte sein könne. Er sei erschüttert in allem, an das er je geglaubt habe. Sicherlich sind seine getwitterten Worte mit Vorsicht zu genießen, da er sich hier seit jeher mit schwimmenden Grenzen mal als Kunstfigur, mal als Privatperson äußert. Doch die Tragweite dieser Worte spricht Bände, denn sie verdeutlicht, wohin eine bewusst satirische, künstlich erdachte und überlegt eingebettete Invektive auch im 21. Jahrhundert führen kann.
Das Strafverfahren gegen den Satiriker wurde im Oktober 2016 eingestellt. Die
Staatsanwaltschaft Mainz erkannte keine strafbaren Handlungen. Einspruch wurde abgelehnt.
Das Zivilverfahren zog indes eine einstweilige Verfügung gegen Böhmermann nach sich, das Landgericht Hamburg urteilte, dass das Gedicht in Teilen ehrverletzend sei und daher in Teilen verboten werde. Kritik und Einspruch, das Gedicht zwingend in seinem Kontext zu betrachten und nicht in seine selbstverständlich diffamierenden Einzelverse zu zerlegen, war erfolglos. Das Oberlandesgericht Hamburg bestätigte das Urteil und verbot 18 der 24 Verse. Sollte Böhmermann das Gedicht wiederholt vortragen, drohe ihm eine hohe Geldstrafe oder gar eine Ordnungshaft. Für den ursprünglich Geschmähten Präsidenten Erdogan war die Angelegenheit damit erledigt, er zeigte sich lediglich verwundert, dass nicht alle Zeilen fortan verboten waren. Böhmermann hingegen sah sich durch die Urteile jedoch im Unrecht, man könnte fast behaupten, er fühlte sich selbst von den Urteilen geschmäht.
Im August 2019, dreieinhalb Jahre nach jener Folge seines Neo Magazin Royales reichte er daher Verfassungsbeschwerde gegen das Vortragsverbot ein. Der Ausgang ist zum Zeitpunkt dieses Podcast im September 2020 ebenso offen wie die Frage danach, was Satire darf und wo Invektiven beginnen.
Die Causa Böhmermann und seine Invektive gegen den türkischen Präsidenten wurde zum Narrativ, das sinnbildlich für die Frage steht, für welche Werte man in einer Europäischen Union, um deren Mitgliedschaft die Türkei seit Jahren buhlt, eintritt. In vielen EU-Mitgliedsstaaten solidarisierte man sich mit Böhmermann.
Der zuvor ebenfalls von Böhmermann aufs Glatteis geführte ehemalige griechische
Finanzminister Yanis Varoufakis twitterte z.B.: Europe first lost its soul (Agreement with Turkey on refugees) now it is losing its humour. Hand off Jan Böhmermann! - Europe verlor zuerst seine Seele (Flüchtlingsabkommen mit der Türkei) nun verliert es seinen Humor. Hände weg von Jan Böhmermann.
In Großbritannien veranstaltete man gar einen Gedichtwettbewerb zur Schmähung Erdogans, den der heutige Premierminister und ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson - seinerseits selbst u.a. türkischer Abstammung - mit einem Limerick zum sexuellen Akt mit einer Ziege gewann. Johnson griff dabei unmittelbar auf die vom Hamburger Landgerichts verbotenen Verse des Originals zurück. Die britische Zeitschrift The Spectator, Veranstalter des Wettbewerbs, erklärte u.a.: In Großbritannien leben und atmen wir noch immer frei. Wir brauchen keinen ausländischen Potentaten, der uns sagt, was wir denken oder sagen dürfen. Und wir brauchen keinen Richter, vor allem keinen Deutschen, der uns darüber aufklärt, was wir witzig finden dürfen.
Und auch in der USA, um diesen kurzen Abriss außerdeutscher Anschlusskommunikation zu beenden, richtete sich Satiriker John Oliver in seiner Late-Night-Show Last Week Tonight an Erdogan und behauptete, Erdogan fordere geradezu heraus, dass man sich über ihn lustig mache.
