Mar 03, 2021
Podcasts zum Seminar: "Invektivität im politischen Machtkampf des Kaiserreichs"
Herabsetzung und Beschämung waren verbreitete Mittel in den politischen Auseinandersetzungen des Deutschen Kaiserreichs. Um genauer zu verstehen, wie Invektivität die politische Ordnung des Reichs beeinflusste, recherchierten die Studierenden Beispiele verbaler oder symbolischer Formen der Diffamierung in politischen Konstellationen, folgten den Spuren ihrer herabsetzenden Effekte und präsentierten ihre Ergebnisse in Form eines Podcasts.
Das Seminar leitete Studierende in der Recherche, quellenkritischen Analyse von verbaler oder symbolischer Formen der Herabsetzung an und begleitete sie bei der Konzeption eines Podcasts. Grundlegend dafür waren die theoretischen Implikationen des Konzepts der Invektivität1 sowie der Grundzüge politischer Kultur des Deutschen Kaiserreichs.2
In Kleingruppen wurden die Quellenfunde präsentiert, Fragestellungen entwickelt sowie eine erste Rohfassung des Podcasts konzipiert, die dann kritisch diskutiert wurden. Ergänzt wurden die Sitzungen durch ein anschließendes Tutorium, in dem die Studierenden ihr Projekt weiterbearbeiteten und entlang vorgegebener und selbst gestellter Aufgaben ihre Kenntnisse wissenschaftlichen Arbeitens vertieften.
Fußnoten:
1 Ellerbrock, D./Fehlemann, S: Beschämung, Beleidigung, Herabsetzung: Invektivität als neue Perspektive historischer Emotionsforschung, in: Besand, A./Overwien, B./Zorn, P. (Hrsg.), Politische Bildung mit Gefühl. Bonn 2019, S. 90–104; Ellerbrock, D./Koch, L./Müller-Mall, S./Münkler, M./Scharloth, J./Schrage, D./Schwerhoff, G., Invektivität - Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift, 2. Jg., H. 1, 2017, S. 2–24; Ellerbrock, D./Schwerhoff G., Spaltung, die zusammenhält? Invektivität als produktive Kraft in der Geschichte. In: Saeculum, 70. Jg., H. 1, 2020 S. 3–22.
2 Vgl. in Auszügen bei Anderson, M. L., Lehrjahre der Demokratie: Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich, Steiner 2009; Biefang, A., Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im ‚System Bismarck‘ 1871-1890, 2. Aufl., Berlin 2012; Mit Blick auf die Herabsetzung der deutschen Sozialdemokratie siehe: Kupfer, T., Geheime Zirkel und Parteivereine. Die Organisation der deutschen Sozialdemokratie zwischen Sozialistengesetz und Jahrhundertwende, Essen 2003.
Sozialdemokratische Majestätsbeleidigungen im Kaiserreich nach 1890
Während im Deutschland der Gegenwart der Straftatbestand der Majestätsbeleidigung längst abgeschafft ist, wird eine solche in Thailand oft so willkürlich ausgelegt, dass kaum noch Platz für kritisches Denken bleibt. Der nach dem Vorbild des Deutschen Kaiserreichs gestaltete Majestätsbeleidigungsparagraph ermöglicht eine offene Unterdrückung oppositioneller Kräfte.
Anhand dreier Fälle, in denen Redakteure aus dem sozialdemokratischen Umfeld angeklagt wurden, wird für die Zeit nach 1890 eine ähnliche Konstellation im Kaiserreich und mithilfe des Konzepts der Invektivität die dahinterliegende Machtarchitektur verdeutlicht.
Die Beitrag wurde von Paul Furkert, David Bochmann und Marco Janke recherchiert und konzipiert.
Literaturverzeichnis als Pdf-Download.
43 Jahre und 6 Monate, so lange muss Anchan Preelerd nun wahrscheinlich ins Gefängnis. Warum? Sie hatte 29 Dateien über Facebook und Youtube geteilt, in denen das thailändische Königshaus kritisiert wurde. Nach drei Jahren in Untersuchungshaft und weiteren drei Jahren ohne ein Urteil, entschied ein ziviles Gericht Anfang Januar 2021 sie nun zu 87 Jahre Gefängnis zu verurteilen. Daraufhin gestand sie ihr Schuld ein, und die Haftzeit wurde halbiert. Dennoch ist dies die wohl höchste Strafe wegen Majestätsbeleidigung, die je in Thailand verhängt worden ist. Viel nützen wird das Preelerd nicht - sie ist schon Mitte 60. Wird das Urteil vollstreck, dürfte sie nicht einmal ein Drittel ihrer Haft verbüßen können, so hart sind die Gefängnisbedingungen. Ihre Pension für die sie 40 Jahre in der Finanzbehörde gearbeitet hatte, wäre ebenso hinfällig. Leider ist dies nur einer von vielen Fällen – Majestätsbeleidigungen werden völlig anonym bei den Behörden angezeigt. Die regierenden Politiker, die Polizei und die Staatsanwaltschaft entscheiden dann ganz ohne Zutun des Monarchen ob eine Beleidigung vorliegt oder nicht. Täten sie dies nicht, käme das einer Illoyalität dem Monarchen gegenüber gleich. Rama X., der wohl reichste Monarch der Welt, muss also nicht im Land sein, damit seine Gegner verurteilt werden können. So kann er seinen "Urlaub" in der königlichen Villa in Bayern verbringen. Bei der demokratische Bewegung, die seit Jahren für eine Ende der Willkürherrschaft in Thailand Eintritt, sorgt die Haltung ihres Landesoberhauptes für massive Proteste. Erst hatte er die Bestrafungen nach Artikel 112, dem Majestätsbeleidigungspraragraphen, in Gedenken an seinen verstorbenen Vater bis 2018 aussetzen lassen. Dafür war die Überwachung des Internets ausgeweitet worden. Auch der Ministerpräsident Prayut Chan-o-cha, verkündetet noch Mitte 2020, den Artikel nicht weiter anzuwenden. Ein derart hartes Urteil soll nun also vor allem eins klarstellen: Jeder Tweet, jeder Protest, jede Kritik, kann strafbar sein, sobald, die Regierung es als Majestätsbeleidigung hinstellt. Tatsächlich setzt der Monarch so die Tradition seines Vater fort. Rama IX. hatte den Militärs 2014 für ihren Staatsstreich seine königliche Amnestie eingeräumt. Die Militärjunta, angeführt von Chan-o-chan, schlug die Gegenproteste gewaltsam nieder und sorgte dafür, dass die eigenen Mitglieder sämtliche hohe Posten besetzen konnten. Die Idee zu einem derart weitreichenden Gesetz, stammt nicht zuletzt aus dem Deutschen Kaiserreich. Als Thailand noch Siam hieß, trat Rama V. 1897 zu einem offiziellen Staatsbesuch an. Inspiriert von der hiesigen Gesetzeslage wurden zunächst 3 Jahren Haft für Lästerungen gegen den Palast festgesetzt. 10 Jahre später bei seiner zweiten Europareise machte er erneut im Kaiserreich Station. Von nun an konnten 7 Jahre für jegliche böswillige Bemerkung erteilt werden. Heute sind bis zu 15 Jahre Haft pro Äußerung möglich, selbst wenn damit frühere Regenten oder ihre Familienangehörigen bedacht werden.
Im deutschen Kaiserreich galt in der Hinsicht seit 1871 das selbe was in Preußen seit 1851 galt. Jene Majestätsbeleidigungen, die nicht als Landes bzw. Hochverrat eingestuft wurden, also tödlich endeten, konnten nach den Artikeln 94-101 mit bis zu 5 Jahre Gefängnis oder Festungshaft bemessen werden. Darüber hinaus führten die s.g. Sozialistengesetze, die Bismarck nach zwei Mordanschlägen gegen Kaiser Wilhelm I. 1878 verabschiedete, bis 1890 zur gesetzlich reglementierten Unterdrückung oppositioneller Kräfte. Wilhelm II. ordnete erst ab 1904 das Justizministerium dazu an, nicht mehr so streng mit denjenigen zu Verfahren, die ihn Beleidigten. Zwei Jahre später ließ er sogar einmal alle in Haft befindlicher Beleidiger frei und mit einer Gesetzesnovelle vom Februar 1908 wurde die verheerende Wirkung der Artikel aufgehoben. Mildernde Umstände, konnte fortan zu einer Haftbeschränkung auf bis zu eine Woche führen, die Verfolgung der Straftäter wurde auf ein halbes Jahr begrenzt und der Artikel 185, der allgemeine Beleidigungen regelte, galt fortan als offizielle Alternative.
[D.B]
Einordnung
Wie die aktuelle Bewegung in Thailand auch war die Sozialdemokratie, durch die Radikalität ihrer Forderungen, durch ihren inhärenten Anspruch auf Demokratisierung, seit der Reichsgründung eine innere Bedrohung für das System des Kaiserreichs. In der Zeit, welche wir betrachten wollen, sollte die SPD als parlamentarischer Arm der Arbeiterbewegung zu einer der ersten Massenparteien anwachsen und bis zum Beginn des ersten Weltkrieges über eine Million Mitglieder bekommen. Dabei war es kein Geheimnis, dass viele Sozialisten im linken Flügel der Arbeiterbewegung eine Abschaffung der Monarchie befürworteten. Es ist daher keineswegs überraschend, dass dieser Interessenkonflikt nicht zusammen mit der Abschaffung der Sozialistengesetze endete. Nach deren Wegfall fehlte den Behörden jedoch die rechtliche Grundlage für die Verfolgung der Opposition. Eine der "Lösungen" für dieses Problem scheint unter anderem in den Majestätsbeleidigungsparagraphen gelegen zu haben. So wurden allein im Jahr 1895 622 Strafen verhängt, im Durchschnitt zwischen 1885 und 1905 nie unter 500. Obwohl die Freiheit der Presse seit 1874 gesetzlich garantiert war, waren besonders Journalisten von diesen Verurteilungen betroffen. Das Zentralorgan der Sozialdemokratie "Der Vorwärts" berichtete regelmäßig über die den Genossen auferlegten Strafen. In der Kategorie "Chronik der Majestätsbeleidigungsprozesse" berichtete er um die Jahrhundertwende sogar täglich. Daher drängt sich die Frage auf: belegen die Verurteilungen sozialdemokratischer Redakteure, selbst nach Auslaufen der Sozialistengesetze, eine weitergehende Einschränkung ihrer Pressearbeit? Dazu wollen wir mit Hilfe des Konzepts der "Invektivität" die einzelnen Fälle historisch einordnen und vergleichen. Bevor wir jedoch zur Erläuterung der Fälle an sich kommen, müssen wir kurz das
Konzept der Invektivität erklären. Der Begriff leitet sich von antiken Schmähschriften, den s.g. Invektiven ab, welche verfasst wurden, um andere Personen bloßzustellen oder zu beleidigen. Da Beleidigungen und Herabsetzungen jedoch nicht nur in der Antike eine Rolle spielten, sondern zu jeder Zeit stattfinden können, versucht das Feld der Invektivität zu erforschen, wie sich diese Dynamiken im Laufe der Zeit unterschieden. Dabei wird jedoch von einigen Konstanten ausgegangen . Z.B. gibt es bei einer Invektive immer drei beteiligte Parteien: die Beschämenden, die Beschämten und das Publikum. Außerdem rufen Invektiven für gewöhnlich Reaktionen und Gegenreaktionen hervor, was zu sogenannten Invektivitätsspiralen führt. Die folgenden drei Fälle sollen ein Bild zeichnen, wie Äußerungen, welche den Kaiser nur sehr indirekt betrafen, zu polizeilichen Ermittlungen führten, welche Gefängnisstrafen für die Betroffenen zur Folge hatten. Und dies mit der Begründung, dass der Kaiser bzw. seine Familie dadurch schwer beleidigt seien, obwohl diese nie direkt benannt wurden. Vermutlich hat er von den meisten Fällen nie erfahren. [M.J.] 1. Fall "Ein undiplomatischer Neujahrsempfang" (K. Eisner) Mit unserem ersten Fall möchten wir auf den Artikel „Ein undiplomatischer Neujahrsempfang“ näher eingehen, den Kurt Eisner im Jahre 1897 verfasste. Hierbei zeigt sich gut, wie sich aus einer Anfangsinvektive, eine ungewollte Gegeninvektive entwickeln kann, die zu weiteren Problemen führt. Kurt Eisner wurde 1867 in Berlin geboren und wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Nach Beendigung seines Abitur, begann Eisner ein Studium der Philosophie und Germanistik, welches er jedoch in Vorbereitung auf seine Dissertation abbrach. Nach diesem Abbruch zog es ihn in den Journalismus und er begann bei verschiedenen Zeitungen zu arbeiten. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte Kurt Eisner jedoch einen schwierigen Berufsstart. Daher kam es zu einem Wechsel zur Hessischen Landeszeitung. In dieser Zeit außerhalb Berlins wandelte sich Eisners politische Einstellung vom Linksliberalen zum Sozialdemokraten. Damals galt bei den Zeitungen das Prinzip der Anonymität, das heißt die Leitartikel und Kommentare erschienen ohne namentliche Kennzeichnung beziehungsweise unter einem Kürzel. Das ermöglichte im zur Zeit Kaiser Wilhelms II. sehr viele kritische Artikel gegen die Monarchie zu verfassen. Hierbei veröffentlichte Eisner häufig mit dem Kürzel „Tat-Twam“ und verfasste auch kulturpolitische Aufsätze u.a. auch für das „Magazin für Literatur“ und später für die Zeitschrift „Die Kritik: Monatsschrift für öffentliches Leben“. Letztere wurde 1895 von Richard Wrede gekauft was ihn zum alleiniger Eigentümer und Herausgeber machte. In dieser wurde am 02.01.1897 besagter Artikel veröffentlicht. In diesem Artikel wendet sich ein unbekannter Monarch in einer Neujahrsansprache an sein Volk. Dabei gesteht dieser Fehler und Probleme ein, die er und andere Herrscher in den letzten Jahren verursacht haben. In der Folge dieses Artikels hatte Kurt Eisner mit Kritik einer Berliner Zeitung (laut eigenen Äußerungen) und Hausdurchsuchungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zu kämpfen, was somit harsche Gegenreaktionen darstellte. Nach dem Prozess gegen ihn wurde er zu einer neunmonatigen Haft von November 1897 bis Juli 1898 in der Justizvollzugsstätte Plötzensee verurteilt. Während der Haft versuchten Eisner und Wrede, die Kritik am Laufen zu halten, was jedoch nicht gelang. Nach seiner Haft kam Eisner im Spätsommer 1898 zum Vorwärts. Dabei hatte er sich nicht selbst beworben, sondern auch das Interesse Wilhelm Liebknechts an ihm geweckt. Zu diesem Zeitpunkt war Eisner auch noch kein SPD Mitglied, jedoch trat er nach kurzer Zeit (01.12.1898) der SPD bei. Im späteren Verlauf arbeitete Eisner bei unterschiedlichen Zeitungen und wurde dort teilweise auch Chefredakteur. Während des Ersten Weltkrieges wurde Eisner zu einem radikalen Kriegsgegner und letztendlich zum Revolutionär. Er übernahm eine führende Rolle in der Münchener Novemberrevolution 1918, wurde so zum Kopf der Revolution in Bayern und später zu dessen ersten Ministerpräsidenten gewählt. Am 21. Februar 1919 wurde Eisner schließlich durch einen radikalen, adligen Demokratiegegner ermordet. Durch den Artikel „Ein undiplomatischer Neujahrsempfang“ begann Kurt Eisner mit einer Anfangsinvektive eine Spirale der Invektivität, indem er zumindest aus den damaligen Gesichtspunkten eine Majestätsbeleidigung betrieb. Einige Aussagen des unbekannten Monarchen werden nun im Folgenden näher erwähnt: „Auch ich schulde den Völkern die fällige Botschaft, die sie von mir verlangen, weil sie mich insgeheim verachten, so sehr sie mich auch mit tönenden Zungen preißen.“ Und „…, wie daß ihr höchster Repräsentant nichtige Worte stammele und ewig dieselben kläglichen drei Töne von sich gebe,…“. Mit diesen beiden Aussagen wird die Persönlichkeit des Staatsoberhaupts herab gesetzt, da der Herrscher vom Volke verachtet sei und laut Aussage des Verfassers auch nicht in der Lage ist, eloquent an sein Volk zu sprechen. Eine weitere Aussage soll auch zeigen, dass das Volk sein Oberhaupt verachte: „So trete ich heute vor mein Volk und fordere,[…], es soll aufhören mich zu verachten, indem es mir schmeichelt,…“. Weiterhin spricht der unbekannte Monarch auch davon dass der Glanz der Herrschenden nur erborgt sei und sagt weiterhin: „Ich will ein Arbeiter sein mit den Arbeitern, ich will von allem lernen, diese wunderthätige Maschine staatsrechtlicher Machtvollkommenheit zu bedienen,..“. Damit kommt hervor, dass der Herrscher bisher nicht in der Lage sei den Staat richtig zu lenken. In einer weiteren Aussage soll dargestellt werden, dass zu viel in die Vergangenheit geschaut und sich daran ergötzt wird, anstatt sich um die Zukunft zu kümmern: „Die Früchte unserer dünkelhaften Geschäftigkeit nicht gefault, wir sättigen uns an der Einbildung, etwas gethan zu haben, weil unser Gedächtnis zu schnell verdaut." Im weiteren Verlauf des Textes übt der Monarch noch Kritik an Parteien, Justiz und Außenpolitik. Er bezeichnet die Leistung der vergangenen Jahre als Bankrott und man habe keinen Ausweg. Nach der Veröffentlichung kam es zum Eklat, Eisner hatte nicht erwartet, dass sein Artikel solche Reaktionen hervor rufen würde. Die Reaktionen gegen ihn, sah er zuerst am 19.01.1897, als er in die Tageszeitungen blickte: "Plötzlich war es uns, als ob wi[r] unsere eigene Todesanzeige sähen. [...] Was wir in der Zeitung fanden, war die Besichtigung eines Verbrechens, von dessen Verübung wir bis dahin nicht das mindeste Bewußtsein gehabt hatten" schrieb er. Der Vorwärts begleitete die Vorgänge und berichtete am 19.01.1897 von Hausdurchsuchungen in den Wohn- und Geschäftsräumen der Kritik und des Herausgebers Dr. Richard Wrede. Dabei scheint es sich um intensive Hausdurchsuchungen gehandelt zu haben, man suchte vor allem Manuskripte des undiplomatischen Neujahrsempfang.
„Nach Äußerungen des die Requisition ausführenden Kriminalbeamten soll der Artikel ein Strafverfahren wegen Majestätsbeleidigung nach sich ziehen.“ Auch in den folgenden Wochen berichtet der Vorwärts von mehreren Durchsuchungen, im Umkreis Wredes. Dabei äußerte sich der leitende Polizeikommissar Schöne laut dem Vorwärts: „Ich garantiere Ihnen, in acht Tagen habe ich den Verfasser heraus.“ Jedoch gab es in diesen Tagen noch keine Erfolge bei den Ermittlungen. Das Hauptziel der Polizei war vor allem heraus zu finden wer sich hinter dem Pseudonym „Tat-Twam“ verbarg. Am 18.04. titelte der Vorwärts dann: „Tat-Twam vor Gericht.“. Kurt Eisner hatte zugegeben hinter dem Pseudonym zu stehen. Es folgte die Anklage gegen ihn und Richard Wrede. In der darauffolgenden Woche folgte ein Artikel, dass die Staatsanwaltschaft die Öffentlichkeit vom Prozess ausschließen wolle, während die Anwälte Anwesenheit der Öffentlichkeit forderten. Der Gerichtshof entschied sich jedoch für den Ausschluss, mit der Begründung: „aus der öffentlichen Verhandlung [sei] eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung befürchte[n]“. Die Staatsanwaltschaft warf den Angeklagten vor, mit dem unbekannten Monarchen Willhelm II. gemeint zu haben, wobei „dessen Ansehen durch einige Stellen herab gesetzt werde“. Eisner argumentierte dagegen, dass er den Kaiser nicht gemeint habe und kritisierte das harsche Vorgehen des Staates und die Folgen, die durch seinen Artikel aufkamen. Am 28.04. berichtete der Vorwärts von dem Gerichtsprozess. Dabei gab der Vorsitzende des Gerichtshofes seine Meinung darüber kund: „daß alles, was jene angebliche Idealfigur sagt, ein Maßstab für die Thätigkeit des deutschen Kaisers abgeben soll“. Damit lässt sich erkennen, dass der Gerichtshof der Ansicht war, dass der Zweck des Artikels sei, den deutschen Kaiser zu verhöhnen und in der öffentlichen Meinung herabzusetzen. So kam es zur Verurteilung der beiden Angeklagten. Kurt Eisner musste 9 Monate und Richard Wrede 6 Monate in Haft. Weiterhin wurde angewiesen alle Exemplare des Artikels unbrauchbar zu machen. Glücklicherweise sind bis heute noch Exemplare erhalten geblieben, sonst könnten wir Ihnen heute nicht davon berichten.
Nach der Haft wechselte Eisner auf Wunsch von Wilhelm Liebknecht zum Vorwärts und begann damit seine Parteikarriere in der SPD. Nachdem beide bereits in Haft waren, berichtete der Vorwärts nochmals am 10.10. davon, dass trotz mehrmaligen Versuchen, Eisner und Wrede die Weiterführung der Zeitung "die Kritik" nicht sichern konnten. Letztendlich zeigt dieser Fall, dass durch Verurteilungen mit Hilfe des Majestätsbeleidigungsparagraphen kleineren Zeitschriften die Geschäftsgrundlage genommen werden konnte, wenn führende Persönlichkeiten durch einen kritischen Artikel in Haft gehen mussten. Wenn man diese Aussagen betrachtet, kann man aus der Sicht der Vertreter des Staates von einer Anfangsinvektive des Artikels in Form einer Majestätsbeleidigung ausgehen, da der Herrscher, wenn auch nicht direkt angesprochen, herab gesetzt wird, bzw. es wahrgenommen wird als wäre dies der Fall. Durch die Gegenreaktionen zu Eisners Artikel, lässt sich auch erkennen, dass es ein gewisses Vorgehen gegen Kritik an der Obrigkeit gab. Dies lässt sich zum Beispiel an den harschen Hausdurchsuchungen erkennen. Eisner vergleicht das Vorgehen gegen sich und Wrede, mit dem Vorgehen des Staates gegen einen Schwerverbrecher. Zum Beleg nennt Eisner die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft bei seiner Hausdurchsuchung: "..., als ein beleidigendes Pamphlet angeklagt, das man confiscieren und dessen Verfasser man unter allen Umständen um der Erhaltung des Staates Willen ermitteln müsse." Hierbei lässt sich gut erkennen, dass der Staat keine Kritik an seinen Herrschenden akzeptierte. Gegen diese Kritiker wurde mit voller Macht vorgegangen. Dass der Staat hierbei mit dem Majestätsbeleidigungsprozess gegen unliebsame Meinungen und Journalisten vorgehen konnte, zeigt sich also auch an diesem Fall. So konnte ein Exempel an einem der Sozialdemokratie nahe stehenden Redakteur statuiert werden, mit der Signalwirkung dass derartige Kritik am Herrscher nicht ohne folgen bleibt. Jedoch kann man auch sehen, dass der Vorwärts diesen Prozess aufmerksam verfolgt und Eisner nach seiner Haft gern bei sich aufnahm. Damit zeigt sich, dass das Sozialdemokratische Umfeld solidarisch agierte und einen Redakteur wie Eisner auffing. Dies sollte nicht der letzte Konflikt zwischen Eisner und dem Staat sein. [D.B.] 2. Fall Kaiserinsel Im Sommer des Jahres 1903, als Eisner bereits Chefredakteur beim Vorwärts war, wurde der Zeitung ein Brief zugetragen. In diesem wurde behauptet, dass am Hofe des Kaisers Pläne existieren würden, denen zur Folge die Insel Pichelswerder in der Havel in eine Festung umgebaut werden solle, welche den Kaiser im Falle einer Revolution beschützen würde. Ebenso sollte die Insel und ihre Umgebung zu einem Reichstagswahlkreis zusammengefasst werden, welcher nur von kaisernahen Beamten u.ä. bewohnt werden dürfe. Der Öffentlichkeit erschienen diese Pläne als absurd. Der Glaubwürdigkeit des Vorwärts würde es auch nicht helfen, dass dieser im darauffolgenden Gerichtsprozess keinerlei Beweise für die Existenz solcher Pläne vorgelegen konnte – einer der Redakteure hätte diese vor den, noch am Tage der Veröffentlichung stattfindenden Hausdurchsuchungen, verbrannt. Besonders provokativ Seitens des Vorwärts war die Veröffentlichung der Namen der angeblich am Projekt Beteiligten. Die Reaktion der Presse von anderer Seite ließ nicht lange auf sich warten – besonders Spott und Häme war aus der Berichterstattung über den Prozess zu lesen. Doch auch der Vorwärts selbst war sich nicht zu schade mit eben solcher zu antworten; die Berichterstattung über den mehr als einen Monat lang andauernde Prozess bot ihnen die Plattform. Dass der Fall ein solches Maß an Aufmerksamkeit erhielt, ist jedoch nicht allein mit dem Inhalt des ursprünglichen Berichts zu erklären, sondern vielmehr damit, wie die verschiedenen Medien und Parteien auf die Veröffentlichung reagierten. Um rekonstruieren zu können wie aus so einem kurzen Artikel, eine solche Affäre werden konnte ist es nötig, sich näher mit den verschieden Reaktionen auf den Artikel, den Prozess und die Berichterstattung zu diesen zu beschäftigen: Die „Anfangsinvektive“ des Falls bestand in dem bereits erwähnten kurzen Zeitungsartikel welcher am 15.08.1903 im Vorwärts erschien und - laut Aussage der Redakteure – auf besagtem Brief beruhte, welcher der Zeitung anonym zugespielt worden war. Im späteren Prozess sollte es hierbei besonders um die Aussage gehen, „dass die Herren, die sich am Hofe über die Zukunft der Monarchie den Kopf zerbrechen“, „in den gegenwärtigen Zeiten alles für möglich halten […] ohne jeden Anlass derartige Aufruhrphantasien verbreite[n] und den Thron nur noch auf einer militärisch gesicherten Insel für sicher“ halten. Hierbei bleibt zu beachten, dass weder der Kaiser noch seine Familie im Artikel, geschweige denn dessen Zustimmung oder Unterstützung zu den Plänen explizit genannt wurden. Es liegt also nahe, dass der Vorwurf der Majestätsbeleidigung lediglich genutzt wurde um gegen die Redakteure vorzugehen. Die kaisertreue Presse reagierte am Tag darauf mit Spott auf die Veröffentlichung der Pläne und ist der Ansicht, die Geschichte sei „selbst für die heißesten Hundstage zu lebhaft“, wie die „Tägliche Rundschau“, welche die Geschichte für einen verspäteten Aprilscherz hielt, schreibt. Oder in den Worten des „Berliner Tageblatts“ von „merkwürdigen, wenn nicht gar ungeheurlichen Einzelheiten“, wo hinterfragt wird warum der Vorwärts nicht benennen könne, welche Hofkreise solche „finsteren tiberianischen Pläne