07.03.2016
Brüder-Unität als Wegbereiter der Reformation
Prof. Dr. Ludger Udolph erforscht seit 2012 die Acta Unitas fratrum, eines der ältesten Dokumente für konfessionelle Verschiebungen in Mitteleuropa. Im Auftrag der Herrnhuter Brüdergemeinde sind neben ihm namhafte Wissenschaftler wie Joachim Bahlcke, Jindřich Halama, Martin Holý, Jiří Just und Martin Rothkegel an diesem Projekt beteiligt. Der erste Regesten-Band wird anlässlich des Lutherjahres 2017 erscheinen. Wir sprachen mit ihm über das Projekt, das Neue an diesen Forschungen und über die Schwierigkeiten, die Erforschung eines europäischen Erbes im geeinten Europa finanzieren zu lassen.
Wie sind die Böhmischen Brüder ursprünglich entstanden?
Die Böhmischen Brüder entstanden aus einer von Petr Chelčický gegründeten christlich-pazifistischen Bewegung etwa 100 Jahre vor Martin Luther. Für die deutsche Forschung war es wichtig zu zeigen, dass diese kirchliche Epochenwende nicht mit Luther begonnen hat, wie es aus der deutschen Perspektive oft noch wahrgenommen wird. Denn die Herausbildung des Protestantismus begann früher. Bereits am Ende des 14. Jahrhunderts setzte die große Reformationsbewegung unter den Tschechen ein, die zu der Verbrennung von Jan Hus (1415 in Konstanz – die Red.) führte, was im Land große Unruhen auslöste, die auch auf die Nachbarländer Böhmens übergriffen. Das alles führte schließlich zur Herausbildung einer konfessionell diversifizierten Landschaft in Böhmen und Mähren. Nun gab es nicht allein Katholiken, sondern es etablierte sich jetzt eine nationale, die Utraquistische Kirche. Das ist eine Kirche, in der unter beiden Gestalten (sub utraque specie, daher der Name) kommuniziert wird: der Gläubige bekommt nicht allein das Brot wie in der katholischen Kirche, sondern auch den Wein. Der Gottesdienst wird in tschechischer Sprache abgehalten. Zudem strömt eine Reihe z. T. radikaler Sekten , nach Böhmen, die in den deutschen Ländern oder anderswo verfolgt werden. Darüber hinaus bildet sich die so genannte „Gemeinschaft der Brüder“, die Unitas Fratrum, die in Fortsetzung taboritischer Traditionen einen auch von der Utraquistischen Kirche abweichenden Sonderweg gegangen ist. Sie hat sich von den überkommenen Kirchenmodellen des Mittelalters verabschiedet. Sie versteht sich bewusst als eine kleine Gruppe von Auserwählten.
Was zeichnete diese Brüder noch aus?
Sie leben zurückgezogen, sind zunächst pazifistisch orientiert und widmen sich ausschließlich dem Gebet und der Arbeit. Sie sind angehalten, sich von bäuerlicher Erwerbsarbeit zu ernähren und bereits sehr demokratisch organisiert. Es gibt innerhalb der Gemeinschaft eine sehr flache Hierarchie. Die Unitas Fratrum ist aber in Böhmen und Mähren nur geduldet und wird sogar verfolgt. Denn die anerkannte Utraquistische Kirche wollte immer noch einen guten Kontakt zum Papst in Rom pflegen, um das Land in Europa nicht zu isolieren.
Wie sieht die Konzeption Ihres Projektes aus?
Das Prager Nationalarchiv, wo die Akten heute deponiert sind, ist sehr an einer Edition der 12 Akten-Bände aus dem 16. Jahrhundert interessiert. Mit der Brüderunität in Herrnhut als dem Eigentümer hat es inzwischen einen neuen Depositums-Vertrag abgeschlossen. Das gesamte Aktenmaterial ist bereits durch das Archiv digitalisiert worden. Diese Digitalisierungen werden nun sukzessive im Internet veröffentlicht. Es gibt eine von der Akademie der Wissenschaften eingerichtete Domain namens „manuscriptorium“, auf der bereits eine ganze Reihe alter tschechischer Handschriften veröffentlich wurde und wo auch die Akten erscheinen sollen. Dieser Prozess wird von uns begleitet. Wir wollen die Akten erschließen, indem wir so genannte Regesten erstellen: Inhalt des Aktenstückes, Titel, Verfasser, Datierung, Überlieferung. Von diesen Regesten planen wir vier Bände, in denen diese 12 Bände zusammengefasst sind. Unser Ziel ist, dass ein Nutzer, ausgehend von unseren Regesten, sich in den digitalisierten Aktenbeständen relativ leicht zurecht finden kann. Da wir mit der Akademie der Wissenschaften in Prag zusammenarbeiten, werden die Regesten in tschechischer und deutscher Sprache erscheinen. Ein Mitarbeiter in der Akademie, der ein genauer Kenner dieser Akten ist, schreibt diese Regesten, die dann von uns ins Deutsche übersetzt werden. Der erste fertige Band soll, wie gesagt, 2017 erscheinen und unser Beitrag zum Reformations-Jahr werden. Der Harrasowitz-Verlag in Wiesbaden hat sich sofort bereiterklärt, diese Regesten in sein Programm aufzunehmen und wir arbeiten gerade mit Hochdruck am ersten Band.