Im Gegensatz zum Ausland wollten sich deutsche Gerichte einer Gesamtbewertung der Invektive, die mehr als bloß 24 Zeilen umfasste, vermeintlich nicht annehmen. Letzteres sollte Erdogan und seinen Befürwortern als Beweis dienen, im Recht zu sein. Böhmermanns noch immer andauernder Einsatz steht ihrerseits im Widerspruch zur Rechtsprechung und gibt wiederum Anlass zu Schmähungen gegen Böhmermann. Er selbst sagt: Die für mich schmerzhafteste Vorstellung ist wirklich, dass mich jemand wegen dieser Nummer ernsthaft für einen Rassisten oder Türkenfeind halten könnte.
Schlussendlich konnte Professor Gerd Schwerhoffs Einschätzung, dass Invektiven
„entscheidend vom jeweiligen Kontext sowie von der Anschlusskommunikation bestimmt [werden], bestätigt werden. Diese Beobachtung […] von Invektivität führe zu dem Schluss, dass Invektivität in Geschichte und Gegenwart enorme gesellschaftliche Funktionen entfalte, so Schwerhoff weiter. Für den Fall Böhmermann und Erdogan konnten diese umfassend aufgezeigt werden.
Aus einem satirischen Beitrag entbrannte eine emotional geführte Anschlusskommunikation um Kunst- und Meinungsfreiheit sowie um politische Diplomatie. Zwar sind es nur die Worte Böhmermanns, die heute noch juristisch verhandelt werden, doch die Invektive selbst bzw. der Invektive Modus der Schmähung löste eine Debatte aus, die weit über die ursprünglichen Hauptakteure Böhmermann und Erdogan hinausgeht. Die Beleidigung hat sich in ihrer Anschlusskommunikation verselbstständigt und wird auch im Jahr 2020 weiter verhandelt.
Weitere Informationen sowie Literaturverweise finden Sie wie immer im begleitenden Anmerkungspapier. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und bis zum nächsten Mal bei:
Konstellationen - Invektiven im politischen Kontext von Weimar bis heute.
Outro
Konstellationen – Invektiven im politischen Kontext von Weimar bis heute
Autor der Podcast-Folge: Moritz Lotz 5
Über den Autor: Moritz Lotz ist 25 Jahre alt und studiert Gymnasiallehramt für die Fächer
Deutsch und Geschichte. Er hat aus einem vorangegangenem Studium einen Bachelor of
Arts in den Fächern Germanistik und Slawistik.
Hinweise zum Titel: Der Titel des Podcasts „Konstellationen – Invektiven im politischen
Kontext von Weimar bis heute“ wurde gewählt, um den Schwerpunkt insbesondere auf die
Beziehungen aktiver und passiver Akteur*innen einer Invektive zu legen. Aufgrund der
thematischen Dreiteilung innerhalb der Podcast-Reihe wurde der Titel erweitert: Es handelt sich in allen Fällen um Invektiven, die sich im politischen Kontext bzw. Spektrum verorten lassen – Landauer und Stresemann waren selbst Politiker, Böhmermanns Gedicht gegen den türkischen Präsidenten Erdogan, ein Politiker, wurde vor allem von der
Anschlussdiskussion innerhalb der Politik zur Invektive. Zudem geben sich die drei Beispiele einen zeitlichen Rahmen vor, der sich von der Weimarer Republik, kurz „Weimar“, bis zu noch laufenden Verfahren in der so genannten „Böhmermann-Affäre“, ergo heute, erstreckt.
Ovids Metamorphosen : Eine Herabsetzung von Frauen in Text und Bild und wie man
damit umgehen sollte – Ein Podcast von Desiree Merkel und Susann Badewitz
Desiree:
Dank der MeToo-Bewegung und den modernen Erkenntnissen in der Gender-
Forschung hat sich seit den 60er/70er Jahren das Verständnis von Männlichkeit
und Weiblichkeit gewandelt. Dementsprechend hat sich auch die Rezeption von
kanonischen Medien, sei es visuell oder textuell, geändert und man hat
begonnen sie auf inhärente Misogynie zu untersuchen.
