10.05.2019
70 Jahre Grundgesetz: Stabil und elastisch
Verfasser legten 1949 Basis für lebendigen demokratischen Wettstreit politischer Ideen
„Dem Grundgesetz ist gelungen, woran frühere deutsche Verfassungen scheiterten: demokratischen politischen Wettbewerb zu ermöglichen und gleichzeitig zu unterbinden, dass die Demokratie in der politischen Auseinandersetzung zur Disposition gestellt wird. 1949 wurde der Grundstein für Spielregeln gelegt, an die sich Regierung und Opposition bislang gleichermaßen gebunden fühlen“, erklärt Michael Koß. Er untersucht die Arbeit und Funktion von Parlamenten in Westeuropa. Seit dem 1. April hat er die Vertretung der Professur für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden inne.
Vor mittlerweile 70 Jahren, am 23. Mai 1949, trat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Seither bildet es die Basis für die politische Ordnung des Landes, regelt die Staatsorganisation und sichert den Bürgern individuelle Freiheiten. Sowohl die unabänderlichen Artikel 1 und 20 zur Menschenwürde und den Staatsprinzipien Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat wie auch die hohen Hürden für eine Grundgesetzänderung, die nur mit einer zwei Drittelmehrheit des Parlaments und des Bundesrats erfolgen kann, sollen dieses System so stabil wie möglich halten.
Wie dies im Detail funktioniert, ist ein Forschungsschwerpunkt von Michael Koß: „In den vergangenen Jahren habe ich mich mit der Entwicklung von Parlamentsregeln beschäftigt. Denn fragt man nach der Mitwirkung von Parlamenten an der Gesetzgebung, schwingt immer mit, wie eine bewusste Störung verhindert wird.“
Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern haben sich die Verfasser des deutschen Grundgesetzes für ein vergleichsweise hartes Arsenal an Mitteln entschieden, die die Demokratie gegen ihre Gegner in Stellung bringen kann. Eine Konsequenz aus der Erfahrung des Scheiterns der Weimarer Republik.
„Das Grundgesetz gibt zum einen die Möglichkeit, Parteien zu verbieten. Wie man zuletzt an den NPD-Verbotsverfahren sehen konnte, ist die Umsetzung allerdings an hohe rechtliche Hürden gebunden und politisch unwägbar. Dafür aber bietet das Grundgesetz – insbesondere für Parteien – viele Anreize, nach den Regeln zu spielen. Dazu gehören die staatliche Teilfinanzierung und die Möglichkeit für jede Fraktion im Bundestag, substanziellen Einfluss auf den politischen Prozess zu nehmen. In dieser Hinsicht hat sich das Grundgesetz als überaus elastisch erwiesen, um mittelfristig verschiedenste Parteien auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu verpflichten“, erklärt Koß.
Die deutsche Verfassungsform mit ihren Sanktionen und Anreizen nimmt in Europa eine Mittelposition ein. Die französische Verfassung setzt hingegen überwiegend auf Sanktionen, die der Regierung eine Reihe von Möglichkeiten bieten, die Opposition oder auch Mitglieder der Regierungsfraktionen zu umgehen. So kann die Regierung Gesetzesvorhaben mit Vertrauensabstimmungen verknüpfen. Ein Gesetz gilt dann als angenommen, wenn binnen 48 Stunden keine absolute Mehrheit dagegen zustande kommt. Gelingt ein Misstrauensvotum, gibt es Neuwahlen. Diese Regelung geht auf die Erfahrungen mit kommunistischer und faschistischer Fundamentalopposition zurück. Es ist deshalb kein Wunder, dass der Gegenpol reiner verfassungsmäßiger Anreize für Oppositionsparteien dort verwirklicht wurde, wo Fundamentalopposition nie eine Rolle gespielt hat: in Schweden. Hier legt schon die Verfassung fest, dass alle Gesetzesvorhaben in Ausschüssen behandelt werden müssen, in denen auch die Opposition über Mitwirkungsmöglichkeiten verfügt.
Mit seinen Forschungen an der Schnittstelle von Verfassungsrecht und Politik passt Michael Koß gut zu den Kollegen am Institut für Politikwissenschaft: „Mich interessiert, warum für ähnliche Probleme in verschiedenen Ländern unterschiedliche Lösungen gefunden werden. Diese sind oftmals verfassungsrechtlicher Natur. Damit stellt sich die uralte Frage danach, welche Lösung, sprich: welcher Rahmen, für welches Problem in welchem Kontext am besten geeignet ist. Antworten auf diese Fragen zumindest näher kommen zu wollen, verbindet mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen.“
Koß studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Rechtswissenschaft in Göttingen, Besançon und Uppsala. 2008 promovierte er mit einer Arbeit über Parteienfinanzierung und politischen Wettbewerb. Es folgten Stationen als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politik und Regieren in Deutschland & Europa an der Universität Potsdam und am Geschwister Scholl Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er nach seiner Habilitation 2018 die Professur für Vergleichende Politikwissenschaft vertreten hat.
Neben dieser Arbeit war Michael Koß als Postdoktorand in zwei vom britischen Economic and Social Research Council (ESRC) finanzierten Drittmittelprojekten zur deutschen Linkspartei und der politischen Regulierung der Privatsphäre an den Universitäten Sussex, Oxford und Göttingen tätig und gastierte 2014 am Center for European Studies der Harvard University. Darüber hinaus erhielt er zwischen 2012 und 2018 ein Schumpeter-Fellowship der VolkswagenStiftung. Der Titel seines Forschungsprojekts lautete: "Was machen eigentlich Parlamente?".
Informationen für Journalisten:
PD Dr. Michael Koß
Professur für Politische Systeme und Systemvergleich
Tel.: +49 351 463-32888