Wie kam es, dass diese Akten später nach Prag gelangten?
Einen Tag nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 erschien eine tschechische Delegation in Herrnhut und transportierte die Bände sozusagen als Kriegsbeute ab. So etwas gab es ja vielfach hier in Sachsen. Die Sowjets haben eine ganze Menge Kunstgüter konfisziert, ebenso wie die Amerikaner. Die Tschechen, die wussten, wo bestimmte Sachen liegen, haben insbesondere aus Bautzen und Zittau tschechische Kulturgüter in ihr Land verbracht. Dabei handelte es sich vor allem um alte Handschriften und Drucke, die dann später von der DDR-Regierung als ‚Schenkungen‘ deklariert wurden. Aus der Zittauer Bibliothek waren die Bohemica ins benachbarte Sudeten-Land ausgelagert. Als nach 1945 das Sudeten-Land wieder der Tschechoslowakei angeschlossen wurde, wurden diese Bestände nach Prag abtransportiert. Mit den Akten der Brüderunität verhielt es sich ähnlich. Und heute liegen sie in Prag. Sie sind de facto Herrnhuter Eigentum, werden jedoch im Nationalarchiv verwahrt. Sie sind ein historisch und kulturgeschichtlich sehr wichtiges Dokument, da sie bereits sehr früh politische und konfessionelle Verschiebungen in Mitteleuropa dokumentieren. Da lag der Ansatz für die Forschungen, denn so ein wichtiges Dokument muss der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Sind die Handschriften auf Tschechisch verfasst?
Ja, mehr als 90 % sind auf Tschechisch geschrieben, es gibt aber auch ein paar lateinische Texte. Die Brüder haben in diesen Dokumenten eine hoch differenzierte theologische Begrifflichkeit in tschechischer Sprache entwickelt. Bis dahin galt das Lateinische als alleinige theologische Wissenschaftssprache. Die Brüder gehören zu den ersten, die theologische Fragen in einer Volkssprache behandelten und beantworteten.
Sie sprachen davon, dass auch die Gottesdienste auf Tschechisch abgehalten wurden.
Ja, das war eigentlich zur damaligen Zeit nicht üblich. In der römisch-katholischen Kirche mussten Gottesdienste auf Latein abgehalten werden. Ein weiteres Novum war die Kommunion unter beiderlei Gestalt, also mit Brot und Wein. Luther hat dies später von den Utraquisten übernommen, ebenso wie den Umstand, den Gottesdienst in der Nationalsprache abzuhalten.
Ist überliefert, ob Martin Luther Kontakt zur Brüderunität hatte?
Ja. Es gibt z. B. aus der deutschen Reformationszeit zwei Holzschnitte, die zeigen, dass Hus und Luther zusammengehören. Der eine zeigt, wie sie an die sächsischen Fürsten die Kommunion unter beiderlei Gestalt austeilen, der andere zeigt beide als gute Hirten nach der bekannten Parabel von Jesus als dem guten Hirten.
Welche Auswirkungen hatte die Reformation unter Martin Luther auf die Brüdergemeinde?