Als Misogynie definiert man dabei die Beleidigung und Herabsetzung speziell
von Frauen und die Verharmlosung sexualisierter Gewalt ihnen gegenüber, was
unter anderem über Stereotypisierung, Objektiverung und Stigmatisierung
erfolgen kann.
Susann:
Allen voran sind dabei besonders Ovids Metamorphosen, eine Sammlung von
250 Verwandlungssagen aus der grieschich-römischen Mythologie, in den
letzten Jahren in Kritik geraten. In den USA sind sogar die Forderungen laut
geworden, diese nun zu zensieren oder ganz aus den Curricula der
Universitäten und Schulen zu streichen.
Desiree:
Und auch in den später erstellten Bildinterpretationen zu diesen, lassen sich
deutliche geschichtliche Differenzen zwischen dem zeitgenössischen und
heutigen Welt-und Wertebild ausmachen.
Deswegen erschienen uns die Metamorposen und ihre bildlichen Darstellung
ein sehr aktuelles und reizvolles Thema für unsere Invektivitätsforschung zu
sein, um anhand deren zu analysieren, weswegen sie heutzutage als misogyn
gelten und inwieweit sie dadurch von modernen Lesern und Rezipienten sogar
als invektiv gedeutet werden könnten.
Susann:
Dahingehend beschäftigt nicht nur Altphilologen und Kunsthistoriker, sondern
auch gerade uns, als angehende Lehrkräfte für den Altsprachen- und
Kunstunterricht, nun ebenso die Frage, welche Konsequenzen sich daraus
letztendlich für den zukünftigen Umgang mit solch kontroversen Medien
eregeben?
Sollten wir diese Texte und Bilder lediglich als Artefakte und Zeugnisse ihres
jeweiligen, zeitgemäßen Rollenverständnisses und als Beispiele einer
misogynen Kultur sehen und das Problematische sozusagen einfach
„gutheißen“? Bzw. sollten sie als zu schützendes Kulturgut weiterhin das
Privileg der Erhabenheit über Invektivkritik innehaben und, wie sie jetzt
vorliegen, frei öffentlich zugänglich bleiben?
Desiree:
Dem entgegen steht die Frage, ob wir durch die freie, unkritische
Veröffentlichung und Theamtisierung dieser, weiterhin Werte und Ansichten
reproduzieren wollen, welche ganz klar gegen unser heutiges Rollenver-
ständnis und Gesellschaftsbild sprechen? Zumal solche Medien unkommentiert
ja auch einen negativen Einfluss auf Heranwachsende nehmen könnten, die
z.B. mit der Problematik „Misogynie“ noch nicht vertraut sind?
Susann:
Sollten wir zudem nicht die Würde des Menschen als höherwertig betrachten,
welche durch eben solche Darstellungen verletzt werden könnte und wodurch
auch vorhandene Traumata betroffener Personen glorifiziert oder romantisiert
erscheinen könnten? Sollten wir also anstatt solche Texte und Bilder
unkommentiert so stehen zu lassen, sie lieber zensieren, aus dem Lehrplan
streichen oder nur mit Einschränkungen und Zusätzen, z.B. in Form einer
kommentierten Fassung, zugänglich machen?
Desiree:
Oder sollten diese Texte und Bilder, da sie dennoch als Repräsentation zu
verstehen sind und sich nicht einfach den sozialen Prozessen und Ansichten
entziehen können, lediglich deutlich umfangreicher kontextualisiert und
insgesamt kritischer beleuchtet werden?
