Die Dresdner Schule der Verkehrswissenschaften - Zum 110. Geburtstag des Nestors der Verkehrsströmungslehre Karl Gerhart Potthoff / Prof. Günter H. Hertel übergab Vorlass an Universitätsarchiv
Prof. Günter H. Hertel
Das Gebäude der Fakultät Verkehrswissenschaften »Friedrich List« der Technischen Universität Dresden trägt den Ehrennamen »Potthoff-Bau«. Die Dresdner Schule der Verkehrswissenschaften trägt den Ruf dieses Wissenschaftlers weit über die Elbestadt hinaus.
Karl Gerhart Potthoff wurde noch in das zweite deutsche Kaiserreich hineingeboren, sieht als Heranwachsender bereits die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, erlebt diesen 1. Weltkrieg und seine Folgen in anschließender Hungersnot, Inflation, politischen Straßenkämpfen, Zerfall der Sitten und den Aufstieg des Nationalismus. Aber er lässt sich weder im nationalsozialistischen Reich noch in 4 .-jähriger sowjetischer Kriegsgefangenschaft korrumpieren. Er bleibt zeitlebens der Bürger und Wissenschaftler Gerhart Potthoff – auch in der DDR wird er nicht »Genosse Potthoff«.
Potthoff entscheidet sich nach dem Studium (1927–1932 Bauingenieurwesen an der TH Dresden) zunächst nicht für eine wissenschaftliche Laufbahn, sondern für die raue Praxis der Eisenbahn. So lebt er vor, was er später von seinen Mitarbeitern und Schülern erwartet und in Studienprogramme gießt: In den Jahren 1939–1941 ist er als Leiter des Reichsbahn-Betriebsamts Böhmisch Leipa (Česka Lipa) tätig; kriegsbedingt wird er 1941–1945 Dezernent in der Reichsbahndirektion Oppeln/Oberschlesien. Erstaunlich in Zeit und Komplexität: Im Zeitraum 1942 - 1944 entstehen 14 wissenschaftliche Publikationen (nach eigenhändiger Publikationsliste) – ein bemerkenswertes Ergebnis in den drei letzten Kriegsjahren!
Obwohl nicht im militärischen Dienst, kommt Potthoff – weil in Eisenbahner- Uniform – in sowjetische Kriegsgefangenschaft.
Potthoff bleibt auf Lebenszeit »seiner« im Jahr 1952 gegründeten Hochschule für Verkehrswesen »Friedrich List« Dresden verbunden und prägt sie. Er verantwortet als langjähriger Dekan die Fakultät Verkehrstechnik (1952–1956 und 1962–1966), gründet den breiter aufgestellten Lehr- und Forschungsverbund von Lehrstühlen und Instituten unter dem programmatischen, fast schon visionären Schirm »Technische Verkehrskybernetik« und bleibt auch nach seiner Emeritierung im Jahre 1973 ein beliebter, agiler und stets präsenter Hochschullehrer bis zu seinem Ableben im September des Jahres 1989. Er hätte sicherlich die Gründung der neuen Fakultät für Verkehrswissenschaften »Friedrich List« an der TU Dresden im Jahre 1992 begrüßt.
Potthoffs Gedanken werden weiterentwickelt
Unter maßgeblichem Einfluss Potthoffs entwickelte sich die Eisenbahn- und Verkehrsbetriebswissenschaft von einer deskriptiven (deterministischen, beobachtenden, die Verkehrsvorgänge durchleuchtenden) zu einer modellbasierten Disziplin, deren geistiger Vater wohl Philip M. Morse war.
Nach Potthoffs Emeritierung begann eine Renaissance des Determinismus. Heute erleben Potthoffs Gedanken allerorten ihre Weiterentwicklung: In Aachen mit Prof. Nießen, in Braunschweig mit Prof. Pachl, in Darmstadt mit Prof. Oetting, in Stuttgart mit Prof. Martin (Pachl und Martin sind Schüler des Autors).
Was von Potthoff auch bleibt, ist sein akademisches Ethos. Es ist ein ausgesprochen human-zentriertes. Studenten, Mitarbeiter, Kollegen sind ihm sowohl Familie als auch zu Führende. Individuell und persönlich seine Kommunikation; begreifbar und anfassbar seine akademische Lehre. Ein Blick in den »Klassiker« Potthoff tut auch heute not und gut!
Dresdner »Verkehrsabsolventen « sind begehrt
Bereits unmittelbar nach 1989 konnte man beobachten, ob und wie Absolventen der HfV im Wettbewerb mit ihren Kollegen aus den klassischen Studiengängen des Bau-, Elektro-, Maschinenbau- Ingenieurs der alten Bundesrepublik um begehrte Arbeitsplätze bei den damals noch beiden deutschen Bahnen (DR und DB) sich arrangieren werden. Ekkehard Wendler, damals frisch gebackener Absolvent der Dresdner HfV, später Professor in Aachen, schrieb am 20.01.1992, dass derzeit ein Kampf um die »Kompetenzen« der HfV-Absolventen tobe, und er rät mir (als damaligen Prorektor der HfV), die Absolventen der Technischen Verkehrskybernetik als Bauingenieure zu bezeichnen, damit sie kompatibel würden. Wir haben dies zum Glück nicht machen müssen. Im Gegenteil.
Prof. Jörn Pachl schrieb am 22.12.2017: »Sie erwähnten die erstaunliche Zahl an Universitätslehrstühlen, die heute mit Leuten besetzt sind, die aus der von Potthoff begründeten ›Dresdner Schule der Verkehrswissenschaft‹ hervorgingen. […] Es gibt wohl kaum ein anderes Beispiel aus der jüngeren Wissenschaft, dass ein einzelner Professor mit der von ihm begründeten ›Dresdner Schule‹ ein Lehr- und Forschungsgebiet über die politischen Systemgrenzen hinweg derart nachhaltig prägte. Dass ich heute nicht nur Hochschullehrer, sondern seit über zehn Jahren Studiendekan eines Verkehrsstudiengangs bin, der seit diesem Jahr übrigens auch an der TU Braunschweig die Bezeichnung Verkehrsingenieurwesen trägt, wäre ohne Potthoff nie möglich geworden [...].«
Gerhart Potthoff – ein Überlebenskünstler?
Im Zusammenhang mit der Aussendung der Publikation über Potthoff von 2017 (siehe Infotext unten) erhielt der Autor nur eine einzige kritische Resonanz: »Er (der Artikel) zeigt die sehr interessante Biografie eines Wissenschaftlers, dem es offenbar gelungen ist, über mehrere Systemwechsel hinweg fast ungebrochen Karriere zu machen. Da würde man gerne mehr wissen.« Der den Sonderdruck an das Archiv einer ausländischen Universität vermittelnde österreichische Professor zitiert genüsslich seinen Vater (ca. 1890–1953). Um 1950 habe er gesagt: »Von 1934 bis 1938 bin ich nicht gesessen, 1938 bis 45 hab' ich überlebt, und nach 1945 haben's mich auch nicht eingesperrt. Ich muss einen miesen Charakter haben.«
Persönlicher Dank
Dass uns der wissenschaftliche Zugang zu Potthoffs Werk, Leben und Ethos heute so unkompliziert möglich ist, verdanken wir der sorgfältigen Pflege seines Nachlasses im Universitätsarchiv der TU Dresden, besonders Frau Angela Buchwald, Diplomlehrerin und Facharchivarin.
(UJ 09/2018)