schmiedet“. Insgesamt sei der Bericht ein „Luftschloss“ der sozialdemokratischen Zeitung. Die „Berliner Neusten Nachrichten“ bezeichnen denn Artikel schlicht als „Unsinn“, während das Blatt "Die Post“ die Pläne ein Schloss auf Pichelswerder zu bauen zwar für möglich hält, was ja aber im Angesicht der häufigen Besuche des Kaisers auch „gar nicht so absurd“ sei. In die Defensive geraten antwortet der Vorwärts darauf am 18.08. mit einem Artikel in denen die genannten Zeitungen zitiert werden. Dabei wird ihnen vorgeworfen als – in Anführungszeichen – seriöse Blätter „schalkhaft“, im Moment der Veröffentlichung über den Vorwärts zu spotten. Sollte sich die Geschichte jedoch als wahr herausstellen, so würden Sie ihre Artikel sicher mit dem Satz „wie wir schon vor längerer Zeit mitteilen konnten…“ beginnen. Des Weiteren sei es „auffällig“ dass ein solches Blatt (speziell das "Berliner Tageblatt“) „sich so viel auf seine hervorragenden Informationen zugutetut“, nun aber die Pläne nicht bestätigen könne, welche bereits „schwarz auf weiß“ bestehen würden. Insgesamt seien die Pläne zwar absurd, die Absurdität falle jedoch nicht dem Vorwärts, sondern den „hohen Projektemachern“ „zur Last“. Der "Post“, welche die Pläne ja für teilweise möglich, aber ungefährlich hielt, wirft der Vorwärts vor, bereits die offizielle Stellungnahme vorzubereiten und nennt sie naiv. Am nächsten Tag folgt ein ähnlicher Artikel, da die "Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ berichtet hatte, „dass die ganze Sache maßgebenden Ortes als Hundtagsgeschichte bezeichnet worden ist“. Offizielle Stellen hatten die Existenz der Pläne also auf deren Anfrage hin verneint. Der Vorwärts kommentiert dies damit, dass wohl entweder an den falschen Stellen nachgefragt oder die Zeitung angelogen worden sei, da man selbst Beweise für die Existenz der Pläne habe. In der folgenden Berichterstattung findet eine Fokussierung auf den Begriff „Hundtagsgeschichte“ statt, welche synonym für die offizielle Position zur Affäre genutzt wird. Kurz darauf, am 21.08., erfolgten zwei Hausdurchsuchungen in den Redaktionsräumen des Vorwärts, sowie in der Wohnung Carl Leids – Anlass für diese, am Tag darauf einen Artikel namens "Kaiserinsel-Razzia" zu veröffentlichen. Zunächst nutzt die Zeitung die Razzia als Argument, dass sie mit Ihrer Berichterstattung wohl Recht hatte, wobei sie immer wieder Seitenhiebe gegen die negativ berichtenden Tagesblätter austeilt und fasst zusammen: „Niemals fürwahr hat eine „lächerliche Hundtagsgeschichte“ einen so stattlichen und ausgezeichneten Teil der Staatsgewalt in Bewegung gesetzt, noch dazu in den Gerichtsferien“. Doch auch den Hausdurchsuchern gegenüber spart der Vorwärts nicht an Hohn. Auf die Konfiszierung der bereits erwähnten Ausgaben antworteten sie sarkastisch, dass man für die Polizei immer einige Ausgaben abzugeben habe, jedoch nicht so viele, dass sie in einer Nacht zweimal kommen könnte. Ebenso wird beschrieben wie die Beamten aufwendig einen zerrissenen Brief zusammensetzten, welcher sich jedoch als harmloser Leserbrief zum Artikel heraus stellte. Auch über die Begründung der Hausdurchsuchung macht sich die Zeitung, lustig: „Diesmal ist es aber ein unerhört schweres, kompliziertes und noch niemals dagewesenes zweischenkliges Verbrechen: Der Genosse Leid hat nichts weniger begangen als Majestätsbeleidigung in idealer Konkurrenz mit grobem Unfug“. Es wird weiterhin argumentiert, dass beide Vorwürfe unwahr seien und wenn überhaupt nur einer zutreffen könne, da sie sich widersprechen würden. Im Weiteren werden diejenigen, die laut dem Vorwärts von den Plänen wussten, aufgefordert eine Erklärung abzugeben, dass dem nicht so sei. Zu bereits veröffentlichten Statements der beiden Hauptbetroffenen - die Herren Ebhardt und von Trotha - argumentiert der Vorwärts diese würden den Anschuldigungen ausweichen. Auch in den folgenden Wochen berichtete der Vorwärts weiterhin über die Entwicklungen im Fall der Kaiserinsel und die Berichterstattung anderer Zeitungen, dabei lag der Fokus hauptsächlich auf der Verhaftung der Redakteure Leid und Kaliski. Die Artikel nahmen bisweilen große Teile der Titelseite ein, schafften es jedoch nicht mehr täglich in die Zeitung. Nachdem sich die Affäre nun bereits etwa eine Woche entfalten konnte, zog sie ebenfalls die Aufmerksamkeit größerer Satirezeitschriften auf sich. „Der wahre Jacob“ veröffentlicht Anfang September einen Artikel zum Zeitgeschehen in seiner Kategorie „Lieber Jacob“ in welchem Geschrieben wird: „Sehr wundern muss ick mir, was se woll mit de Pichelswerder vorhaben. De Norddeitsche Alljemeene sagt uff Ehrenwort, det allens jelogen is. Also wird et woll wahr sind. Mein Fremd Edeward, mit den ick ieber der Anjelejenheit Ricksprache nahm, is allerdings die Meinung, se wollen den neien Papst, den et in Rom nich mehr jefallen soll, in Pichelswerder stazjonieren.“ Die Zeitschrift nimmt den Fall also ebenso als absurd wahr und hält für das einzige Argument dafür, dass die Berichte der Wahrheit entsprächen, dass die kaisertreue Presse den Darstellungen widerspricht. Am 22.09. veröffentlicht der Vorwärts eine Illustration unter dem Titel „Ein Kaiserschloss“ und schreibt dazu dass es sich dabei um das Schloß handeln könne – aber nicht müsse -, welches auf Pichelswerder geplant sei. Ironischer Weise meldet sich auch der Wahre Jakob am selben Tag mit einer Karikaturen zur Thematik wobei es sich um eine comichafte Zeichnung – Titel: „Ein rätselhafter Plan“ - einer von Schlachtschiffen und Soldatenlagern umzingelte Festung auf einer Insel handelt unterschrieben mit den Worten: „Das oben reproduzierte Blatt wurde von einem unserer Leser in Berlin auf der Straße nach dem Spandauer Bock gefunden. Um den Verlierer zu ermitteln, der den Plan vielleicht dringend gebraucht, bringen mir ihn an dieser Stelle zum Abdruck.“ Hierbei sind eindeutig die Redakteure des Vorwärts Ziel des Spottes, welche ja mehrfach behauptet haben Beweise für ihre Behauptung zu haben aber auch nach Wochen, weder in der Zeitung, noch vor Gericht, im Stande waren diese vorzulegen. Als sich der Prozess Anfang Oktober 1903 seinem Ende zuneigt, steigt auch erneut das Interesse am Geschehen, in den linksgerichteten Medien herrscht Empörung über eine erneute Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung vor. Zuallererst natürlich im Vorwärts, welcher die Verurteilung als ungerechtfertigt ansieht und argumentiert dass die Rechtsauslegung der Behörden nicht mit der öffentlichen Wahrnehmung übereinstimmen würden, räumt aber ein dass sie sich in Bezug auf die Pläne geirrt haben könnten. „Der wahre Jacob“ veröffentlichte eine weitere Karikatur, die jedoch diesmal die Behörden und nicht den Vorwärts angriff: Ein großes Gebäude auf einer Insel mit dem Untertitel: „Das Gerücht, daß auf der Insel Pichelswerder ein Kaiserschloß erbaut werden soll, findet jetzt eine einfache Erklärung. Man will dort ein großes Gefängnis — vorgesehen sind drei Millionen Zellen — für alle Majestätsbeleidiger - und verdächtige Individuen errichten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß ein solches „Schloß" sehr beruhigend wirken wird.“ Die Satirezeitschrift „Die Jugend“ veröffentlicht hingegen ein Märchen, welches von einem Redakteur des Vorwärts handelt, der auf einem Fluss eine „rothe Ente“ zu erblickt. Dies berichtet er seinen Freunden, welche es nach dessen Erzählung in ihrer Zeitung abdrucken. Nach dem die Affäre damit allmählich zu Ende gekommen war wurde sich zumeist nur darauf bezogen um die Unglaubwürdigkeit von Berichten des Vorwärts zu assoziieren. Letztendlich wurden die beiden für den Artikel verantwortlichen Redakteure des Vorwärts Carl Leid und Julius Kaliski zu je 9 und 4 Monaten Haft verurteilt. Leid verlor zudem sein Amt als Abgeordneter für die SPD in der Berliner Stadtverordnetenversammlung, in welche er im Jahr zuvor gewählt worden war. In Kombination mit einem kurz zuvor veröffentlichten Artikel im Vorwärts, welcher dem Großindustriellen Friedrich Alfred Krupp homosexuelle Neigungen zuschrieb und welcher als Sensationshascherei wahrgenommen wurde, verlor der Vorwärts deutlich an Kredibilität. Von sozialistischer Seite wurde die Forderung den Majestätsbeleidigungsparagraphen abzuschaffen immer lauter. An den beschriebenen Reaktionen ist gut zu sehen, wie aus einer grundsätzlich sehr schwachen Anfangsinvektive erst durch die Reaktionen darauf eine Affäre konstruiert wurde, die sich fast bis in die höchsten Ebenen des Staates zog. Es kann als höchst unwahrscheinlich angesehen werden, dass der Kaiserinsel Artikel große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätte, wäre er in anderen Medien nicht aufgegriffen worden. Das Gleiche gilt, wäre er von der Zeitung einer anderen politischen Strömung veröffentlicht worden. Die Sozialdemokratie war jedoch wie bereits der Fall von Kurt Eisner zeigte, weiterhin im Fokus der Behörden, die den juristischen Weg suchten sobald sich eine Gelegenheit ergab. Oder wie Karl Liebknecht schreibt, als er (aus Sicht der Verteidigung) über die Verhandlungen reflektiert: "Im neuen Deutschen Reiche wie in allen absolutistischen oder halb absolutistischen Staaten pflegt die Staatsgewalt, wo immer sie anfängt, sich unsicher zu fühlen, mit besonders krankhafter Empfindlichkeit auf alle wirklichen und vermeintlichen Angriffe gegen den Monarchen zu reagieren. [...]. Gib mir die „Tendenz" einer Zeitung, und ich will dir aus jeder Zeile eine Majestätsbeleidigung „konstruieren". [...]. Denn: „Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe." Dennoch: Die beiden Redakteure blieben auch nach Ableistung ihrer Haftstrafen politisch aktiv. Die Spuren von Julius Kaliski verlieren sich zwar für einige Jahre, nach Ende des ersten Weltkrieges wird er jedoch Mitglied des Großberliner Arbeiter- und Soldatenrates und darauf folgend Redakteur bei den sozialistischen Monatsheften. Carl Leid wurde 1905 zurück ins Stadtparlament gewählt und gehörte diesem bis 1921 an und war in dieser Zeit auch teilweise Redakteur der USPD-Zeitung "Freiheit". Ab 1921 war er Bürgermeister des Stadtteils Berlin- Wedding, ein Amt welches er bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten verteidigen konnte. [P.F.]3. Fall Wendlandt Der abschließende Fall unserer Betrachtung soll neben der Rolle des Militärs in der Angelegenheit der Majestätsbeleidigung, zugleich die Tragweite invektiver Handlungen veranschaulichen. Während in den vorangegangen Fällen das Ende der Haftstrafe zugleich auch die Invektivitätspirale beendete, dient hier das Militär als Katalysator und macht sie erst möglich. Dem Militär an sich stand die Bevölkerung des Kaiserreichs eher wohlwollend entgegen, eine Vorstellung die nach dem ersten Weltkrieg sichtlich ins Wanken geriet. Die eher elitäre Preußische Wehrpflicht von 1813 war mit der Reichsgründung zu einer allgemeinen Wehrpflicht ausgebaut worden. Das s.g. Einjährige Freiwillige, einer prestigeträchtigen und um zwei Jahre verkürzten Ausbildung zum Reserveoffizier, stand nun allen erfolgreichen Abiturienten offen. Wer die Kosten dieser Ausbildung tragen konnte, erschloss sich so die höchsten Gesellschaftlichen Kreise. Die Möglichkeit währenddessen auch noch zu studieren, hatte bereits Friedrich Engels dazu veranlasst diesen Weg eingeschlagen. Auch deshalb galt ein Offiziersrang selbst unter Sozialdemokraten die dem Militarismus oder einem Krieg ablehnend gegenüber standen, als etwas Ehrenhaftes. Gleichsam waren bekennende Sozialdemokraten in der Armee nicht willkommen, der Aufenthalt in Schänken mit vorwiegend "roten" Gästen für Soldaten sogar strengstens verboten. Erich Wendlandt, war nun also 1887 mit 20 Jahren Wehrpflichtig geworden, konnte sich aber erfolgreich an der Universität in Breslau im Fach Philologie einschreiben. Deswegen hatte er bis 1891 "Ausstand", durfte also nicht zum Militär eingezogen werden. Sein Anrecht auf den einjährigen Freiwilligendienst hatte er, nicht zuletzt wegen