Susann:
Um diese Fragen zu beantworten, haben wir uns zwei Geschichten aus Ovids
Metamorphosen einmal näher unter die Lupe genommen und auf ihe
Invektivität durch Misogynie analysiert. Als erstes Beispiel haben wir uns dazu
die Geschichte über Syrinx herausgesucht – eine Nymphe, die ganz im
Zeichen Dianas auf ihre Jungräulichkeit bedacht ist. Als diese von der Jagd
kommt, wird sie plötzlich vom Hirtengott Pan erspäht und sofort begehrt.
Syrinx flieht daraufhin vor ihm und, um einer imminenten Vergewaltigung zu
entgehen, bittet sie ihre Schwestern um Hilfe, welche sie daraufhin in
Schilffrohr verwandeln, woraus sich Pan am Ende seine „Panflöte“ formt.
Desiree:
Betrachten wir dafür zunächst dieses Kupferstichbild von Ägidius Sadeler II.
mit dem Titel „Pan und Syrinx“ von 1580–1629. Hierbei wird nicht die
Metamorphose, sondern deren Anbahnung vorgestellt. Das tiefenräumliche
Bild bietet eine greifbare Toilettenszene der Frau, sprich das Zurechtmachen
und Entblößen ihres weiblichen Körpers. Sie steht zentral im Vordergrund und
ist somit der erste Blickfang des Betrachters.
Doch im Hintergrund, im Schatten, lauert Pan, welcher der Nymphe heimlich
nachstellt. Die beiden Bildzonen (Vorder- und Hintergrund) sind durch die
umgebende Flora fast vollständig voneinander abgegrenzt. Nur durch die
Lücke im Dickicht werden die beiden Bildzonen und gleichzeitig die
Privatsphäre der Frau durchbrochen. Dabei nimmt Pan die Rolle des
Hauptakteurs ein. Die Nymphe ist dagegen in das macht- und ahnungslose
Passiv verbannt worden. Ansonsten ist der Bildraum sehr eng gestaltet. Für die
Frau ist sehr wenig Spiel-, bzw. Freiraum vorhanden.
Susann:
Hier kommt vor allem die Stereotypisierung der Frau zu tragen. Das Wort
Stereotyp setzt sich aus den griechischen Wörtern steréos (= starr, fest) und
typos (=Schlag, Eindruck oder Muster) zusammen. Es beruht auf einer
unbewussten und nahezu automatischen Kategorisierung. Und diese
Kategorisierung wird durch spezielle Merkmale bestimmt. Hier werden die
zeitgemäßen gewünschten Merkmale für Frauen präsentiert: schön, keusch,
scheu, unbedarft, gemächlich, arglos und verletzlich.
Desiree:
Außerdem finden sich hier Götterembleme, die einen spezifischen Götter bzw.
Geschlechts-Konflikt symbolisieren: Pan z.B. ist hier dem Gott Bacchus
unterstellt, der für Genuss und Lust und – laut damaligem Empfinden – als
Mann für Kultur einsteht. Dem entgegen steht Syrinx, die der Diana unterstellt
ist, welche stereotypsich Weiblichkeit und die Natur symbolisiert. Und nach
damaligem Verständnis hatte der Mann nun die Aufgabe inne, Kraft seines
kulturellen Erbes, mittels Kultur, die Natur zu zähmen und sie sich untertan zu
machen.
Susann:
Ein weiterer problematischer, misogyner Aspekt, der in diesem Gemälde zum
Tragen kommt und, den bereits die Altphilologin Katharina Wesselmann für
Werke wie die Metamorphosen konstatiert hat, ist, die Objektivierung der
Frau. Frauen werden zu „ästhetisierten Objekten eines male gaze“, also bloße,
auf ihr Aussehen bzw. ihren Körper reduzierte Lustobjekte, wodurch ihre
Würde beeinträchtigt, beschädigt oder zerstört werden kann.
In Sadelers Gemälde entdeckt der aufmerksame Beobachter zum Beispiel
erotische Motive wie entblößte Unschuld, gelöstes Haar, die Frau, die in der
Natur ihre natürlichen Reize offenbart.
