Forschung
Forschungslinie 1: Kontrastive Polysemie-Analysen
Es ist ein Gemeinplatz, dass sich Sprachen bei der Verteilung der Bedeutungen verwandter polysemer Lexeme stark unterscheiden. So kann (sp.) paso auch ‚Gebirgspass‘ bedeuten, was für (frz.) pas nicht gilt. Andererseits bedeutet (sp.) estilo genau wie (frz.) style nicht nur ‚Kunststil‘, sondern auch ‚Handlungsstil‘ oder ‚Lebensstil‘. Angesichts solcher Beobachtungen darf man sich fragen, ob polyseme Lexeme zweier oder mehrerer Sprachen, die die gleiche Grundbedeutung aufweisen, sich in den weiteren Bedeutungen eher gleichen oder eher unterschiedlich sind.
Erste Untersuchungen im Anschluss an eine kleine Studie von 2008 hatten darauf hingedeutet, dass sich die Polysemie-Konfigurationen von Lexemen mit gleicher Grundbedeutung im Spanischen, Französischen und Deutschen tendenziell in mehr Zweigen decken, als dass sie sich unterscheiden. Dieser Befund stünde im Gegensatz zu der oben angegebenen, weit verbreiteten Meinung, wonach Polysemie-Konfigurationen sich viel öfter unterscheiden als sich zu gleichen. Bei größerer Abstraktion der Bedeutungsbeschreibungen allerdings scheinen die interlingualen Abweichungen dann doch deutlicher hervorzutreten. Schon lange hat die Linguistik ja darauf aufmerksam gemacht, dass die lexikographischen Beschreibungen sprachwissenschaftlich aufgearbeitet und kritisch beurteilt werden müssen. Die Auseinandersetzungen um den Polysemie-Begriff innerhalb der Semantik münden nicht selten in Forderungen nach einer Reduktion der lexikographisch praktizierten Bedeutungsvielfalt – etwa indem man vorhersehbare Metonymie-Cluster zusammenfasst – oder gar in die Aufforderung, den Polysemie-Begriff überhaupt zu Gunsten der Annahme durchgängiger Monosemie aufzugeben. Die theoretische Ausgangslage für kontrastive Polysemie-Analysen ist also weniger günstig, als es sich von den lexikographischen Beschreibungen her darstellt. Hinzu kommt das deskriptiv-empirische Problem, dass die Beschreibungen in unterschiedlichen Wörterbüchern nicht identisch sind. Bevor in großem Maße kontrastive Analysen unternommen werden können, die den Ansprüchen der aktuellen Polysemie-Diskussion standhalten, bedarf es einer theoretisch-methodischen Absicherung durch verschiedene Vorüberlegungen.
Die vorliegende Forschungslinie greift diese Herausforderung auf und unternimmt es, entsprechende Instrumente zu entwickeln und auszuprobieren. Dass Polysemie eine Realität ist, wird durch eine Argumentation belegt, die zentrale Ansätze und Konzepte kognitiver Semantik aufgreift. Dabei wird eine differenzierte Einstufung der Verzweigungen einer Polysemie-Konfiguration angestrebt, die es erlauben würde, Unterschiede zu gewichten. Dies sollte letztendlich dazu führen, dass man versteht, dass in einer bestimmten Hinsicht die Behauptung gestützt werden kann, wonach Polysemien von Sprachen des gleichen Kulturkreises eher unterschiedlich zueinander gelagert sind, in einer anderen Hinsicht aber die Behauptung unterstützt wird, dass sie sich auch als eher ähnlich zueinander zeigen können. Außerdem wird eine Reihe von Kriterien herausgebildet, die es besser begründbar machen sollen, wie die Bedeutungssphäre, die einem Wort zugeordnet ist – ihr valeur im Sinne Saussures – in Teilbedeutungen aufzuspalten ist. Im summa wird also versucht, die modernen Aufweichungen und Infragestellungen des Polysemie-Begriffs gerade zu nutzen, um auf differenzierte und bedachte Weise vorzugehen, wenn man Polysemie-Kontraste herausarbeitet. Dies soll, nach der Ausarbeitung der theoretisch-methodischen Basis, an einem kleinen Korpus von 30 Simplicia und Derivata des Spanischen, Französischen und Deutschen mit der gleichen Grundbedeutung erprobt werden, welche repräsentativ für eine größere Zahl an Vergleichen stehen, die bisher im Rahmen des Projektes unternommen wurden.
