Ist es wirklich meine Aufgabe, mich um Beziehungen zu kümmern?
Bei aufmerksamer Lektüre des Fundus Inklusion - beispielsweise des Folgeabsatzes - kann Mensch nur zu der Erkenntnis gelangen, dass Beziehungsarbeit für gelingende Lern- und Entwicklungsprozesse unabdingbar ist. Zu dieser Erkenntnis ist auch Zeynep aus dem Fallbeispiel gelangt und hat daraus den Anspruch entwickelt, pädagogische Beziehungen zu ihren Lernenden aufzubauen.
Was bringt Beziehungsarbeit in Lehr-Lern-Kontexten?
Stabile pädagogische Beziehungen bringen ein Beziehungswissen mit sich (Diers 2016: 123 nach Lenz 2008: 689). Dieses Beziehungswissen schließt einerseits Informationen über die einzelnen Beziehungspartner*innen ein (Diers 2016: 123). Im Lernkontext kann es sich dabei beispielsweise um Informationen über vergangene und gegenwärtige Lebensumstände, Aneignungsvorlieben, Erwartungen an Lernthemen oder Lernbeziehungen, Interessen, Bedürfnisse usw. handeln (ebd.). Andererseits enthält das Beziehungswissen Informationen über das zwischenmenschliche Verhältnis der Beziehungspartner*innen und so beispielsweise über die Kontinuität oder das
Machtgefüge der Beziehung.
Das Beziehungswissen erleichtert es Lehrpersonen, die psychischen Grundbedürfnisse (Grawe 2004: 192-303) der einzelnen Lernenden zu berücksichtigen. So kann eine sichere und angstfreie Lernatmosphäre entstehen, die lernförderliche Emotionen begünstigt. Dies wird auch im Perspektivwechsel aus Lernendensicht deutlich. Lisa fühlt sich von der Lehrperson wahr- und ernstgenommen. Dadurch fühlt sie sich wohl und hat das Gefühl, dass es den anderen im Seminar ebenso geht. Sie bilden eine lernförderliche Gemeinschaft. Mehr zur Thematik Lernraumgestaltung erfahren sie bei den Fällen zum Thema Klimakrise.
Für Lisa bleibt die Lehrveranstaltung jedenfalls auch über das Veranstaltungsende hinaus so relevant, dass sie Freund*innen davon erzählt. Diesen ergeht es, abgeleitet aus ihren Reaktionen auf Lisas Erzählung, ganz anders mit ihren Veranstaltungen.
Beziehungsarbeit scheint in deren Veranstaltungen eine untergeordnete Rolle zu spielen. Constantin bringt die Wirkung dessen auf den Punkt: "Aus den Augen, aus dem Sinn." Mutmaßlich kann diese Aussage auch auf die Inhalte bezogen werden. Das verdeutlicht erneut, welch wichtige Rolle Lernbeziehungen und die damit einhergehenden Bindungen zwischen Lehrenden und Lernenden im Lern- und Entwicklungsprozess einnehmen (Prengel 2013a: 176 oder Hoffmann 2009: 303). Daher kann nur geraten werden, sich für Beziehungsaufbau und -pflege Zeit zu nehmen.
Ist das mit der Zeit wirklich ein Problem?
Das Problem, zu wenig Zeit für Beziehungsarbeit zu haben, ergibt sich aus den Strukturen des Lehrberufs. Auch in der Literatur wird vielfach darauf hingewiesen, dass Lehrkräfte mit ihren "zeitlich eng getakteten Tagesabläufe[n]" (Grams Davy 2017: 53) wenig Zeit für andere wichtige Aufgaben haben (ebd.: 50-53). Zu diesen Aufgaben zählt Grams Davy im schulischen Kontext Beziehungsarbeit mit Lernenden und Eltern, Schulentwicklung und Lehrer*innenkooperation (ebd.). An den Universitäten sowie in Fort- und Weiterbildung kann die Beziehung zu den Lernenden, das Qualitätsmanagement sowie die Kolleg*innenkooperation unter dem Zeitmangel leiden.
Wie kann Beziehungsarbeit in begrenzter Zeit gelingen?
Im Perspektivwechsel formuliert Lisa, dass die Beziehungsarbeit in der besprochenen Veranstaltung gut gelungen ist. Wie, weiß Lisa allerdings gar nicht so genau. Das zeigt, dass gelungene Beziehungsarbeit auch unauffällig und nebenbei stattfinden kann.
Jede Veranstaltung mit Warm Up- und Bindungsspielen zu beginnen, verteilt die für Beziehungsarbeit notwendige Zeit gleichmäßig auf alle Sitzungen. So wird stetig und wiederholt an den pädagogischen Beziehungen einer Lerngruppe gearbeitet. Dies trägt der Erkenntnis Rechnung, dass gelingende Bindungen und Beziehungen regelmäßige Bemühungen erfordern (z. B. Fischer 2008: 129ff oder Hölzel, Jugel 2019: 259). Zusätzlicher Vorteil von Warm Ups ist, dass das körperliche und gedankliche Ankommen aller Beteiligten begleitet und erleichtert wird.
Nicht zu vernachlässigen ist außerdem, dass durch die Beziehungsarbeit “leibliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklungen” (Prengel 2013b: 14) angestoßen werden. Die aufgewendete Zeit ist also nie lernfreie Zeit!
Im Übrigen lassen sich Lerninhalte auch anhand anerkennender und beziehungsförderlicher Methoden und Materialien vermitteln. Im Fundus Inklusion finden Sie noch mehr Fälle, die sich vor allem solchen Fragen der Aneignung widmen.