Desiree:
Besonders das Thema der Badenden spiegelt dabei den Voyeurismus Pans und
des Betrachters wieder, ganz nach dem Vorbild Albrecht Dürers und der
nordeuropäischen Tradition, wo Bade- und Toilettenszenen ein beliebtes
Bildthema waren. Die Keuschheit der Frau und der verbotene Zugang zur
weiblichen Privatsphäre werden erotisiert. Durch den Blick Pans auf den
Zuschauer und mit der verschwörerischen Geste mit dem Zeigefinger die
Lippen zu berühren, macht er den Betrachter zum unfreiwilligen Mittäter und
ebenso zum Voyeur.
Abraham Janssens „Pan und Syrinx“, ein Ölgemälde von 1618 bis 1619 liefert
ein weiteres Beispiel für Objektivierung. Diese Ölmalerei ist ebenfalls in der
Nahansicht gehalten und in der dargestellten Szene stehen der Gewaltakt und
die Metamorphose kurz bevor. Auch hier herrscht eine sehr enge
Bildkomposition, speziell die Nähe der nackten Körper ist aufdringlich. Die
geschwungenen, hellen Flächen der Körper von Syrinx und Pan kontrastieren
mit den geraden, horizontalen und dunklen Linien des Schilfs. Der sehr
naturnahe Farbton des Bildes wird durch ein rotes Tuch durchbrochen.
Susann:
Dies rote Frabe kann dabei als Symbolfarbe für Leidenschaft, Eroberungswille,
und Tatendrang gedeutet werden.
Zudem wird Wieder einmal ein Blickkontakt zum Betrachter durch Pan
hergestellt. Besonders sein schelmisches und lüsternes Grinsen verdeutlicht
seine Absicht. Ein Blickkontakt zwischen Pan und Syrinx ist dagegen erneut
nicht vorhanden.
Desiree:
Syrinx wird sogar nur von ihrer Kehrseite gezeigt. Ihr Körper, vor allem ihr
Vorzüge, werden dadurch besonders betont. Hierbei wird dem Betrachter sogar
ein erotisiertes Schönheitsideal dargeboten, nach dem kunsthistorischen
Vorbild der Venus Medici, der schamhaften Venus. Der rote Stoff der den
Körper leicht verhüllt wirkt wie eine schmuckvolle Verpackung, die den
Körper anreizend betont.
Susann:
Diese Darstellung kann von Betrachtern auch als Objektivierung und demnach
als Entwürdigung der Frau gesehen werden, denn durch den verwehrten
Blickkontakt zum Betrachter verliert die Nymphe jedwege Bezugs- und
Stellungnahme, denn ihr wird sowohl durch die enge Bildkomposition als auch
die nackte Rückenansicht jegliche Subjektivität, Autonomie und Souveränität
abgesprochen.
Zu dem zuvor Erwähnten muss jedoch ergänzt werden, dass diese erotische
Bildproduktion der Renaissance, von damaligen wie aktuellen Kunsthisto-
rikern auch schlicht als Ausdruck der künstlerischen Epoche und der
Fertigkeiten des Künstlers verstanden wurde und eine solche kunsthistorische
Kontextualisierung hierbei durchaus mit in Erwägung gezogen werden sollte.
Was die moderne, invektive Wertung deswegen natürlich nicht unerheblich macht.
Desiree:
Die zweite Metamorphose, welche wir uns nun näher anschauen, ist die von
Callisto, eine Gefährtin Dianas, die ebenfalls ewige Jungfräulichkeit
geschworen hat. Auch sie kommt von der Jagd, und wird dabei von Juppiter
erblickt. Dieser verwandelt sich in Diana und vergewaltigt Callisto. Als Diana
herausfindet, dass Callisto schwanger ist, verstößt sie sie daraufhin aus ihrem
Gefolge. Und damit nicht genug, ist auch noch Juno erzürnt über den Vorfall
und verwandelt Callisto in eine Bärin und tut ihren Frust daraufhin noch in
einer elaborierten Rede gegen Callisto kund.
