19.11.2024
Präzision von biologischen „Maschinen“ – Wissenschaftler erklären das regelmäßige Schlagen von Spermienschwänzen
Die Natur ist zufällig. Dennoch erscheinen viele natürliche Prozesse sehr präzise abzulaufen. Wie erreichen biologische Systeme diese Präzision? Forschende des B CUBE – Center for Molecular Bioengineering und des Exzellenzcluster Physik des Lebens (PoL) haben experimentell gezeigt, wie sich Tausende von unabhängig arbeitenden molekularen Motoren synchronisieren. Sie erzeugen ein regelmäßiges, koordiniertes Schlagen des Axonems – des maschinenartigen Kerns, der bewegliche Zellfortsätze (Zilien) wie den Spermienschwanz antreibt. Ihre Studie liefert Einblicke, wie biologische Systeme kollektive Dynamik nutzen, um präzise Bewegung zu erreichen. Die Ergebnisse wurden in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" veröffentlicht.
Spermienzellen sind winzige, effiziente Schwimmer. Sie nutzen ihre peitschenartigen Schwänze, um sich durch Flüssigkeit zu bewegen. Diese Schwänze werden von Tausenden von molekularen Motoren angetrieben. Sie müssen im Einklang arbeiten, um eine möglichst regelmäßige Bewegung zu erreichen. Aber wie koordinieren sich diese winzigen Motoren, die sich zufällig bewegen, um eine synchronisierte und kraftvolle Bewegung zu erzeugen? TU Dresden-Forscher, Dr. Veikko Geyer (Diez-Gruppe, B CUBE) und Prof. Benjamin Friedrich (PoL) haben ihre Expertise kombiniert, um diese Frage zu lösen.
Den verrauschten Schlag des Axonems verstehen
"Die molekularen Motoren, die für das Schlagen von Zilien – wie dem Spermienschwanz – verantwortlich sind, sind in einer speziellen Röhren-Struktur angeordnet, dem sogenannten Axonem", erklärt Dr. Geyer. "Der Aufbau des Axonems ist evolutionär konserviert, also in allen Lebewesen gleich – von einzelligen Organismen bis hin zum Menschen. Das erlaubt uns, das Axonem in einfacheren Organismen, wie der Grünalge, zu untersuchen, um Prinzipien der Zellbeweglichkeit für menschlichen Zellen zu verstehen."
Mit Hilfe von Hochgeschwindigkeitsmikroskopie, die 1.000 Bilder pro Sekunde aufnehmen kann, maß das Team präzise die Fluktuationen im Schlag reaktivierter Axoneme, die aus der Grünalge Chlamydomonas reinhardtii isoliert wurden. "Dieses zellfreie Modellsystem ermöglicht es uns, das Rauschen zu untersuchen, das ausschließlich von den molekularen Motoren im mechanischen System erzeugt wird", sagt Dr. Geyer.
Die Macht der gemeinsamen Bewegung
"Mathematische Modellierung ermöglicht es uns, die gemeinsame Dynamik vieler zusammenwirkender molekularen Motoren zu simulieren und Vorhersagen zu treffen", sagt Prof. Friedrich. Die von Prof. Friedrich erstellten Modelle sagten voraus, dass das Rauschen des Systems von der Anzahl der molekularen Motoren abhängen sollte. Mit zunehmender Anzahl aktiver Motoren würde das Rauschen abnehmen und das Schlagen des Schwanzes regelmäßiger werden.
Um ihre Hypothese zu testen, entwickelte das Team eine Methode, um die Anzahl der aktiven Motoren innerhalb eines Axonems zu reduzieren und die Auswirkungen auf das Schlagen zu beobachten. Ihre experimentellen Ergebnisse bestätigten die theoretischen Vorhersagen. Mehr Motoren führten zu besserer Koordination und weniger Rauschen. "Die Teamarbeit vieler Motoren erhöhte die Präzision des Schlags", sagt Dr. Geyer.
Molekularer Taktgeber in Aktion
Das Axonem enthält im Allgemeinen zwei Arten von Motoren: solche, die sich am äußeren Rand der Struktur befinden, und andere, die nach innen geneigt sind. "Wir haben eine Methode entwickelt, um entweder die inneren oder die äußeren Motoren schrittweise zu entfernen", sagt Dr. Geyer. Wenn die inneren Motoren entfernt wurden, war die Störung des Axonemschlags viel größer, als wenn die äußeren Motoren entfernt wurden, was auf eine besondere Rolle der inneren Motoren hindeutet.
"Wir vermuten, dass die inneren Motoren als Taktgeber fungieren und die Bewegung der häufiger auftretenden äußeren Motoren synchronisieren. Diese Taktgeberfunktion, zusammen mit der Verringerung des Rauschens durch die gemeinsame Bewegung, erhöht die Regelmäßigkeit des Schlags", schließt Prof. Friedrich.
Stärkung der nächsten Generation von Wissenschaftlern
Ein junger Wissenschaftler aus Indien, Abhimanyu Sharma, leistete bedeutende Beiträge zu dieser Studie. Als Gast-Masterstudent an der TU Dresden wurde er von der Dresden International Graduate School for Biomedicine and Bioengineering (DIGS-BB) und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert. "Abhimanyus Engagement war entscheidend für den Fortschritt dieses Projekts", sagt Dr. Geyer. "Seine Arbeit unterstreicht die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit und das Potenzial junger Forscher, einen bedeutenden Beitrag zur Wissenschaft zu leisten."
Nach seinem Masterstudium am Indian Institute of Science Education and Research in Mohali, Indien, promoviert Abhimanyu nun an der Stanford University in den USA und setzt seine wissenschaftliche Karriere fort.
Originale Veröffentlichung
Abhimanyu Sharma, Benjamin M. Friedrich, and Veikko F. Geyer: Active fluctuations of axoneme oscillations scale with number of dynein motors. PNAS (November 2024)
Link: https://doi.org/10.1073/pnas.2406244121