Mit der Reformation in Deutschland änderte sich auch die Situation der Unitas Fratrum. Die Böhmischen Brüder haben nun das Problem, dass sie sich nicht als deutsche Lutheraner identifiziert werden wollen. Sie verstehen sich vielmehr als die alte, aus dem Hussitismus entstandene Brüderkirche. Weiterhin empfinden sie sich auch nicht als Zwinglianer, also als Anhänger der Reformation in der Schweiz. Sie verstehen sich in allen Positionen, Abendmahl, Ehe, Beichte, als etwas anderes als die Anhänger Luthers und Zwinglis. Ihr ‚Alleinstellungsmerkmal‘ leiten sie daraus ab, dass ihre Reformation älteren Ursprungs ist. Deswegen stellt man auch dieses Korpus der Akten zusammen, um belegen zu können, dass die Unitas die alte hussitische Brüderkirche ist. Zinzendorfs Herrnhuter Brüdergemeine hat später dann an die Tradition der Brüderunität angeknüpft. Die Brüder-Kirche in Böhmen selbst ging im 17. Jahrhundert aufgrund der politischen Ereignisse unter. Ab 1620 setzte ja in Böhmen eine große Rekatholisierungswelle ein, die Protestanten müssen das Land verlassen, was die Brüder ebenfalls zur Emigration zwang. Im Untergrund lebten sie allerdings noch einige Gemeinden weiter. Aus einer solchen Untergrundgemeinde kamen auch die Exulanten, die durch den Grafen Zinzendorf in der Oberlausitz auf dessen Gütern angesiedelt wurden. Gedanklich knüpften sie an die tschechischen Brüder an. Die Akten der Gemeinde nahm man bei der Flucht aus Böhmen 1629 mit und sie gelangten nach Polen, wo sich in Lissa (Leszno) eine selbständige Brüdergemeine gebildet hatte. Im Laufe der Jahre starb die Gemeinde dort aus, aber die Bibliothek mit den Akten blieb erhalten. 1830 wurden sie in Lissa von einem Herrnhuter gekauft. Es hat bereits vor dem Ersten Weltkrieg Versuche gegeben, die insgesamt etwa 10 000 Seiten zu edieren.
Die Akten beschreiben Hinweise zur Leitung der Brüderischen Kirche. Was ist unter einer solchen Leitung zu verstehen?
Die Brüder lehnten eine ausdifferenzierte Ämterhierarchie, deren Spitze der Papst bildete, ab. Es gab bei ihnen Bischöfe, Priester und Diakone. Aus diesen Gruppen gibt es eine gewählte Kirchenleitung. Diese Leitung benötigte Material, auf das sie in der Auseinandersetzung mit anderen Glaubensgemeinschaften zurückgreifen konnte. Heute würde man sagen, die Akten waren das kulturelle Gedächtnis der Brüder, eine Art Leitfaden für theologische und seelsorgerische Fragen
Lag darin auch das Selbstverständnis der Brüderkirche verankert?
Ja, die Schriften beschrieben die Abgrenzung der Brüder von den anderen Glaubensgemeinschaften. Dafür wurden diese Akten gesammelt. Die Schriften waren eine Form der Festschreibung der Identität. Sie wurden nie gedruckt, sondern existierten immer nur als Handschriften. Allerdings heißt das nicht, dass die Brüder andere Werke nicht gedruckt hätten. Sie waren im Gegenteil sehr aktiv im Druckwesen und waren die ersten in Europa, die (1501) ein Gesangbuch druckten. Das erste lutherische Gesangbuch erschien erst 1524. Am Ende des 16. Jahrhunderts bringen die Böhmischen Brüder eine sechsbändige Bibelübersetzung heraus. Sie übersetzten die Bibel aus den Urtexten, also dem Griechischen und dem Hebräischen ins Tschechische. Das ist die berühmte Kralitzer Bibel, deren Tschechisch noch lange auch bei den Katholiken als vorbildlich galt.
Könnte man die Brüder als Wegbereiter der Reformation bezeichnen?
Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass sie selbst eine eigene Reformation waren. Denn sie konnten ja nicht wissen, dass 100 Jahre später in Deutschland die lutherische Reformation stattfand. Sie definierten die Kirche neu und bezeichneten – wie später Luther - den Papst als den Antichristen, da er der weltlichen Macht verfallen sei. Was aus der päpstlichen Kirche kommt, kann demnach nicht gültig sein. Was demgegenüber gültig ist, muss neu definiert werden. Die Brüder verstehen sich sozusagen als Wiederherstellung der Urkirche. Sie machen damit das, was die Protestanten später in Deutschland tun.
Ist es das Ziel des Projekts zu zeigen, dass es bereits vor Luther eine Reformation gab?