In dieser Metamorphose haben wir es auch wieder mit Stereotypisierung,
Erotisierung und Objektivierung zu tun, doch viel gewichtiger ist hierbei, dass
es zusätzlich zur Verharmlosung der sexuellen Gewalt und der Stigmatisierung
Callistos kommt.
Susann:
(Lateinisches Zitat und Übersetzung vorlesen) heißt es bei Ovid und aus
heutiger Sicht ist diese Textstelle aus mehreren Gründen problematisch: Die
Vergewaltigung wird hierbei gleich auf zwei Weisen verharmlost: Zum einen,
indem sie nicht explizit sondern nur kurz mittels einer Metapher verdeutlicht
wird und zum anderen, weil diese Metapher des Kampfes und die Verwendung
von Wörtern die zum Wortfeld Krieg gehören, ein gängiger Topos der
Liebeselegie ist und dem erotischen Reiz, sprich der Erotisierung diente.
Außerdem kommt es hierbei insgesamt zur, für misogyne und pornografische
Darstellungen, typischen Hierarchisierung zwischen dominant und unter-
würfig, stark und schwach, zwischen Sieger und Beute und man nimmt der
Frau dadurch auch wieder ihre Subjektivität und Autonomie und stellt sie
insgesamt als stereotypisch wehrloses, schwächeres Geschlecht dar.
Desiree:
Betrachten wir im Folgenden die Konsequenzen der Vergewaltigung für
Callisto, handelt es sich hierbei aus heutiger Sicht um sehr offensichtliches
victim blaming, also die Schuldzuweisung für sexuelle Gewalt an das Opfer,
wodurch das Klima einer rape culture unterstützt wird, d.h. eine Gesellschaft,
in der Vergewaltigung verharmlost und der Täter über das Opfer gestellt wird,
was wiederum inhärent misogyn ist.
Mit victim blaming wird versucht Frauen zurechtzuweisen und sie in ihren
vom Patriarchat zugeteilten Rollen zu halten. Und dabei fungieren Frauen auch
selbst als die Zurecht- und Schuldzuweiser, denn sie haben die patriarchalen
Werte so verinnerlicht, dass sie selbst meinen, sie müssten andere Frauen oder
sich selbst für ihr nicht-normatives Verhalten kritisieren oder die Schuld
zuschieben, nachdem sie der vorgeschriebenen Rolle nicht gerecht geworden
sind und dafür bestraft wurden. Dieses Phänomen bezeichnet man auch als
verinnerlichte Misogynie.
Susann:
In Ovids Metamorphosen schiebt Callisto bzw. der Erzähler ihr selbst die
Schuld an der Vergewaltigung zu: Es wird als Scham und Verbrechen (culpa,
crimen, pudor) angesehen, doch anstatt Zeus zur Verantwortung zu ziehen,
wird Callisto bestraft. Zunächst von Diana, welche sie als verunreinigt darstellt
(I, ne sacros pollue fontes) und durch das entreißen der Kleider sowie das
Verstoßen aus ihrem Kreis zusätzlich herabsetzt (vestis ademptis, iussit
secedere). Und im Folgenden kommt auch noch Juno hinzu, welche sie als die
Ehebrecherin und Nebenbuhlerin (adultera, paelex, inportuna) betitelt und das
Ganze so darstellt, als hätte Callisto sich Juppiter gewollt hingegeben (forma,
qua places) und die Vergewaltigung gewollt, um Juno zu schaden und zu
demütigen (ut fecunda fores, honoratus stellas - stupri mercede, mea vulnera,
laesae/laedere, offensam).
Desiree:
Die beiden Beispiele, die wir gerade präsentiert haben, sind nur einige von
vielen, die sich allein in den Metamorphosen finden und kritisch betrachten
lassen und im Angesicht unserer Analyse als auch der Forschungsergebnisse
von u.a. Katharina Wesselmann und Amy Richlin, müssen wir nun also
abwägen, wie wir mit diesen Texten und Bildern weiterhin verfahren wollen.
