Die Freiheit des Wortes - Ein Zeitzeugenbericht zu den Geschehnissen des Jahres 1968 an der TU Dresden
Peter Ziesecke
In diesem Jahr, am 21. August 2018, jährt sich zum 50. Mal der Jahrestag des Einmarsches von Truppen des Warschauer Vertrages in die Tschechoslowakei. Das Volk der ČSSR hatte es vorher trotz Androhung von Gewalt geschafft, eine eigene demokratische Auslegung der sozialistischen Idee unter Führung des Vorsitzenden der KPČ, Alexander Dubček, in die Tat umzusetzen. Diese Umwälzung, auch »Prager Frühling« genannt, drohte das gesamte sozialistische Lager in Aufruhr zu versetzen. Den Machthabern des Ostblocks, die DDR inbegriffen, war dieser Wille nach Freiheit und Selbstbestimmung ein Dorn im Auge. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages auf Grund eines angeblichen Hilfeersuchens der KPČ war nur noch Formsache. In den frühen Morgenstunden des 21. August 1968 überschritten sie die Grenze und rückten auf Prag vor. Mutig stellten sich die Prager Bürger den Panzern entgegen. Sie hatten keine Chance. Über 60 Tote und Hunderte von Verletzten waren die traurige Bilanz dieser Tage.
Hier an dieser Stelle beginnt unsere persönliche Geschichte, die von drei Studenten der TU Dresden der Fachrichtung Verarbeitungsmaschinenbau, 9. Semester, eine Geschichte, die zutiefst unser Leben verändern sollte.
In uns waren Wut und Verzweiflung. Träume von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie wir uns diesen vorstellten, waren ausgeträumt. Und doch war da etwas in unserem Innern, das in irgendeiner Form nach Widerstand verlangte. Hatte ich doch selbst schon ein bisschen Übung seit meiner Aktion mitten im »Prager Frühling « nämlich zum Volksentscheid zur neuen Verfassung der DDR am 3. April 1968, wo ich ein zweiseitiges Flugblatt mit Forderungen nach Meinungsfreiheit, Mitbestimmung, Versammlungsfreiheit und Reisefreiheit verfasste und öffentlich machte.
Für uns Studenten entsprach das natürlich genau den Vorstellungen bezüglich eines deutschen Staates.
So wurde hitzig diskutiert, ohne Rücksicht darauf, dass vielleicht von der Stasi mitgehört wurde. Von der Idee beseelt, in der DDR ähnliche Verhältnisse zu schaffen, liefen unsere Schlussfolgerungen darauf hinaus, Partei für unsere tschechoslowakischen Freunde zu ergreifen.
Mir war klar, dass unsere Mittel nie ausreichen würden, um im tiefsten Winter dieser Diktatur Veränderungen herbeizuführen. Trotzdem wagten wir diesen Schritt und wollten zumindest mit Flugblättern auf die Verbrechen der Roten Armee hinweisen.
Nach heißer Diskussion über den Inhalt des Flugblattes einigten wir uns auf einen sehr schlichten Text, da wir keine Vervielfältigungsmöglichkeiten hatten. Das war unser Glück! Denn der von mir verfasste Text rief zum aktiven Widerstand auf. Das hätte katastrophale Folgen bei Festnahme durch die Stasi gehabt.
Am 23. August 1968 wurde ein Kinderdruckkasten gekauft, Stempel angefertigt und A-5-Blätter vorbereitet. Mit den einzelnen Stempeln stellten wir innerhalb weniger Stunden 1200 Flugblätter mit dem beigelegten Text her. In den späten Abendstunden um 22 Uhr und bei strömendem Regen begannen wir mit unserer Protestaktion.
Klaus E. und Peter H. nutzten ein Motorrad der Marke RT 125 zur Verteilung in den Außenbezirken, ich fuhr mit der Straßenbahn ins Zentrum.
In Telefonzellen, Briefkästen, Straßenbahnhaltestellen verteilten wir die Flugblätter und klebten sie in den Vororten und dem Zentrum an Schaufenster, weiterhin auf dem Postplatz, dem Neustädter Markt, Fučikplatz und legten sie in den Straßenbahnen ab.
Am Hauptbahnhof wollten wir uns wieder treffen. Dazu kam es leider nicht. Es war schon weit nach Mitternacht.
Leider nahm unsere Aktion ein böses Ende. Im Bereich unseres Studentenwohnheimes in der damaligen Christianstraße wurde ein Kommilitone von der Volkspolizei beim Verteilen erwischt. Die Festnahme erfolgte unmittelbar nach Durchsuchung seiner Aktentasche, in der nur noch wenige Flugblätter waren. Die Geschichte ist schnell zu Ende erzählt. Wir wurden alle drei von der Stasi festgenommen und Tag und Nacht verhört. Die U-Haft war furchtbar. Nach einem halben Jahr wurden wir vom 29. bis 31. Januar 1969 vor dem 1. Strafsenat des Bezirksgerichtes Dresden mit Staatsanwalt Zöllner und dem Oberrichter Müller unter Ausschluss der Öffentlichkeit verurteilt. Ich sollte fünf Jahre bekommen (Staatsfeindliche Hetze und Gruppenbildung).
In der Urteilsverkündung waren es immerhin noch drei Jahre und sechs Monate strenger Strafvollzug; ich kam nach Cottbus, in die »Rote Hölle« und landete nach einem Jahr im berühmt berüchtigten Lager X der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen.
Meine Freunde wurden zu zweieinhalb und zwei Jahren verurteilt. Sie wurden von der Bundesrepublik freigekauft; ich selbst verzichtete aus persönlichen, familiären Gründen darauf und nahm die Strafe an und blieb danach in der DDR, vielleicht auch, weil ich glaubte, dass irgendwann sich alles zum Guten wenden würde. Der Rest meiner Geschichte ist schnell erzählt, vieles muss unerwähnt bleiben.
Der Strafvollzug war barbarisch. Die Zelle mit 15 Insassen in 3-stöckigen Betten war eng…
Über den Gefängnisalltag mit Kriminellen und Schwerstverbrechern könnte ich ein ganzes Buch schreiben! Doch wozu, es ist vorbei. Diese Zeit hat mich jedenfalls geprägt und widerstandsfähig gemacht.
Meinem verstorbenen Institutsleiter Prof. Gottfried Tränkner hatte ich es schließlich zu verdanken, dass ich mein Studium an der TU Dresden mit vier Jahren Verspätung beenden konnte.
Jahre vergingen, ohne berufliche Aufstiegschancen zu haben. Würde man mich heute fragen, ob ich alles wieder so machen würde: Ich glaube, ja, aber ein wenig mehr nachdenken würde ich schon! Mein Traum von demokratischen Verhältnissen in einem vereinten Deutschland wurde schließlich Wirklichkeit.
Natürlich hätte ich mir mit unseren Flugblattaktionen mehr Erfolg gewünscht, schon damals gern das Tor in die Freiheit aufgestoßen. Es war wohl noch zu früh und wir waren zu schwach; jedoch war es ein Anfang.
Mit dem Mauerfall vom 9. November 1989 schufen wir endlich in einer friedlichen Revolution die Voraussetzungen dafür. Jetzt gilt es, den Kindern und Enkeln, unseren Nachkommen nahezubringen, wie wertvoll demokratische Verhältnisse trotz aller Schwächen sind und dass es sich lohnt, dafür zu leben und zu kämpfen. Noch Jahre danach habe ich vielen ehemaligen politisch Verfolgten geholfen, ihre Rechte und Rehabilitierung durchzusetzen.
(UJ 12/2018)