Ja. Genau das wollen wir zeigen. Luther sagte, er habe das rechte Verständnis vom Evangelium, aber das haben die Böhmischen Brüder vorher auch schon gesagt. Die Teilung der Welt in die Anhänger Christi und des Antichrist finden wir bereits in den 1380er Jahren bei Prager Theologen und die Böhmischen Brüder griffen das wieder auf. Der Papst und die weltliche Macht gehören auch bei ihnen eindeutig zum Antichristen.
Wann begann dieses Projekt?
Wir haben vor drei Jahren mit diesem Projekt begonnen, ein eventuelles Ende wird Mitte 2020 zu erwarten sein. Natürlich hängt alles auch an der Finanzierung. Die ist für die tschechischen Bände problemlos, denn das übernimmt die Akademie der Wissenschaften in Prag. Die Finanzierung von deutscher Seite ist wesentlich schwieriger, sodass wir noch nicht genau wissen, wie wir die Bände zwei bis vier finanzieren sollen. Zwei Institutionen, bei denen wir unseren Antrag eingereicht hatten, haben uns leider eine Absage erteilt. Wir treffen uns im Sommer 2016, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Dabei wird es auch darum gehen, das Problem der Übersetzung auf Dauer zu lösen; die Übersetzung ist wegen der theologischen und philosophischen Begrifflichkeit nicht einfach, sodass wir einen erfahrenen und gebildeten Übersetzer benötigen, der auch finanziert werden muss.
Was fasziniert Sie an dieser Forschung?
Dass eine kleine Gruppe von ‚Außenseitern‘, ‚Nonkonformisten‘ in einer damals wie heute in Europa nicht sehr bekannten Sprache schwierige und u. U. auch gefährliche theologische Themen mit fundierter Sachkenntnis, großem Ernst und Mut behandelt und sich damit einen dauerhaften Platz in der europäischen Geistesgeschichte sichert. Das Thema passt zudem auch gut in den Kontext der Slavistik in Dresden. Herrnhut liegt ja nicht weit, Böhmen auch nicht, Zinzendorf war Dresdner, da ergibt sich diese Aufgabe für eine Dresdner Bohemistik ja geradezu von selbst. Die Idee zu diesem Projekt habe ich schon seit Jahren. Ich bin 1992 nach Dresden gekommen und habe bereits seit dieser Zeit daran gedacht, diese Akten zu bearbeiten. So etwas kann man allerdings nicht allein bewältigen. Ein glücklicher Umstand war es, dass auch die Kollegen Rothkegel (Religionshistoriker) und Bahlcke (Historiker) eine solche Bearbeitung ins Auge gefasst hatten und dass es uns gelungen ist, dafür auch die tschechischen Kollegen zu gewinnen.
Wie kam es, dass im Laufe der Jahrhunderte die Religion in Tschechien sich wieder mehr dem Katholizismus zuwandte, obwohl dort erste Spuren des Protestantismus zu finden sind?
Das einschneidende Ereignis war der Dreißigjährige Krieg. Seit 1526 war der Kaiser in Wien gewählter König von Böhmen. Mit ihm gab es immer wieder Spannungen, da die Habsburger katholisch und die Stände in Böhmen und Mähren mehrheitlich protestantisch waren. Der Kaiser begann im 16. Jahrhundert mit dem Ausbau des Absolutismus. Die Stände wurden also sukzessive entmachtet. Das provozierte bei den böhmischen und mährischen Ständen einen gewissen Widerstand. Der Ständeaufstand von 1618 führte dann zum Dreißigjährigen Krieg. Der reformierte Kurfürst von der Pfalz ließ sich zum König von Böhmen wählen. Der Kaiser stellte mit Hilfe von Wallenstein eine Truppe auf, die 1620 in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag die protestantischen Stände besiegte. Der Kurfürst von der Pfalz flieht, die Ständeherrschaft bricht zusammen. Ferdinand II. greift als neuer Kaiser hart durch und beschleunigt den Prozess der Gegenreformation. In deren Zuge müssen alle Protestanten das Land verlassen, sodass der Katholizismus wieder zur dominierenden Religion wurde. Da Bauern das Land nicht verlassen durften, gab es viele, die vorgaben, katholisch zu sein, aber dennoch den protestantischen Glauben weiter lebten. Durch Joseph II. werden die Protestanten und Katholiken durch das Toleranzedikt von 1780 gleichgestellt. Allerdings gab es im 20. Jahrhundert dann einen weitreichenden Prozess der Entkonfessionalisierung, besonders nach der Gründung der ersten tschechischen Republik 1918.