24.06.2024
Streitgespräche entlang der Elbe: Lehramtsstudierende der TU Dresden diskutieren umstrittene Themen
Zwölf Studierende, ein Prof, unterwegs entlang der Elbe mit vielen kritischen Themen im Gepäck. Sie wollten prüfen, wie sprachlos wir tatsächlich in schwierigen Situationen sind. Sind die Meinungsgräben unüberwindbar tief oder können wir anhand einfacher Spielregeln lernen, wieder ins Gespräch zu kommen?
Ein halbes Jahr lang, seit Beginn des Wintersemesters 2023, hatten sich die Lehramtsstudierenden und ihr Dozent, Markus Tiedemann, Professor für Didaktik der Philosophie und für Ethik an der TU Dresden, auf dieses ungewöhnliche Experiment vorbereitet. Dafür haben die angehenden Ethik- und Philosophielehrer:innen einerseits gelernt, wie ein guter Streit funktionieren kann und welche Deradikalisierungstechniken es gibt. Andererseits mussten die Themenabende auch inhaltlich gut vorbereitet werden: Die Studierenden haben sich fachphilosophisch und politisch mit Migration, Klimawandel und der Theorie des ‚gerechten Krieges‘ auseinandergesetzt, Facharbeiten zu den Themen verfasst und ständig die aktuellen Entwicklungen beobachtet.
Vom 3. bis 7. Juni machten sie dann die Probe aufs Exempel. In Kanus paddelte die Seminargruppe entlang der Elbe von Königsstein nach Torgau mit Zwischenhalt in Pirna, Dresden, Meißen und Riesa. Den Gemeinden und ihren Bürger:innen machten sie ein Gesprächsangebot: eine offene Diskussion zu je einem der umstrittenen Themen Migration, Klimapolitik und Krieg. Den Auftakt der Exkursion begleitete der MDR für den Sachsenspiegel.
Die Gesprächsangebote wurden gut angenommen und die Diskussionen verliefen erwartungsgemäß kontrovers bis hitzig, blieben aber friedlich – auch dank der Gesprächsregeln, die die Studierenden vorher aufgestellt haben. So mussten alle Diskussionteilnehmer:innen sachlich bleiben, andere ausreden lassen und nicht übergriffig werden. Die „Gesprächsregelwächter“ wurden aus dem Publikum rekrutiert, mussten aber nicht übermäßig tätig werden.
Markus Tiedemann und seine Studierenden verfolgen mit ihrem Ansatz der offenen Diskussion ein langfristiges Ziel: „Wir wollen wieder lernen zu streiten, und zwar mit Argumenten statt auf Basis von Emotionen.“ Besonders wichtig dafür ist die Urteilskraft, so Tiedemann. Er erklärt: „Sie haben dann Urteilskraft, wenn Sie in der Lage sind, Argumente zu würdigen, die nicht ihrer eigenen Position entsprechen. Das ist auch das Kernmoment der Deradikalisierung.“ Doch wie erfolgreich ist dieser Ansatz bei den scheinbar verhärteten Fronten in der sächsischen Gesellschaft?
„Tatsächlich halte ich das Seminar im Sinne der Ausbildung der angehenden Lehrer:innen für einen vollen Erfolg“, sagt Markus Tiedemann. „Im Sinne der gesellschaftlichen Wirkung hätten wir uns noch mehr Besucher:innen gewünscht, aber es sind durchaus Personen nachdenklich geworden und haben Gefallen daran gefunden, auch die Argumente der Gegenseite zu würdigen. Natürlich haben wir nicht alle demokratisch bekehrt, aber wir haben auf jeden Fall Menschen erreichen können.“
Die Ergebnisse der Wahlen am 9. Juni stimmen den Professor dennoch pessimistisch: „Angesichts der aktuellen Lage müssten wir eigentlich jede Woche aus allen Universitäten Deutschlands so eine Gruppe losschicken, ob nun im Kanu, zu Fuß oder mit dem Fahrrad.“
Mit der Paddeltour ist das Projekt „Querverbindungen“ noch nicht an seinem Ende angelangt: Die Studierenden haben die Diskussionsabende auch wissenschaftlich begleitet: Fragebögen und Interviews mit den Besucher:innen vor Ort werden sie im kommenden Wintersemester auswerten und die so erhobenen Daten einem Projekt zur Verfügung stellen, das aktuell daran arbeitet, die Pflege von Streitkultur in den sächsischen Lehrplan einzubinden. Und natürlich werden die angehenden Lehrer:innen das, was sie im Rahmen des Projekts gelernt haben, künftig ihren Schüler:innen beibringen und vielleicht auch deren Eltern.
Das Projekt "Querverbindungen" wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Freistaat Sachsen im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern sowie der Gesellschaft von Freunden und Förderern (GFF) der TU Dresden.
Kontakt:
Prof. Dr. Markus Tiedemann
Professor für Didaktik der Philosophie und für Ethik
TU Dresden
+49 351 463-32576