Starker Kurzsichtigkeit und fehlendem Geld zurückgestellt. So bewarb er sich stattdessen, kurz vor Ende seines Studiums, bei der sozialistischen Lokalzeitung Breslaus, der Volkswacht. In seiner Tätigkeiten als zweiter Redakteur wurde er fortan in regelmäßigen Abständen zu Haft oder Geldstrafen verurteilt. Mal wegen angeblicher Beamtenbeleidigung, mal wegen Verfassen von kritischen Artikeln. In Breslau war Genosse Wendlandt deshalb zu dieser Zeit sowohl bei der Partei als auch bei der Polizei eine bekannte Person. Vor allem die Haftstrafen brachte ihn letztlich doch in Besorgnis um seinen Militärdienst, weswegen er sich, noch in Haft, an den Landrat von Breslau, Georg von Heydebrand und der Lasa wandte. Jener anerkannte Verwaltungsjurist, sandte ihm die Empfehlung zurück, sich, trotz der Gefängnisaufenthalte und den studiumsbedingten Verzögerung, sobald als möglich beim Militär zu melden. Der genaue Inhalt der Anfangsinvektive die ihn in diese missliche Lage gebracht hatte, ist leider nicht erhalten geblieben. Die Überschrift "Wozu unsere Söhne zum Militär müssen" legt aber eine Verächtlichmachung der Kaiserlichen Armee nah, für die er damals wegen Majestätsbeleidigung zu einem Jahr Haft verurteilt worden war. Frisch aus der Haft entlassen und nunmehr auch ohne Anstellung, zog Wendlandt, die Empfehlung ignorierend, im Dezember 1893 mit seiner Familie von Breslau nach Magdeburg. Weswegen ist nicht bekannt. Hier erhielt er erneut eine Anstellung als Redakteur, diesmal bei der SPD nahen Magdeburger Volksstimme. Die Zivilbehörde wurde am 23sten Januar 1894 auf seinen Militärausstand aufmerksam und zwang ihn am 27. seinen Dienst anzutreten. Da er nunmehr fast 27 war, und die reguläre Pflichtausbildung mit dem 28sten Lebensjahr endete, blieb ihm wohl wenig anderes übrig als von seinem einjährigen-freiwilligen Anspruch Gebrauch zu machen. So wurde Wendlandt schließlich in das 66. Regiment aufgenommen. Es ist denkbar, dass er zur Finanzierung seiner Ausrüstung einen Kredit aufnehmen musste. Wendlandt hoffte nun, dass sein ziviles Strafregister früher oder später bekannt und er somit aus dem Militär ausgeschlossen werden würde. In diesem Fall, so sein Plan, wäre ihm eine akzeptable Haftstrafe auferlegt worden und sein Dienst an der Waffe wäre für immer passé gewesen. Doch es sollte gänzlich anders kommen. Er wurde nämlich kurz darauf gegen seinen ausdrücklichen Willen von Magdeburg nach Torgau nicht versetzt sondern transportiert wie die Volksstimme damals schrieb. Hier verbrachte er 3 Monate in Militärarrest. Anstatt ihn nach Verbüßen seiner, wie es später hieß "Säumnisstrafe" aus dem Militär auszuschließen, lies man ihn Wissen, dass sein Anspruch auf Freiwilligkeit hinfällig sei. Sämtliche seiner Gesuche auf Befreiung vom Militärdienst wurden abgelehnt, zwei Jahre müsse er dienen, so das Militärgericht. Bei der darauffolgenden Sitzung stellte das Militärgericht sogar fest, dass Wendlandts Strafregister dem Militär nicht würdig sei und seine Dienstzeit nunmehr 30 Monate betragen solle. Damit lag seine veranschlagte Dienstzeit 6 Monate über der vorgeschrieben Dauer. Während die Aberkennung des Anspruchs als s.g. Ehrenstrafe fungierte, die für so einen Fall gesetzlich vorgesehen war, kann die zusätzliche Dienstverlängerung als Gegeninvektive eingestuft werden. Die Militärgerichte setzten sich, entgegen den Zivilen Gerichten, fast ausschließlich aus rechtsfremden Militärpersonen zusammen. Einen Sozialdemokraten der das Militär herabsetzte, selbst herabzusetzen indem man ihn dazu Verurteilte in selbigem länger dienen zu müssen, weißt darauf hin das Wendlandts "vergehen" sehr persönlich genommen wurde. Doch selbst das genügte noch nicht. Man brachte ihn kurz darauf in die Arbeiterabteilung Ehrenbreitenstein (nahe Koblenz) und degradierte ihn zum Arbeitersoldaten. Über dieses ungewöhnliche Vorgehen berichtet dann auch erstmals der Vorwärts am 02. August 1894. Als Arbeitssoldat (gebrandmarkt), musste er fortan Garten-, und Reinigungsarbeiten verrichten. Dienstbeginn war 3.45 Uhr, im Sommer ab 5 im Winter ab 6 jeweils bis 21 Uhr. Die schwersten Arbeiten sollen im, Gerüchten zufolge, erspart geblieben sein. Seine dortigen Vorgesetzten hatten wohl Mitleid mit ihm gehabt. War Wendlands erste Verurteilung nur eine kleine, unscheinbare Randnotiz unter vielen gewesen, so avancierte sein Fall, mit zunehmender Vehemenz der von Seiten der SPD gegen die Arbeiterabteilungen vorgebrachten Argumente, zu immer größerer Bekanntheit. Die Partei forderte schon länger eine Reform des Militärstrafgesetzbuchs und eine allgemein humanere Behandlung im Militär. So kam es das August Bebel, der für die SPD von 1867 bis 1913 mit Unterbrechung im Reichstag saß, dort am 4. März 1895 einige Fälle von Misshandlung im Militär darlegte, darunter auch erstmals den Fall Wendlandt. Er schloss seine Ausführungen mit den Worten: "Gegen eine solche ungerechte und nach unserer Auffassung auch durchaus ungesetzliche Behandlung von Männern, die Sozialdemokraten sind, müssen wir uns aufs allerentschiedendste aussprechen." An dieser Stelle sei noch angemerkt, das die Reden im Reichstag, wie auch heute noch üblich, stenographisch festgehalten wurden. Zwar Genossen die gewählten Abgeordneten während der Ausführung ihres Amtes Immunität, dennoch bewahrten sie einen höflichen Ton um auch bei hitzigen Debatten einer eventuellen Verhaftung vorzubeugen. Walther Bronsart von Schellendorf, von 1893 bis 1896 Kriegsminister bezog auf Bebels Ausführungen hin zum Fall Wendlandt wie folgt Stellung: "Die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Dienst wurde ihm entzogen, weil er sich nicht rechtzeitig gemeldet hatte und sich eines Vergehens schuldig gemacht hatte, welches, wenn er es im Dienst begangen hätte, seine Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstands zur Folge gehabt hätte, nämlich die Majestätsbeleidigung. Während er sich bei der Truppe befand, kam zur Sprache, daß gegen ihn noch eine Anzahl Untersuchungen schwebten beim Zivilgericht. Für die Armee besteht nun die Vorschrift, daß, wer vor seiner Einstellung in die Armee sich eines Vergehens schuldig gemacht hat, zu entlassen ist, wenn voraussichtlich die Strafe mehr als 6 Wochen beträgt. Ist es weniger, so ist das Militärgericht zuständig. Es wurde nun in diesem Falle angenommen, daß die Strafe voraussichtlich nur 6 Wochen, jedenfalls nicht darüber betragen werde. Bei der Untersuchung, die bei dem Gericht der 8. Division geführt wurde, ergab sich, daß die Verfehlungen des Herrn Wendtlandt doch ziemlich erhebliche waren; das Gericht hat deshalb nachher nicht auf 6 Wochen, sondern auf 3 Monate erkannt. Das war nicht zu ändern.[...] Nachdem diese Bestrafung erfolgt war und dabei doch Dinge zur Sprache gekommen waren, die es wünschenswerth erscheinen ließen, ihn nicht weiter bei der Truppe zu behalten, wurde er zur Arbeiterabtheilung versetzt. Die Truppe wäre aber nach den gesetzlichen Bestimmungen
vollständig berechtigt gewesen, ihn gleich nach der ersten Einstellung zur Arbeiterabtheilung zu versetzen ; denn nach den bestehenden Vorschriften kann jedermann, der sich vor seinem Eintritt der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht hat, zur Arbeiterabtheilung versetzt werden. Damit sind die Fälle Wendtlandt, Hirschberg u. s. w. erledigt." Schellendorf zeigte hier, trotz seiner Bemühungen das Vorgehen als normal und rechtskonform darzustellen, auf wie durch eine Majestätsbeleidigung aus einem "ehrenwerten" Soldaten fast automatisch ein erniedrigter Arbeitersoldat wurde. Laut Stenographischem Bericht wird der Kriegsminister während seiner Schilderung mehrmals von "Heiterkeit" unterbrochen. Für ihn ist Wendlandts Fall eine Lappalie, die Vorwürfe der SPD geradezu lachhaft und nicht wenige Reichstagsabgeordnete scheinen seine Einschätzung zu Teilen. Als Wendlandt nun am 30sten Dezember 1895 als vorbildlicher Arbeitersoldat, aus dem Militärdienst ausschied, wurde seine Freilassung im Vorwärts entsprechend gewürdigt. Ob die Debatte um ihn seine vorzeitige Entlassung förderte ist nicht belegt. In seiner Not wieder ohne Arbeit zu sein, wandte er sich zuerst an die SPD und später an seinen ehemaligen Hauptmann. Sein Hoffen auf ein Parteiamt lehnte der Vorstand ab, er sei für ein solches Amt nicht geeignet. Sein Ortsverband verschaffte ihm jedoch eine Hilfsarbeiterstelle bei der "kaufmännischen Orts-Krankenkasse". Nach weiteren eindringlichen Briefen sandte die Parteileitung ihm die beachtliche Summe von 500 Mark um seine Angelegenheiten Regeln zu können, ein weitergehender Schutz durch die Partei käme aber nicht infrage. Sein ehemaliger Hauptmann wiederum sandte ihm 160 Mark, in dem Glauben Wendlandt sei von den Sozialdemokraten abgefallen und sozusagen geläutert worden. In einem Dankesbrief macht der dann klar: er bleibe bekennender Sozialdemokrat. Als 3 Monate später am 23sten März 1896 erneut die Arbeiterabteilungen und damit auch der Fall Wendlandt im Reichstag thematisiert wurden, ergriff diesmal von Schellendorf die Initiative und überraschte die Abgeordneten mit Vorlage des Briefwechsels. Der Hauptmann hatte sämtliche Briefe weitergeleitet und inzwischen zu Protokoll gegeben, dass er niemals wissentlich einem Sozialdemokraten geholfen hätte. Wendlandt war kompromittiert worden. Mit einem Interview im Hamburger Echo, der nach dem Vorwärts zweitwichtigsten sozialdemokratischen Zeitung, versuchte er die Vorgänge im rechten Licht darstehen zu lassen um nicht als Verräter oder Heuchler zu gelten. Er räumte Fehler ein, Missverständnisse und sprach sich energisch dagegen aus wegen den Sozialdemokraten in diese Situation geraten zu sein, wie es der Kriegsminister öffentlich dargestellt hatte. Doch das sollte alles nicht helfen. Der Vorwärts vom 29. März analysierte auf der Titelseite ausführlich die neue Beleuchtung des Falles. Wendlandt erschien im Reichstag "als ein Opfer sozialdemokratischer Undankbarkeit und als einen Gegenstand zärtlicher Fürsorge eine Hauptmannes". Da am gleichen Tag Bebels 70ster Geburtstag gefeiert wurde, fiel das Gesamturteil aber glimpflich aus. Dennoch, von nun an sollte nie wieder vom "Genosse" sondern nur noch von Herrn Wendlandt die Rede sein. Sein ehemaliges Blatt, die Volksstimme Magdeburg widmet dem Fall sogar eine ganze Seite und stellte ihn, mit Verweis auf das an ihn gesendete Geld als eine Art Gauner dar, der bei Freund und Feind die Taschen lehrt. Derartige Herabwürdigung von Seiten der einstigen Unterstützer zeichnet die besondere Ambivalenz dieser Invektivitätspirale nach. Erst nach mehreren Monaten schaffte er es seinen Ruf wiederherzustellen. Ausschlaggebend war wohl der Artikel "Zur Reform des Militärstrafgesetzbuches - ein persönlicher Beitrag von Erich Wendlandt-Magdeburg." für "die neue Zeit". Als Theoriezeitschrift des linken Spektrums, hatte sie damals auch internationale Beachtung gefunden - Marx und Engels schrieben ebenfalls Artikel. In seinem Beitrag zog Wendlandt über die Militärgerichte her und stellte deren Inkompetenz gegenüber Zivilen Gerichten heraus. Sein Prozess: eine Farce, das Urteil: gefällt in Abwesenheit des Angeklagten. Er schreibt: "[...], daß nach meinem Dafürhalten der geschilderte Prozeß eine offenbare Ungeheuerlichkeit und Wiedersinnigkeit in sich schließt; Abnormitäten, die nur hinweggeschafft werden können durch eine einschneidende Reform der Militärgerichtsbarkeit." In seiner Verurteilung der herrschenden Zustände, und seiner herabwürdigenden Darstellung der Militärgerichte, stimmt er in die Invektiven der SPD gegen die selben Akteure ein. Dies stellt seine sozialdemokratische Glaubwürdigkeit wieder her und beendete jene Invektiven die die Partei ihm gegenüber aufrechterhielt. Bei der Krankenkasse stieg er schließlich zum Rendanten, also einem Rechnungsführer auf. Der Partei blieb er als Statistiker für Wählerwanderung und Armenzensus erhalten. Leider verlieren sich nach 1903 belastbare Spuren über sein weiteres Leben.
