19.01.2017
Neue Sicht auf alte Texte
Homers "Ilias", Vergils "Aeneis", Shakespeares "Macbeth": Kunstwerke, deren Handlung der Autor in seiner eigenen Vergangenheit stattfinden ließ. Aufmerksame Leser oder Hörer finden darin oft Stellen, die nicht in die erzählte Zeit passen und des Autors eigener Epoche zuzuordnen sind. Früher hielt man diese Einsprengsel schlicht für Fehler. Dennis Pausch, Inhaber der Professur Latein am Institut für Klassische Philologie, und Philipp Geitner, Doktorand am selben Institut, vertreten die These, dass die antiken Künstler diese Verweise absichtlich eingebaut haben. Die Dienerin der Kirke in den "Metamorphosen", den Verwandlungsmythen des römischen Dichters Ovid, ist eine einfache, wenig gebildete Person. Ihr Schöpfer Ovid war allerdings alles andere als ungebildet. Hätte er diese Gestalt also von "Olympiaden" sprechen lassen, Zeiträumen zwischen den Olympischen Spielen? "Die ersten Olympischen Spiele fanden sehr wahrscheinlich nach der mythischen Zeit statt. So konnte die Dienerin der Kirke sie noch nicht kennen", sagt Philipp Geitner. Wenn Ovid also keinen Flüchtigkeitsfehler begangen hat und den scheinbaren Lapsus absichtlich eingebaut hat, was bezweckte er damit? "Es gibt mehrere Erklärungsansätze für diese sogenannten Anachronismen: Manchmal möchte der Autor damit die Figuren komisch wirken lassen oder verfremden, manchmal will er auf seine eigene Gegenwart hinweisen oder diese kritisieren ...", erläutert Dennis Pausch. Solche Anachronismen, die einen ästhetischen Hintergrund haben, kommen beispielsweise bei Geschichten, Gedichten und Dramen vor, aber auch bei Opern, Gemälden oder Skulpturen. Auf einzelne Anachronismen haben Pauschs und Geitners Philologenkollegen bereits hingewiesen. Teilweise fallen sie sogar Laien auf. Was der Latein-Professor und sein Doktorand leisten, geht weit über bloßes Benennen einzelner Passagen hinaus: Sie möchten alle Anachronismen in zwei Werken der augusteischen Literatur, den "Metamorphosen" und der "Aeneis", finden, systematisieren und begründen. "Dieses Thema könnte einen neuen dauerhaften Forschungsschwerpunkt bilden, über den das Institut für Klassische Philologie der TUD auch in weiteren Kreisen wahrgenommen wird", kündigt Dennis Pausch an. Er hat mit seinem Kollegen dafür bei der Deutschen Forschungsgesellschaft (DFG) Sachbeihilfe zur Projektförderung beantragt. Diese wurde in Höhe von rund 100 000 Euro gewährt. Von den Projektgeldern bezahlt der Lehrstuhl vor allem die zweieinhalbjährige Promotionsstelle von Philipp Geitner, die am 1. Januar begann. Doch die beiden Altphilologen forschen schon mehrere Monate an ihrem Thema. Zu ihrem Gegenstand, exakt "Ästhetik des Anachronismus" genannt, haben Dennis Pausch und Philipp Geitner bereits eine Tagung für die Mommsen-Gesellschaft durchgeführt, den Verband deutschsprachiger Altertumswissenschaftler. Außerdem wird der Doktorand beim diesjährigen Sächsischen Lateintag am 28. Januar 2017 einen Vortrag halten, in dem es unter anderem um die Anachronismen in den "Metamorphosen" geht. "Wir hoffen, dass zum Lateintag zahlreiche interessierte Schüler aus ganz Sachsen kommen werden", sagt der Professor. Langfristig planen die zwei Wissenschaftler, mit der Antikensammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden zu ihrem Thema zu forschen. Eine entsprechende Kooperationsvereinbarung haben sie schon unterzeichnet.
Text: Beate Diederichs