Aktuelle Publikationen zur Forschungslinie 1
(in Vorbereitung) Monographie Polysemiekontraste Spanisch-Französisch-Deutsch
Forschungslinie 2: Untersuchungen zur Integrativ-Dynamischen Grammatik (IDG)
Im Jahr 2016 wurde von mir ein Grammatiktyp vorgeschlagen, der sich, innerhalb eines Spektrums moderner Grammatiktypen, als im weitesten Sinne der KxG-Familie zugehörig auffassen lässt. Wie die KxG, so begreift die IDG Sätze als aus ineinander greifenden Konstruktionen zusammengesetzt, wie bei den KxG wird von einer engen Durchdringung von Lexikon und Grammatik ausgegangen, (wobei sich die IDG allerdings nicht direkt in eine Chomsky’sche Tradition einreiht, sondern sich vielmehr dem von Harris angeregten lexique-grammaire von Maurice und Gaston Gross sowie Longacres Art der Kombination textlinguistischer und valenzgrammatischer Beschreibung verdankt). Der komplexe Aufbau der Integrativ-Dynamischen Grammatik kann nur auf vergleichsweise vielen Seiten dargelegt werden, deswegen mag es hier genügen, die IDG von den KxG aus zu charakterisieren, nämlich als eine Grammatik, die sich weniger auf die Herausarbeitung einzelner Konstruktionen auf der Basis von zerstreutem empirischen Material konzentriert als vielmehr darauf, zu zeigen, wie Konstruktionen in Reihe, bei der Beschreibung größerer Dialog- und Textabschnitte, angewendet werden und wie sie sich auf die Bildung einer resultierenden, inhaltlichen Zusammenfassung dieser Abschnitte im mentalen Modell der Kommunikanten beziehen lassen.
Nach Klärung einiger problematischer Punkte der ursprünglichen Theorie soll diese in der nächsten Phase, an Hand von Abschnitts-Analysen mit einem Korpus aus Konversationen und narrativen Kurztexten des Französischen, in ihrem Wert und ihrer Funktionsweise demonstriert werden. Diese Analysen sollen von zwei Theorie-Komponenten umgeben sein: vorgeschalteten Listen von französischen Konstruktionen, die sich je funktional einheitlich auf Globalstrukturen von Texten bzw. Dialogen projizieren lassen (Passformen aus dem sprachlichen Inventar des Französischen), und, nachgeschaltet, einem Vergleich zwischen den KxG und der IDG.
Aktuelle Publikationen zur Forschungslinie 2
(in Vorbereitung) Monographie Analysen mit der IDG
Forschungslinie 3: Historische Textsortennetze und Sprachwandel
Zu den zentralen Tendenzen sprachgeschichtlicher Forschung gehören – neben der Aufarbeitung der Fachgeschichte – die historische Varietätenlinguistik und die historische Pragmatik als Differenzierungen einer vorher eher blockartigen Beschreibung der Schriftsprachengeschichte. Insbesondere die historische Pragmatik hat durch Beschäftigung mit imitierter und normativ-didaktisch vermittelter mündlicher Sprache auch die Möglichkeiten einer Rekonstruktion dialogischer Anteile der Sprachentwicklung aufgezeigt. Dabei wurde in jüngerer Zeit mehrfach darauf hingewiesen, dass historische Dialekte und Soziolekte sowie der engere Umkreis einer bestimmten Diskurstradition einerseits Orte kreativer Erneuerung einer Sprache sein können (Schaffung neuer regulata im Sinne Peter Kochs), andererseits aber auch Grenzen für die Verbreitung von Innovationen darstellen (regulans im Sinne Kochs).
Eine besondere Rolle könnten in diesem Zusammenhang Textsortennetze spielen, die etwa ein Geflecht von Institutionen wie die juristischen Institutionen des französischen Mittelalters durchziehen, und intra-institutionelle sowie nach außen gerichtete Kommunikationssituationen konstituieren, in denen Neuerungen aufkommen oder übernommen werden können. Die, vor allem von germanistischer Seite vorangetriebene Untersuchung von Netzen moderner Textsorten in verschiedenen Lebensbereichen lässt sich hier als Vorbild auswerten. Wo Texttypen-Ordnungen nicht taxonomisch, sondern als dichtes Feld kontiger Kommunikate angelegt sind, wird außerdem sichtbar, welche Dialoge sich zur Vermittlung zwischen diesen Texten denken lassen und welche Dialoge diese Texte nach außen hin zeitigen könnten. Die Untersuchung des regulans, also der Bedingungen der Verbreitung von Innovationen, und die Rekonstruktion auslösender Faktoren für neue regulata würde durch eine Berücksichtigung von Netzen vergangener Kommunikate deutlich verbessert, weil diese Aufgaben auf konkreteren Vorgaben aufbauen könnten. Diesem Ziel widmet sich die dritte Forschungslinie, die sich zunächst auf die Analyse juristischer Textsorten des romanischen Mittelalters (Frankreich, Spanien) beschränken soll.
Aktuelle Publikationen zur Forschungslinie 3
(im Druck) „Zur Vernetzung zwischen Diskurstraditionen im Rechtswesen des französischen Mittelalters“. In: Böhmer, Heiner/Schmidt-Riese, Roland (eds.) [2022]: Kommunikation, Text und Sprachwandel im romanischen Mittelalter. Frankfurt a.M.: Lang, 207-248.
Mittelfristig sollen die Forschungslinien 2 und 3 zu dem allgemeineren thematischen Rahmen „Kommunikation in der Romania des 21. Jahrhunderts“ zusammenfließen, in dem unter anderem der aktuelle Sprachwandel unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit, digitaler Kommunikation und erhöhter Bildlichkeit untersucht werden soll.