[ALLE]
Fazit (gesprochen M.J.)
Allen Fällen sind die Probleme mit dem damaligen Rechtsstaat gemein. Sie veranschaulichen, dass sich junge Redakteuren aus dem politisch linken Spektrum im Kaiserreich schon bei eher harmlosen Äußerungen in Richtung des Umfelds des Kaisers angreifbar machen konnten. Sie hatten häufig mit schweren Sanktionen von staatlicher Seite zu rechnen. Der Majestätsbeleidigungsparagraph diente dabei wohl eher als Werkzeug zur Abschreckung, als zum Schutz der staatlichen Repräsentanten. Selbst leichte Kritik wurde zum Anlass genommen um zu versuchen die staatliche Kontrolle über die Presse aufrechtzuerhalten. Das Umfeld der Sozialdemokraten konnte dies jedoch vielfach verhindern, oder zumindest den Geschädigten unter die Arme greifen. Diese harten Strafen sorgten daneben auch für soziale Beeinträchtigung, denen die Partei nicht immer begegnen konnte. Aus der institutionalisierten Invektive in Form der Sozialistengesetze war ein Netz aus möglichen Vorverurteilungen geworden, das die kritische Berichterstattung torpedierte. Selbst wenn die Pressegesetze die Selbige als Frei titulierte, zeigen die dargelegten Fälle deutlich, dass diese Freiheit in dem Moment eingeschränkt werden konnte, sobald sozialdemokratische Tendenzen erkennbar waren. Aus heutiger Sicht, wären viele diese Artikel wohl eher in den Bereich der Satire einzuordnen. Die Invektivitätsverläufe waren damals durch sich antagonistisch gegenüberstehenden Menschengruppen geprägt. Die Überzeugungen wurden schriftlich fixiert und sollten den sozialdemokratischen "Gegner" oder "Feinde" entweder in aller Öffentlichkeit unglaubwürdig machen oder zumindest herabzusetzen. Seit damals hat sich die Medienlandschaft entschieden verändert. Nicht mehr Presseerzeugnisse sind ausschlaggebend sondern Fernsehbeiträge oder immer häufiger Mitteilungen auf Social-Media Plattformen. Im Fall einer ernsten Beleidigung müsste unser Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier, heute aktiv eine Untersuchung veranlassen. Der Staatsapparat geht wegen der umfangreichen Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit nicht mehr selbständig derartigen Beleidigungsdelikten nach. Der Thailändische Staat dagegen, nutzt das Instrument des Majestätsbeleidigungsparagraphen weiterhin in der ursprünglichen Form. Hier ist die internationale Berichterstattung gefragt, Aufmerksamkeit für all das zu schaffen, was hinter den eigenen Staatsgrenzen passiert, so wie die Sozialdemokraten damals Missstände im eigenen Land angeprangert haben.
Die „Kladderadatsch-Affäre“
In diesem Podcast werden die Mechanismen der Invektivität untersucht, welche eine Schmähkampagne gegen Personal des Auswärtigen Amtes in ein Duell zwischen Alfred von Kiderlen-Wächter, einem Geheimrat des Auswärtigen Amtes, und Wilhelm Polstorff, einem Redakteur der Satirezeitschrift „Kladderadatsch", münden ließen. Hierzu werden Konzepte von Männlichkeit und Ehre im deutschen Kaiserreich um 1890 auf ihre invektiven Potential hin abgeklopft.
Der Beitrag wurde recherchiert und konzipiert von Jakob Posch, Martin Mirle, SN und MW.
Sprecher:
Ehrexperte: Martin Mirle
Invektivitätsexperte: Jakob Posch
Sprecherin Gedicht: SN
Moderation: Dorothea Dils
Literaturverzeichnis als Pdf-Download.
18. April 1894. Es ist Frühling im Grunewald, einem kleinen Wäldchen nahe Berlin. Zwei Männer stehen sich zum Duell mit Pistolen gegenüber. Fünf Schüsse werden entscheiden. Der Herausforderer bleibt unverletzt. Seinen Gegner jedoch trifft ein Schuss. Den Folgen dieser Verletzung wird er einige Jahre später erliegen. Doch dieses Duell ist nur das Finale eines Streits und sollte ein großes öffentliches Ereignis werden.
Wer sind diese Männer? Der Herausforderer ist der Geheimrat Alfred von Kiderlen-Wächter, welchen wir im Folgenden „Kiderlen" nennen. Als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes ist er seit einigen Monaten einer Schmähkampagne der Satirezeitschrift „Kladderadatsch" ausgesetzt, deren Redakteur, Wilhelm Polstorff, er aus diesem Anlass zum Duell gefordert hatte. Der „Kladderadatsch", ein bismarcktreuer und populärer Vertreter der zeitgenössischen Satirekultur, veröffentlichte eine ganze Reihe von Schmähungen, die sich gegen das Auswärtige Amt richteten - explizit gegen Friedrich von Holstein, Alfred von Kiderlen- Wächter und Fürst Friedrich von Eulenburg-Hertefeld. Grund dafür war ein Verdacht des „Kladderadatsch", welcher dieses Trio des Auswärtigen Amtes verdächtigte, Vetternwirtschaft zu betreiben und Ämter mit ihnen günstig gewogenen Personen zu besetzen. Aus privaten Briefen der Angegriffenen geht hervor, dass diese einen Informanten in den eigenen Reihen vermuteten, welcher den „Kladderadatsch" mit internen Informationen belieferte.
Satirische Angriffe auf Politiker waren im 19. Jahrhundert, wie auch heute, keine Seltenheit. Was veranlasste Geheimrat Kiderlen zu einem solchen Schritt, der ihn das Leben hätte kosten können? Warum ein Duell, wenn ihm die Möglichkeit einer Strafverfolgung zur Verfügung stand? Diesen Fragen wollen wir uns heute in diesem Podcast widmen. Dieser entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Invektivität" der TU Dresden. Eine Gruppe des Seminars „Invektivität im politischen Machtkampf des Kaiserreichs" hat sich mit der sogenannten „Kladderadatsch-Affäre" beschäftigt. Durch den Podcast begleiten mich Jakob und Martin. Mein Name ist Dorothea Dils und ich moderiere heute durch diesen Podcast.
Schauen wir zurück auf das Jahr 1894. Martin, wie würden sich denn die politischen Umstände der Zeit beschreiben lassen?
Ehrenexperte :
Das noch junge deutsche Kaiserreich war einerseits auf dem Weg in die Moderne, andererseits geprägt von jahrhundertealten Moralvorstellungen und Gesellschaftsbildern. Das größte Thema der deutschen Politik dieser Jahre war gleichzeitig eines der größten Themen in der kurzen Geschichte des Reiches überhaupt: mit der Krönung Wilhelm II. begann der sogenannte „Neue Kurs". Er folgte dem Abdanken Bismarcks, einer der einflussreichsten Personen des Kaiserreichs, selbst als dieser den Reichskanzlerposten an seinen Nachfolger Leo von Caprivi abgetreten hatte. Dieser Wechsel bedeutete auch einen Wechsel in der Politik und eine zunehmende Fokussierung auf das Militärwesen. Die Richtung des Neuen Kurses spaltete die Gesellschaft. Ohne den politisch starken Bismarck konnte Wilhelm II. viel Macht und Aufmerksamkeit auf sich vereinigen. Zeitgenössische Stimmen bescheinigen ihm allerdings eine Unfähigkeit, mit diesen umzugehen sowie eine ausgeprägte Weltfremdheit in Bezug auf die Bedürfnisse des „einfachen Volkes". Wilhelms öffentliches, extravagantes Image stand im Gegensatz zu der Krise, in der sich die Regierung nach der Entlassung Bismarcks befand.
Moderatorin:
Nun geht es ja um eine Schmähkampagne gegen das Auswärtige Amt. Wie sah es denn dort unter dem „Neuen Kurs" aus?
Ehrenexperte:
Unter Wilhelms „Neuen Kurs" kam es auch zu Veränderungen in der Außenpolitik und im Auswärtigen Amt. Während letzteres unter Bismarck eine relativ kleine Stelle war, konnten unter dem außenpolitisch unerfahrenen Kanzler Caprivi und dessen ebenfalls unerfahrenen Staatssekretären einzelne Diplomaten besonders hervortreten. Dazu zählte vor allem Friedrich von Holstein, der bereits unter Bismarck eine Opposition gegen dessen Russlandpolitik gebildet hatte, welcher sich auch Kiderlen anschloss. Er übte auch starken Einfluss auf den Kaiser aus, zu dem er über den Generalstab und Mittelsmänner wie Eulenburg Kontakt hatte. So wollte er, dass sich der neue Monarch von der Außenpolitik Bismarcks löst, wozu Holstein sich bemühte, Caprivi ins Amt zu holen. Außerdem erreichte er, dass an Stelle von Bismarcks Sohn, den Wilhelm II. favorisiert hatte, ein außenpolitisch unerfahrener Staatssekretär eingesetzt wurde, sodass dieser auf Holsteins Urteil bezüglich der Außenpolitik angewiesen sein würde. Die Außenpolitischen Änderungen wurden jedoch von Kritik verrissen, zum Beispiel wurde bemängelt, dass der Fokus auf den Kolonien anstatt auf der kontinentaleuropäischen Sicherheitspolitik läge.
Moderatorin:
Die eben angesprochene Kritik an den außenpolitischen Veränderungen fand doch sicherlich auch in der Presse Anklang, oder?
Invektivitätsexperte:
Die „Kladderadatsch-Affäre" begann am 3. Dezember 1893 mit einem Artikel des „Kladderadatsch", der zu der Einstellung eines neuen Botschafters in Konstantinopel Stellung bezieht. Darin ist die Schmähung noch nicht sehr deutlich erkennbar, allerdings beginnt hier die Kritik an der Vetternwirtschaft im Auswärtigen Amt. Denn der neue Botschafter stand Holstein sehr nahe und hatte bereits zuvor bei Eulenburg um eine solche Position gebeten. Kiderlen selbst hatte die Aussicht, im Sommer den Kaiser bei seiner Skandinavienreise zu begleiten. Hiernach folgten wöchentlich neue Artikel im „Kladderadatsch" zu dieser Problematik. Erneut ist die Personalpolitik der Aufhänger: Ein württembergischer Gesandter, der zuvor beim Kaiser in Kritik geraten war, wurde durch einen kaisertreuen und Eulenburg nahestehenden Diplomaten ersetzt. Im Verlauf der Affäre erschienen dann Artikel, die sowohl Holstein als auch Kiderlen und Eulenburg als listige Intriganten darstellten. Dabei war die zentrale Behauptung, dass diese Personen nach Beeinflussbarkeit und nicht nach ihrer Kompetenz einstellten. Die drei Männer werden dabei nie namentlich erwähnt, sondern erhielten Pseudonyme. Kiderlen wird bspw. „Geheimrat von Spätzle" genannt, sodass klar wird, an welche Person sich die Invektive richtet. Außerdem erhalten sie darüber hinaus auch markante Eigenschaften, die eine Identifikation möglich machten.