Susann:
Es kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Metamorphosen und ihre
bildlichen Darstellungen insgesamt immer ein Werk ihrer Zeit bleiben werden,
in der nun einmal ein völlig anderes Rollenverständnis vorherrschte. Dadurch
bieten sie tatsächlich eine hilfreiche, historische Quelle für das Verständnis
früherer Gesellschaftsformen und -normen.
Desiree:
Des Weiteren können wir ebenfalls nicht wissen, welche Intention Autor und
Maler jeweils tatsächlich verfolgten: Sind die hier dargestellten Stereotype, die
Rollenmuster und die Stigmatisierung von Frauen für sie wirklich einfach
Normalität gewesen? Oder wollten sie vielleicht sogar Kritik daran üben und
tatsächlich auf diese Weise das Leid der Frauen darstellen und für den Leser
und Betrachter erfahrbarer machen?
Susann:
Da keine Kommentare hinterlassen wurden, bleibt es letztendlich stets eine
reine Interpetationssache, die dem Leser und Betrachter überlassen ist und
somit stark von den eigenen Werten und Erfahrungen und der Gesellschaft
abhängig ist, in der man lebt und diese Texte und die dazugehörigen Bilder
betrachtet.
Desiree:
Dahingehend müssen diese Phänomene auch immer auf zwei Ebenen
betrachtet werden: Man muss beachten, dass Werke wie die Metamorphosen
und die entsprechenden Bilder damals nicht für ein öffentliches, breites
Publikum ausgelegt waren, sondern nur in Privatsammlungen kleiner, elitärer,
männlicher Kreise rezipiert und tradiert wurden. Das heißt es wurde nur ein
bestimmer Input und eine bestimmte Betrachtungsweise, beruhend auf einem
gleichen Wissensstand und Kulturhintergund, an diese Medien herangetragen.
Susann:
Heutzutage, wo die Öffentlichkeit nun allerdings einen unbeschränkten Zugriff
auf diese Werke und Bilder hat und global vernetzt ist, ist natürlich auch der
Argumentationspool größer geworden. Nun können sich diverse Menschen,
mehrperspektivisch zu diesen äußern, besonders auch die Personen, die sich
selbst durch etwaige Darstellungen angegriffen fühlen, und diese können nun
endlich ihre Kritik äußern und auf problematische Darstellungen aufmerksam
machen.
Desiree:
Zudem hat sich auch die Rezeptionsästhetik gewandelt, d.h. welche Fragen an
einen Text herangetragen werden und ob dieser nur textimmanent analysiert
wird. Diese Werke und Bilder wurden damals in der Forschung schlicht von
sozialen und kulturellen Gesichtspunkten abgeschirmt, um den damaligen
wissenschaftlichen und künstlerischen Standards gerecht zu werden, und was
wir heute als problematisch empfinden, blieb in der zeitgeössischen Gesinnung
schlichtweg unhinterfragt.
Susann:
Dies bedeutet im Umkehrschluss nun also, dass die zeitgenössische Lebens-
und Denkweise, sowie die Sicht auf Frauen und Erotik, welche in diesen
Bildern und Texten vermittelt wird, insgesamt erst einmal als unbeabsichtig
invektiv zu lesen sind.
Desiree:
Außerdem sind gerade die Metamorphosen ein Werk, welches auch einen
maßgeblichen Einfluss auf andere Autoren und, wir wir auch zeigen konnten,
Künstler hatte und durch seine Komplexität in Inhalt und Gestaltung,
besonders im Hinblick auf historisches und kulturell tradiertes Wissen nicht
einfach nur auf eventuell problematische, Frauen degradierende Textstellen
reduziert werden kann.