Die Artikel gewinnen im Verlauf der Zeit zunehmend an Polemik, wie wir in einem im Februar erschienen Gedicht noch später in diesem Podcast hören werden. Parallel zu den Artikeln im „Kladderadatsch" hatte Polstorff Briefe halb-öffentlich zirkulieren lassen. Ersterer gelangte jedoch über die „Frankfurter Zeitung" am 07. März 1894 (und anschließend über weitere Zeitungen) an die Öffentlichkeit. Darin nimmt Polstorff die Anschuldigungen und Schmähungen nicht zurück, sondern er steht dazu und übernimmt die Verantwortung. In einem zweiten, privaten Brief an seinen Verleger vom 17. März betonte er erneut seine Haltung. Dieser Brief fiel jedoch Kiderlen in die Hände, der daraufhin forderte, die Beleidigungen zurückzunehmen oder zu einem Duell anzutreten.
Moderatorin:
Er forderte ihn zum Duell?
Ehrenexperte:
Ja, denn einem jeden Duell ging eine Ehrverletzung voraus. Diese Kausalität von Ehre und Invektive war juristisch schon erkannt und im Strafgesetzbuch des Kaiserreiches festgehalten. Sie findet sich in den Abschnitten 14 und 15. Abschnitt 14 handelte Beleidigungen ab, Abschnitt 15 den Zweikampf. Trotz dem Aufwand und der Illegalität waren Duelle extrem populär und das auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Je höher die gesellschaftliche Schicht, desto ritualisierter war das Ganze. Es gab auf beiden Seiten der Duellanten noch Sekundanten, denen die genaue Organisation eines Duells oblag. Dabei handelten sie auch die Regeln der Duelle aus. In dem Prozess war es auch nötig, die Satisfaktionsfähigkeit des Kontrahenten anzuerkennen, also ob der Kontrahent ein Duell wert war. Das sollte unnötiges Risiko vermeiden. Dazu gab es noch verschriftlichte Kodizes und bei Bedarf wurden sogar Ehrengerichte einberufen.
In jedem Fall waren Duelle in der breiten Gesellschaft akzeptiert und sie garantierten eine große Öffentlichkeit. Damit wurde auch verbreitet, wer seine Ehre bewiesen hatte. Sich zu duellieren war zudem eine exklusiv männliche Sache - und Männlichkeit war erstrebenswert. Eigentlich leitete sich das Duellwesen in deutschen Gegenden grob von der mittelalterlichen Ritterlichkeit ab. Wilhelm II äußerte sich allgemein positiv dem Duell gegenüber. Er widersprach damit zum Teil dem Gesetz, doch da er Begnadigungsrecht besaß, konnte er das. Denn das Gesetz musste Duelle grundsätzlich verbieten, um Ausufern und Verlust des Machtmonopols zu vermeiden. Am Ende konnte immer noch vom Kaiser begnadigt werden
Moderatorin:
Du hast davon gesprochen, dass durch Duelle vor allem die Ehre wiederhergestellt wurde. So etwas ist für uns heute nur schwer vorstellbar. Welche Rolle nimmt die Ehre in der damaligen Gesellschaft ein?
Ehrenexperte:
Im Vergleich zu heute eine sehr viel bedeutendere. In der Gegenwart reden wir selten von Ehre, auch wenn „Ehrenfrau" bzw. „Ehrenmann" vor kurzem das Jugendwort war. Die westlich geprägte Gesellschaft verwendet den Begriff als Synonym für korrektes Handeln: Man ist ehrenhaft, wenn man den Respekt, das Vertrauen und das Ansehen seiner Mitmenschen genießt. In der Öffentlichkeitswahrnehmung ist das Konzept der Ehre hinter Bewertungskriterien wie Leistung und Erfolg getreten. Im 19. Jahrhundert dagegen spielte Ehre eine entscheidende Rolle: Diese legitimierte in gewisser Weise die eigene gesellschaftliche Position. Insbesondere Adelige, welche traditionell die mächtigen und einflussreichen Positionen besetzten, waren auf die Wahrung der Ehre angewiesen. Der Verlust der Ehre konnte die gesellschaftliche Position kosten. Besonders die Berufsgruppen der Mediziner, Anwälte, Angehörige der Börse und des Militärs hielten viel auf ihre Ehre. Ehrverletzungen wurden dort vor sogenannten Ehrengerichten intern verhandelt. In einem mehr und mehr durch das aufsteigende Bürgertum dominierten Staat hatte die Ehre auch eine identitätsstiftende Funktion inne. Sie diente der Abgrenzung gegenüber den als niedriger stehend wahrgenommenen gesellschaftlichen Schichten, welche durch ihre gesellschaftlichen Positionen über weniger Ehre verfügten.
Moderation:
Und wie konnte nun die von Dir angesprochene Ehrverletzung über Duelle wiederhergestellt werden? Wie hängen Ehre und das Duellieren zusammen?
Ehrenexperte:
Ehre wirkt sich auf die Tradition der Satisfaktionsforderung, sprich des Duellierens, aus. Grundsätzlich konnte eine Ehrverletzung nur ab einer gewissen sozialen Stufe erfolgen und das Austragen von Duellen war in adeligen bzw. militärischen Kreisen besonders angesehen. Wenn der in seiner Ehre Verletzte den Angreifer als gesellschaftlich zu geringfügig betrachtete, konnte er dessen Schmähung (gelassen) hinnehmen, ohne dass daraus Konsequenzen erfolgt wären. Bei allzu groben Beleidigungen wurde ein Gerichtsprozess geführt. Meist reichte jedoch eine Zurechtweisung, gewissermaßen „von oben herab".
Für ein Verständnis der größeren Definition halte ich auch zwei weitere Erscheinungen für betrachtenswert. Denn das Ehre und Duell auch ein sehr männliches Konzept waren, wird an der Ehre der Frau deutlich, um die sich die Männer häufig duellierten.
Für Aristokratie und Bürgertum bedeutend ist die Untertanenkultur per excellence. Dieses treudeutsche Wesen aus blinder Obrigkeitshörigkeit und Kaiserfanatik wurde sogar in einem eigenen Roman „Der Untertan" aufs Korn genommen. Ein übertriebener Nationalstolz und Rangeifer. Viel dieser Mentalität sorgte für unnötige Duelle.
Moderatorin:
Was bedeutet das hinsichtlich des Duells zwischen Kiderlen und Polstorff?
Invektivitätsexperte:
Die Ehrverletzung spielt eine entscheidende Rolle im Konflikt zwischen Auswärtigen Amt, vertreten durch Kiderlen, und dem „Kladderadatsch", vertreten durch Polstorff. Um die Mechanismen zu verstehen, die diese Ehrverletzung in einem Duell statt einer Gerichtsverhandlung münden ließen, bietet es sich an, dass wir uns mit dem Konzept der Invektivität befassen.
Moderatorin:
Der Begriff der „Invektivität" ist ja im Rahmen des Sonderforschungsbereiches entstanden und daher noch ein relativ neues Konzept. Kannst du es ein bisschen näher erläutern?
Invektivitätsexperte:
Der Begriff „Invektivität" kommt vom lateinischen Verb "inveho", hineinfahren, wobei man in diesem Kontext wohl eher von "hineinmarschieren" sprechen könnte. Gemeinhin bezeichnet man damit Schmähungen oder Beleidigungen aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Die kulturelle und gesellschaftliche Bedeutung der Invektive ist dabei durch nahezu alle historischen Epochen ersichtlich. Dies zeigt sich beispielsweise besonders stark in der Griechisch-Römischen Antike, deren poetische Invektiven tatsächlich den Großteil des überlieferten Schriftgutes stellen. In dieser Zeit wurden Invektiven als legitimes politisches Mittel, so wie man es heute beispielsweise als Satire versteht, erstmalig professionell betrieben. Im Prinzip dient das Konzept der Invektivität dazu, beim Angegriffenen Scham hervorzurufen und das öffentliche Ansehen dieses zu verringern. Zu diesem Zweck wird eine Invektive stets nur vor Publikum vorgetragen beziehungsweise präsentiert. Man spricht dabei vom "Dreieck der Invektivität" bestehend aus Schmäher, Geschmähten und dem Publikum.
Moderatorin:
Und wie verhält es sich in der vorliegenden Situation?
Invektivitätsexperte:
Nun Schmähungen sind, vom allgemeinen Zeitgeist einmal abgesehen, sehr subjektiv und kontextsensitiv. Was für eine Gruppe oder ein Individuum beleidigend oder erniedrigend ist, wird von anderen vielleicht sogar als lobend empfunden. Für wiederum andere ist manches nur in einem entsprechenden Kontext beleidigend. Für unsere Situation hier müssen wir uns also zunächst einmal vor Augen führen, wo der „Kladderadatsch" steht. Was seine Überzeugungen, Ideale und Werte sind, was er und seine Leserschaft als erstrebenswert ansahen, wozu sie aufsahen und was sie als verachtenswert ansahen.
Der „Kladderadatsch" bewunderte und unterstützte Bismarck sehr. Dieser war in ihren Augen nicht nur ein fähiger Politiker, sondern musste auch mit echten harten Konsequenzen leben. Anders als, beispielsweise, das Trio um Holstein, wurde er in seiner jüngeren Karriere nach einigen Konfrontationen mit anderen einflussreichen preußischen Politikern „an der Newa kaltgestellt" [Stupperich 1978, S.234] . Am Ende der „Kladderadatsch-Affäre" wurden Holstein und Co. jedoch nur „frappiert" [Kladderadatsch (10) 1894, S. 7]. Unter seinen Gefolgsleuten und Sympathisanten wurde er vor allem für seine Außenpolitik und seinen Umgang mit den Sozialdemokraten respektiert. Der „Neue Kurs" Wilhelms II. fand in den Augen der Bismarckfreunde kaum Zuneigung. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Wilhelms Vorgehen in diesen Belangen gegenteilig zu Bismarcks verlief und sich somit bspw. die ohnehin angespannten deutsch-russischen Beziehungen verschlechterten. Andererseits waren Maßnahmen, wie zum Beispiel Wilhelms Sozialpolitik, so erfolglos, dass die sozialdemokratischen Kräfte an Stärke und Zuspruch gewannen. Der „Kladderadatsch" sah in Wilhelm das Gegenteil von Bismarck: Einen unfähigen und arroganten Wunschdenker, statt eines fähigen und erfahrenen Soldaten.
Moderatorin:
Hätte der „Kladderadatsch" seine Angriffe dann nicht eher gegen den Kaiser statt gegen das Auswärtige Amt richten sollen?
Invektivitätsexperte:
Der Kaiser selbst bot sich als kein gutes Ziel an. Er und seine Ehre waren durch das Gesetz besonders stark geschützt. Somit wäre es für den „Kladderadatsch" viel zu riskant, diesen direkt anzugreifen. Unbelegte Vorwürfe galten im Reich als Schmähungen, was im Fall des Kaisers fatale Folgen für den Schmähenden haben konnte. Zudem war an seiner Macht und Position im Reich sowieso nicht zu rütteln. Da hätte man genauso gut auch eine Wand beschmähen können. Daher kamen Kiderlen, Holstein und Eulenburg, als Funktionäre im Auswärtigen Amt und Teil von Wilhelms persönlichen Klientelnetzwerks, als alternative Ziele sehr gelegen. Zudem konnte man durch sie den Kaiser auch von der sprichwörtlichen Anklagebank auf die Tribüne schicken und ihn somit seine fragwürdigen Personalentscheidungen vor Augen führen. Die Vorwürfe der Inkompetenz und Korruption waren leicht gefunden und die Darstellung war simpel genug, um nicht allzu große Probleme zu verursachen. Da Holstein bereits eine Geschichte von Vorwürfen vorzuweisen hatte und dennoch einen hohen Posten innehatte, schien es für den „Kladderadatsch" erwiesen, dass es ein „moralischer Eunuch" sehr weit im Reich bringen konnte.
Der Kaiser wurde nur indirekt kritisiert und das auch nur dadurch, dass nur ein schwacher Herrscher Korruption und Unfähigkeit dulden würde. Schön ist dies an dem Artikel „Die drei Männer im feurigen Ofen" zu sehen, der von drei treulosen Untertanen erzählt, die ihrem guten König so lange auf der Nase herumtrampeln, bis dieser sie am Ende in besagten Ofen wirft.
Moderatorin:
Dem Duell ging also eine regelrechte Schmähkampagne voraus. Eines der Gedichte, welches im Rahmen dieser von einem anonymen Verfasser veröffentlicht wurde, ist das „Lob der Feigheit". Das werden wir uns jetzt einmal anhören.
Gedicht
Lob der Feigheit
Eine Allgemeine Betrachtung
Den freien Mannesmut zu preisen,
Nicht recht der Mühe lohnt sich dies
Im deutschen Land, wo Gott das Eisen
Nach Arndt für Männer wachsen ließ.
Die Muth und freie Rede lieben,
Sind wert geringer Achtung nur,
Sie folgen instinktiv den Trieben
Der angeborenen Natur.
Doch den will rühmen ich und loben,
Der ernst und streng sich selbst erzieht,
Bis er sein innres Selbst gehoben
Auf eine höh're Stufe sieht,
Der alter Vorurteile Bürde
Entschloss'nen Sinnes wirft beiseit
Und von der lästgen Manneswürde
Mit scharfem Schnitt sich selbst befreit.
Nur zu! Das Streben wird gelingen
Dem stets erneuerten Versuch,
Und weit kannst du's im Leben bringen
Als ein moralischer Eunuch.
Stets klug und schmiegsam wie die Schlange
Gehst mit Geschick du deinen Pfad;
Glaub mir, es währt vielleicht nicht lange,
So bist du schon Geheimer Rat.
Ob man dann einen Intriganten
Auf offnem Markte auch dich nennt,
Ob von den Freunden und Bekannten
Dich mancher nur von fern noch kennt,
Zum Dienst gehst täglich du mit sichern,
Gleichmäß'gen Schritten leicht und froh
Und lässest deine Schreiber kichern
Dir hinterm Rücken im Bureau.
Heil dir, wenn so von allen Schwächen
Du völlig frei geworden bist,
Wenn dir, was auch die Menschen sprechen,
Dem Winde gleich im Rauchfang ist,
Wenn niemals du die immer gleiche,
Die liebenswürd'ge Ruh' verlierst,
Bis du zuletzt auch Backenstreiche
Mit einem Lächeln nur quittierst!
Das Höchste hast du dann errungen,
Und mancher biedre Bürger spricht:
"Was diesem Trefflichen gelungen,
Ich weiß wohl, mir geläng' es nicht.
So auszutilgen mit dem Stumpfe
Die angeborne Mannsnatur,
Das ist der höchste der Triumphe
Im schweren Fach der Selbstdressur!"
[o.A.: Lob der Feigheit, in: Kladderadatsch (7), 1894, S. 27]
Moderatorin:
Was lässt sich hier in Bezug auf Invektivität feststellen?
Invektivitätsexperte:
Das Gedicht richtet sich, wie die vorherigen Veröffentlichungen, gegen die Geheimräte Kiderlen und Holstein. Sie werden zwar nicht namentlich genannt, doch wird deutlich, dass sie gemeint sind. Wie in vorherigen Schmähungen werden dem Geheimrat in dem Gedicht Intrigen vorgeworfen. Dazu kommt hier, dass ihm die Manneswürde abgesprochen wird, indem ein Lob auf diejenigen ausgesprochen wird, die sich von deren Natur befreien können und somit eine „höhere Stufe" erreichen würden. Im Verlauf wird diese aber immer weiter gesteigert, wobei dem „moralischen Eunuchen" jegliche Moral aberkannt wird. Schließlich stellt der „Geheime Rat" als Intrigant die letzte Stufe der Übertreibung des Motivs dar. Hier wird nun vollends der Geheimrat als Ziel benannt. Die „innere Ruhe" des Geheimen Rats, mit der er alles angeht, auch wenn hinter seinem Rücken über ihn gesprochen oder er sogar geohrfeigt wird, könnte eine Anspielung auf die fehlende öffentliche Reaktion Kiderlens und Holsteins auf die Invektiven des „Kladderadatsch" sein. Selbst „Backpfeifen" würden sie hinnehmen, welche eine Anspielung auf die Invektive selbst sein könnte.
Moderatorin:
Wie sieht hier das vorhin angesprochene "Dreieck der Invektivität" aus? Was lässt sich über die Akteure sagen?
Invektivitätsexperte:
In diesem Fall bleibt der Verfasser anonym, aber Kiderlen und Holstein sind klar adressiert. Das Publikum wird durch die breitgestreute Leserschaft des „Kladderadatsch" vertreten, welche durch die liberale Ausrichtung vor allem in der Mittelschicht angesiedelt war. Die Auflagenzahl belief sich 1890 auf 50.000 pro Ausgabe. Das ist zwar gering im Vergleich zu anderen illustrierten Zeitschriften, aber angesichts der kontroversen Artikel können die Zahlen für eine satirische Zeitschrift als relativ hoch bewertet werden.
Moderatorin:
Und über welche Mechanismen funktionierte in diesem Fall die Beleidigung?
Ehrenexperte:
Bei dem Gedicht wird auf viele Eigenschaften abgezielt, die sich in der Ehrvorstellung bündeln. Diese wird unter anderem durch ein bestimmtes Männlichkeitsbild repräsentiert. Das "Lob", welches im Gedicht gegenüber Kiderlen ausgedrückt wird, ist durch die als Tugend formulierte „Selbstentmannung" auf geschickte Weise ins Gegenteil verkehrt. Interessanter Weise findet die Entmannung auch nicht über Effeminierung statt, sondern über die Aberkennung für einen Geheim Rat „ehrenhafter" Tugenden.
Die Zugehörigkeit zu einem Gender stellte schon in der Zeit ein wesentliches persönliches Identitätsmerkmal dar und in einer patriarchalen Gesellschaft per excellence wie dem Kaiserreich, bedeutet das soziale Konstrukt "Männlichkeit" ausgesprochen viel. Wenn auch in anderen Maßstäben, kann ich mich selbst 2021 noch zu einer der privilegiertesten Menschengruppen zählen - als weißer deutscher Mann.
Moderatorin:
Wie kam dieses Gedicht bei dem Geheimrat an?
Invektivitätsexperte:
Wir wissen nichts über eine Reaktion Kiderlens auf das Gedicht. Aus seinem Nachlass geht aber hervor, dass er den „Kladderadatsch" regelmäßig las und sich mit den Schmähungen gegen ihn auseinandersetzte.
Moderatorin:
Die Angriffe gingen nicht allein von Polstorff aus und richtete sich nicht ausschließlich gegen Kiderlen ...
Invektivitätsexperte:
Ja, tatsächlich. Für das Invektivitätsdreieck gilt: es muss deutlich werden, wer der Sender und wer der Empfänger ist. Zudem muss ein Publikum gegeben sein. Polstorff als Redaktionsleiter war zwar rechtlich für das Geschriebene verantwortlich, verletzte allerdings nicht persönlich die Ehre Kiderlens, wahrte also eine bestimmte Anonymität als Angreifer. Zudem blieb die Reaktionsmöglichkeit stark eingeschränkt, da die Zeitschrift den Autor des jeweiligen Artikels nicht benennen musste und einem Konterangriff ein konkretes Ziel gefehlt hätte.
Dann wurde allerdings -und das ist jetzt wichtig- am 7. März 1894 ein eigentlich privater Brief Polstorffs in der „Frankfurter Zeitung" veröffentlicht. Dieser benennt durch die Unterschrift Polstorffs eindeutig den Sender der Schmähung und auch der Empfänger ist durch die nicht gerade freundliche Erwähnung Kiderlens deutlich geworden. Ein zweiter Brief, der ihm in die Hände fiel, schränkte die Beleidigungen auf Kiderlen ein. Damit wurde der Konflikt, der relativ unpersönlich zwischen dem „Kladderadatsch" und dem Auswärtigen Amt stattfand, auf zwei Personen fokussiert und wie unter einem Brennglas verstärkt. Durch diesen waren nun auch allen die Identitäten der drei genannten und zentralen Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes bekannt. Aber das Wichtigste ist: Die Veröffentlichung in der Frankfurter Zeitung öffnete die Schmähkampagne einem breiten Publikum. So war nun nicht nur die Leserschaft des „Kladderadatsch" mit dem Thema vertraut. Der Brief wurde noch in anderen Tageszeitungen wie den "Münchner Neueste Nachrichten" abgedruckt.
Moderatorin:
Was bedeutete das für Kiderlen?
Ehrenexperte:
Aus seinem Nachlass geht hervor, dass er die Affäre zunächst sehr gelassen nahm. Zum Beispiel bat er in einem Brief vom 26. Februar 1894 (mit ironischer Gelassenheit) sogar um ein Exemplar des „Kladderadatsch" für seine Sammlung und machte sich über die Schmäher lustig. Er wurde allerdings zunehmend in die Ecke gedrängt. Durch seine hohe gesellschaftliche Position und seine Nähe zum Kaiser verfügte Kiderlen über ein hohes Maß an Ehre. Aber genauso war diese auch empfindlich gegenüber Angriffen. Seine politische Stellung verstärkte das noch, da sie ein hohes öffentliches Interesse, ein Publikum garantierte. Für Kiderlen bestand durch die Einbeziehung eines breiten und öffentlichen Publikums ein gewisser Handlungsdruck. Aber auch direkt „von oben": so bemerkte der Kaiser zu der Affäre, dass bis zum Austragen des Duells „die Ehre des Herrn von Kiderlen gewissermaßen in suspendo sei, seine Majestät ihn nicht nach Abbazia mitnehmen könne." [zitiert nach: Rogge 1962, S. 110.] Kiderlen dürfe ihn also nicht mehr auf seiner Reise begleiten, wenn er seine Ehre nicht wiederherstelle.
Moderatorin:
Ihm blieb also gar nichts anderes übrig, als zu auf die Schmähungen zu reagieren, wenn er sich in seiner Machtstellung behaupten wollte. Was für Handlungsmöglichkeiten hatte Kiderlen jetzt?
Ehrenexperte:
Am einfachsten wäre gewesen, alles unter der Hand und möglichst direkt zu lösen. Zunächst hatte das Amt deswegen ganz diplomatisch gegenüber Medienleuten aus dem „Kladderadatsch"-Umfeld Einfluss gesucht. Das taten sie, indem auf die bona fides der Redakteure hinwiesen, also auf deren Ansehen. Auch der „Kladderadatsch" konnte die Inhalte seiner Kampagne nicht beweisen und auf diese Karte wurde damit erfolglos gesetzt. Holstein schickte sogar noch einen Freund und preußischen General zu dem Verleger des „Kladderadatsch", der Leutnant a.D. war. So unterstand er dem militärischen Ehrgericht. Doch einem Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes nach, Otto Hamann, machte dies den Redakteur Polstorff erst recht „rabiat".
Moderatorin:
Das hat also nicht geholfen. Und jetzt?
Ehrenexperte:
Um die Ehre wiederherzustellen, blieben nur noch zwei Möglichkeiten: eine Klage oder ein Duell. Die Klage würde seine Ehre nicht wiederherstellen, denn der Fähigkeitsbeweis würde hierbei den Anwälten überlassen. Auch hätten interne Informationen preisgegeben werden müssen, um die Grundlage der Beleidigungen und Unterstellungen (auf die wir an späterer Stelle zurückgreifen werden) zu prüfen. Da der „Kladderadatsch" seine Informationen von Informanten aus dem Auswärtigen Amt bezog, hätte das zu unbeabsichtigten Enthüllungen geführt. Zudem würde der Prozess ein noch breiteres Publikum generieren. All das sind Effekte, welche die Beteiligten auf jeden Fall vermeiden wollten, wie durch einen Brief Holsteins deutlich wird: „Man weiß eben, dass ein Prozess, der fast zwei Jahre dauern würde, alle möglichen speziellen Diener Eurer Majestät als Zeugen vorrufen würde, große Unruhe erzeugen und seiner Majestät Schaden zufügen würde. [...] Ein Blick in die Auswärtige Presse genügt übrigens, um den Schaden zu ermessen, der jetzt schon [...]angerichtet ist und angerichtet würde, wenn ein prozess so sensationeller Art enstünde daß ihn der demokratisch- fortschrittliche Richterstand unter einem schwachen Justizminister zu einer Art Panamaskandal frisieren könnte." [zitiert nach: Rogge 1962, S. 106.]
Nachdem Holstein anfangs also eine Klage favorisierte und Kiderlen ihm nach anfänglichem Amüsement beipflichtete, hielten es beide für wenig aussichtsreich oder sinnvoll zu klagen. Der Kanzler Caprivi war der vermutlich einzige Befürworter eines seriösen Gerichtsprozesses. Die beiden Diplomaten sahen sich nun nach eventuellen Intriganten um und so forderte auch Holstein am 31. März 1894 einen seiner Verdächtigen zum Duell auf. Nachdem nach 3-tägiger Verhandlung jedoch keine Einigkeit zwischen den sich Duellierenden gefunden werden konnte, nahm dieser die Forderung nicht an, erklärte aber öffentlich, dass er nicht an der Schmähung beteiligt gewesen sei.
Moderatorin:
War es denn lohnender sich zu duellieren, mit dem Risiko zu sterben?
Ehrenexperte:
Durch ein Duell würde er Polstorff und das durch ihn repräsentierte Satireblatt unweigerlich aufwerten, da dieser als ehemaliger Gymnasiallehrer nicht denselben Status und dieselbe Prestige und damit nicht dieselbe Ehre genoss. Dies schien aber angesichts des drohenden politischen Gesichtsverlustes ein Kollateralschaden zu sein. Das Duell gab zusätzlich die Möglichkeit, die Anonymität der Zeitschrift zu überwinden, denn irgendwer musste sich vor den Lauf stellen - und Kiderlen hatte militärische Erfahrung. Auch seinem Charakter und Stand entspricht diese Art der Konfliktlösung besser als ein Prozess. Er wird als „Lebemann" beschrieben und kannte das Selbstbewusstsein der Oberschicht, eigene Angelegenheiten selbst zu lösen.
Aus dem Abschiedsbrief, den Kiderlen an seine Frau schrieb, wird jedenfalls ersichtlich, dass er es als seine Pflicht ansah, Satisfaktion zu fordern. „Ich konnte als Ehrenmann nicht anders handeln." [Jäckh / Kiderlen 1924, S. 20.] Kiderlen entschied sich für das Duell.
Moderatorin:
Warum hat Polstorff angenommen?