Das heißt aber wiederum nicht, dass Ovids Metamorphosen und die
korrespondierenden Bilder dadurch einfach als „legale Fiktion“ akzeptiert
werden und ihnen als kulturelles Gut weiterhin ein Sonderrecht auf
Erhabenheit gegenüber Invektivität und Kritik zugesprochen werden sollte.
Denn gleichzeitig müssen wir beachten, dass gerade solche kulturellen
Geschlechterrollen ja hauptsächlich medial konstruiert wurden und werden,
was besonders problematisch ist, wenn wir uns vor Augen halten, dass
weltweit immer noch für Geschlechtergleichberechtigung und gegen solche
archaischen Vorstellungen gekämpft wird.
Desiree:
Zumal es auch die Befürchtung gibt, dass die despektierlichen und lüsternen
Darstellungen in den Bildern und Texten durchaus Einfluss auf
Heranwachsende haben könnten, und sich Leser und Beobachter natürlich
auch weiterhin durch diese gekränkt oder entwürdigt fühlen.
Was bedeutet dies nun also für den Altsprachen- und Kunstunterricht?
Susann:
Ja, diese Texte und Bilder schultern die Last von zeitlosen und unangenehmen
Themen, doch trägt letztendlich nicht das schriftliche oder bildliche Objekt die
Verantwortung des Umgangs, sondern die Verfasser – und da diese nicht mehr
leben – besonders das Publikum.
Insgesamt sind wir nun also zu der Ansicht gekommen, dass die
Metamorphosen und etwaige, heute problematische bildlische Darstellungen
dieser, sowie andere kritische Medien keinesfalls zensiert, aus dem Curriculum
gestrichen geschweige denn verboten werden sollten. Denn Ignoranz ist
hierbei keine Lösung.
Desiree:
Ein Beispiel für einen Kompromiss im Umgang mit solchen problematischen
Medien bietet z.B. die Zensur-Debatte in der amerikanischen Kunstwelt aud
dem Jahr 2017. Dort foderte die New Yorker Unternehmerin Mia Merrill das
Metropolitan Museum dazu auf, das Gemälde Thérèse Dreaming (1938) des
französischen Malers Balthus aus seiner Dauerausstellung zu entfernen oder es
zumindest mit einem neuen Begleittext zu versehen. Mehr als 11.000
Menschen unterstützten damals die Aufforderung, als auch die Vorwurf der
Verherrlichung der Objektivierung von Frauen und Sexualisierung von jungen
Mädchen.
Susann:
Für die Metamorphosen und ihre korrespondierenden Bilder sowie andere
kanonische Texte heißt dies also, sie müssen zukünftig weiter eine revidierte
und zeitgemäße Rezeption erfahren und dürfen nicht einfach unreflektiert
tradiert werden. Im Unterricht muss zukünftig eine umfassendere
Kontextualisierung erfolgen und anstatt dabei nur das Harmlose, Idealisierte in
den Fokus zu rücken und das Kritische zu umgehen, müssen gerade dieDesiree:
problematischen Erzählungen und Darstellungen wie z.B. die von Callisto und
Syrinx nun stärkere Zuwendung erfahren, sodass daran deutlich gemacht wird,
was Misogynie bedeutet und beinhaltet und, wie man sie effektiv bekämpft. So
können diese Werke letztendlich sogar einen positiven Beitrag leisten.
Desiree:
Letztendlich darf man nicht vergessen, dass man bei einer Auseinandersetzung
mit Geschichte und ihren tradierten Kulturgütern, immer so objektiv wie
möglich vorgehen sollte, da eine Verfälschung oder auch die Unterlassung der
Thematisierung dieser, problematisch für die Gegenwart und die Zukunft ist
und dies auch entgegen unserem Lehrauftrag stehen würde. Kurz gesagt: Wir
brauchen gerade eine solche kritische Auseinandersetzung mit historischen
Werken und ihren veralteten, problematischen Inhalten, um die Gegenwart und
Zukunft letztendlich (besser) formen zu können.