Ehrenexperte:
Polstorff als gesichtsloser Redakteur hatte viel weniger Anlass zur Teilnahme und weniger Aussicht auf persönlichen Ansehensgewinn. An dem Punkt der Duellzusage hatte Polstorff sich wohl überschätzt. Er hatte vier Wochen Vorbereitungszeit und Duelle gingen selten tödlich aus. Auch hat er es bestimmt als Respekt- bzw. Ehrerweisung verstanden. Vermutlich wurde er von Informanten und den Hintermännern der Kampagne zusätzlich vorgeschoben.
Moderatorin:
Mussten die Duellanten denn keine Strafe fürchten? Strafgesetzlich waren Duelle ja immerhin verboten.
Ehrenexperte:
Ja, und das konkrete Duell wäre bei vorheriger Aufgabe straffrei geblieben. Im Regelfall bedeutete ein durchgeführtes Duell eine Festungshaft von sechs Monaten. Dabei blieb jedoch die Ehre erhalten, denn die Haft wird zur Ehrbestätigung in Kauf genommen. Im konkreten Duell wurden beide zu vier Monaten Haft verurteilt. Doch wegen seiner Nähe zur Macht musste Kiderlen nur zwei Wochen einsitzen. Eine Begnadigung wurde auch Polstorff zugestanden. Denn seine Teilnahme am Duell brachte ja Anerkennung und Hochachtung der Obrigkeiten.
Moderatorin:
Nun haben wir den Ablauf der Ereignisse ganz gut rekonstruieren können. Kurz noch einmal zusammengefasst: Wie konnte sich eine Schmähkampagne zu einem Duell hochschaukeln?
Invektivitätsexperte:
An und für sich, waren Schmähkampagnen zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Auch dass Männlichkeit und Ehre angegriffen wurden, war ein häufig gebrauchtes Mittel zur Herabsetzung von Personen - und ein effektives: Denn der gesellschaftliche Druck, welcher durch Traditionsdenken und Hierarchiestreben heraus entstand und ein „standesgemäßes Handeln" verlangte, war sehr hoch und zwar deshalb, weil Ehre und Ansehen unmittelbar mit der politischen und sozialen Stellung verbunden waren. Was in diesem speziellen Fall besonders ist, ist, dass den Angriffen und Vorwürfen des „Kladderadatsch" ein wahrer Kern zugrunde lag, welcher auf einen Informanten im Auswärtigen Amt zurückging. Das verlieh der ganzen Affäre eine politische Brisanz, welche bei anderen satirischen Angriffen auf Politiker fehlte. Zudem führte der veröffentlichte Brief Polstorffs zu einer breiten Öffentlichkeit und erhöhte damit den Handlungsdruck auf Kiderlen, seine Ehre wiederherzustellen, um seine politische und soziale Stellung aufrecht zu erhalten. Eine Klage wurde im Verlauf der Schmähkampagne ausgeschlossen und so entschied er sich unter dem Druck des Kaisers und der Öffentlichkeit für ein Duell. „Geh. Legationsrat von Kiderlen-Wächter, Leiter des offiziösen Pressbureaus, dessen Einfluß unglaublich weit reicht, und der durch geschickt ausgesuchte Vermittler auch anständige Leute beeinflußt, ohne daß oft der Chefredakteur eine Ahnung davon hat. Ungemein schlauer, gewandter, frivoler Lebemann." [Holstein / Rich 1956, S. 412f.] In diesem Sinne hat das Gedicht also auch einen Teil beigetragen, aber nicht zum finalen Entschluss geführt.
Moderatorin:
Nun blieb die Affäre nicht folgenlos .
Invektivitätsexperte:
Das stimmt. Polstorff wurden zu einer viermonatigen Festungshaft verurteilt, die allerdings nicht so hart ist, wie man sich das vorstellen mag. Für Offiziere wie Kiderlen standen bequeme Räume zur Verfügung und wie aus seinem Nachlass hervorgeht, vertrieb er sich die Zeit mit Spazierengehen, Zeitung lesen und Skat spielen - natürlich nur mit ranggleichen Mitgefangenen. Sowohl Kiderlen als auch Polstorff wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. Der „Kladderadatsch" verfehlte zwar das Ziel seiner Invektive, da alle drei Diplomaten im Amt blieben und ihre Karriere fortsetzen konnten, doch zeigt die Reaktion Kiderlens und auch Holsteins, welchen Einfluss die satirische Presse auf solche hohen Beamten ausüben konnte und, dass diese in Zukunft fürchten mussten, der öffentlichen Meinung ausgesetzt zu sein. Damit wurde natürlich auch das Prestige des Kaisers und der Regierung untergraben.
Ehrenexperte:
Die Affäre sagt einiges darüber aus, wie stark die Moralvorstellung, insbesondere das Konzept der Ehre, der damaligen Zeit mit den geltenden Gesetzen koexistierte, auch wenn diese sich teilweise widersprachen. Die Verurteilung war praktisch „pro forma", um die Gesetzgebung nicht auszuhöhlen. Dass die Lösung eines Konfliktes durch ein Duell trotzdem außergewöhnlich war, zeigt das große internationale Medienecho. So berichteten zum Beispiel die New York Times oder die Vatikanzeitung über das Duell. Aber im Resultat gingen beide Parteien mit gewahrter Ehre aus der Affäre.
Moderatorin: Happy End?
Invektivitätsexperte:
Für den Informanten ging die Geschichte weniger glimpflich aus. Er erschoss sich schlussendlich nach dem Erhalt eines Briefes von Polstorff, vermutlich enthielt er brisantes Material. Der Brief ist leider nicht erhalten geblieben, so dass der genaue Inhalt uns unbekannt ist. Auch Polstorff hatte nur kurze Zeit Freude an seiner Freiheit: er starb 12 Jahre nach dem Duell an den Folgen seiner Schussverletzung.
Moderatorin:
Danke für das Gespräch.
Majestätsbeleidigungsprozess gegen Wilhelm Liebknecht
Mit der Verurteilung Wilhelm Liebknechts im Jahr 1895 wegen Majestätsbeleidigung befasst sich der dritte Podcast. Dabei soll die Frage geklärt werden, ob der Vorwurf der Majestätsbeleidigung im deutschen Kaiserreich genutzt wurde, um die Sozialdemokraten mundtot zu machen.
Dafür wird zunächst das Konzept der Invektivität erläutert und das Leben Wilhelm Liebknechts sowie die politische Situation des Kaiserreichs rekonstruiert, um die Hintergründe der Anklage besser einordnen zu können. Daran anknüpfend befasst sich der Podcast genauer mit dem Prozess. Dabei wird neben der Vorgeschichte und dem Anklage- und Ermittlungsergebnis auch die Verhandlung selbst und das abschließende Urteil beleuchtet. Im Anschluss werden die Reaktionen auf den Prozess und die Auswirkungen des Prozesses diskutiert.
Der Beitrag wurde von Anna-Magdalena Hofmann, Cedric Israel und Lucas Frithjof Glöckner recherchiert und konzipiert.
Literaturverzeichnis als Pdf-Download.
Einleitung (AMH)
Im November 1895 kam es zum Prozess gegen einen der bekanntesten innenpolitischen Gegner Kaiser Wilhelm II. Die Rede ist von Wilhelm Liebknecht. Als Mitglied der sozialdemokratischen Partei war Liebknecht zuvor bereits des Öfteren ins Visier der Behörden geraten. Dabei handelte es sich um kleinere Vergehen wie z.B. Beamtenbeleidigung. Im November 1895 wurde er jedoch nicht wegen Beamtenbeleidigung angeklagt, sondern wegen Majestätsbeleidigung. Liebknecht soll auf dem Breslauer Parteitag im Oktober 1895 in seiner Eröffnungsrede den Kaiser beleidigt haben. Es kam zum Prozess und auch zu einem Urteil. Liebknecht wurde zu vier Monaten Gefängnisstrafe verurteilt. An dieser Stelle stellt sich nun folgende Frage: Wurde der Vorwurf der Majestätsbeleidigung genutzt, um die Sozialdemokarten im Kaiserreich mundtot zu machen? Diese Frage soll im Folgenden am Beispiel Wilhelm Liebknechts beantwortet werden.
Konzept der Invektivität (AMH)
Majestätsbeleidigung war zur damaligen Zeit ein schweres Vergehen. Angeklagte, denen Majestätsbeleidigung vorgeworfen wurde, hatten sich oft kritisch über den Kaiser geäußert oder geschrieben. Die Beschuldigten hatten in ihren Äußerungen den Kaiser beschimpft, beschämt oder herabgesetzt. Diese Praktik lässt sich heute mit dem Begriff der Invektivität beschreiben. Bei dem Begriff Invektivität handelt es sich um einen Kunstbegriff, welcher sich vom Wort Invektive ableitet. Im Juli 2017 wurde der Sonderforschungsbereich 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzungen“ an der TU Dresden ins Leben gerufen. Dieser Bereich befasst sich umfangreich mit den Phänomenen der Herabwürdigung und Schmähung sowie der Beschämung und Bloßstellung (im politischen Alltag). All diese Phänomene werden vom SFB unter dem Begriff der Invektivität zusammengefasst. Invektivität beschreibt jene Seiten von Kommunikation, die dazu neigen, herabzusetzen, zu beschmähen oder auch auszugrenzen. Dem gegenüber steht der Begriff der Invektive. Josephine Ott, Teil des Sonderforschungsbereich 1285, definiert eine Invektive als die Verstrickung von Zuschreibung, Resonanz und Anschlusskommunikation. Hier lässt sich auch vom sogenannten Invektivitätsdreieck sprechen. Nachdem die theoretische Grundlage entsprechend erläutert wurde, soll im Folgenden des Leben Wilhelm Liebknechts genauer betrachtet werden.
Leben Wilhelm Liebknechts (AMH)
Wilhelm Liebknecht (1826 - 1900) war ein deutscher Politiker und Publizist. Er war Mitglied des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) von Ferdinand Lassalle und Gründungsmitglied der sächsischen Volkspartei. Des Weiteren hatte er Kontakt zu Karl Marx und Friedrich Engels und war mit August Bebel befreundet. Neben seinen publizistischen Aktivitäten war er auch Abgeordneter der Sozialdemokratie sowohl im Norddeutschen Reichstag als auch im Deutschen Reichstag. Als Politiker stand er immer im Dienste der sozialdemokratischen Partei und trat für das Proletariat ein. Für ihn gab es keine Kompromisse. Seine Reden waren ununterbrochene Ausführungen gegen die kapitalistische Wirtschaftsweise, Protest gegen die Blut- und Eisenpolitik des Deutschen Reichs, rückhaltlose Kritik an Militarismus, Marinismus und der deutschen Kolonialpolitik. Stets ließ er einen Gesamtüberblick über die politische Lage Deutschlands in seine Reden einfließen. Zu Beginn seiner parlamentarischen Laufbahn fiel es Liebknecht jedoch nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen. Mehrmals erhielt er Ordnungsrufe und musste sogar das Rednerpult verlassen. Sollte sich jetzt die Vermutung aufdrängen, dass Liebknecht etwas am Reichstag auszusetzen hatte so täuscht dies. Im Gegenteil. Ihm lag viel daran die Würde des Reichstags zu bewahren, vor allem gegenüber Bismarck. Des Weiteren trat er entschieden für die Abschaffung des Majestätsbeleidigungsparagraphen ein. Er selbst wäre 1894 fast wegen des Paragraphen angeklagt wurden. Im Dezember 1894 wurde in einem festlichen Prunkakt die Schlusssteinlegung für ein neues Geschäftshaus des Reichstags gefeiert. Neben den Abgeordneten waren auch einige Mitglieder des Hofes anwesend. Die Sozialdemokraten pflegten bei solchen Veranstaltungen durch ihre Abwesenheit zu glänzen. Diesmal waren dennoch einige von ihnen anwesend, darunter auch Wilhelm Liebknecht. Demonstrativ blieben er und die anderen Sozialdemokraten während des bei solchen Veranstaltungen üblichen Kaiserhochs sitzen, obwohl erwartet wurde, dass man sich von seinem Platz erhebt, um den Kaiser zu ehren. Einige Tage später wurde eine strafrechtliche Verfolgung Liebknechts wegen Majestätsbeleidigung beantragt. Dieser wurde jedoch noch nicht stattgegeben, da man das bloße Sitzenbleiben noch nicht als Majestätsbeleidigung anerkannte.
Das war aber nicht das erste Mal, dass Liebknecht mit der Justiz in Berührung kam. Er hatte bereits mehrere Strafen wegen „öffentlicher Beleidigung von Beamten“ und wegen der „Verbreitung staatsgefährlicher Lehren“ erhalten. Das größte Vergehen, dessen er schuldig gesprochen wurde, war Hochverrat. Im September 1870 veröffentlichte Liebknecht gemeinsam mit August Bebel einen Artikel in der Zeitung „Volksstaat“. Darin berichteten sie über das Vorgehen der sächsischen Regierung gegen die sozialistische Partei. (Die Regierung hatte sich bei ihrem Vorgehen mit Bismarck abgesprochen.) In der folgenden Zeit wurden Liebknecht und Bebel, vor allem von der liberalen Presse, des Landesverrats bezichtigt. Im Dezember 1870 wurden beide in Leipzig festgenommen. Der Prozess gegen Bebel und Liebknecht fand im März 1872 statt und ging als Leipziger Hochverratsprozess in die Geschichte ein. Beide wurden des Hochverrats schuldig gesprochen und wurden mit zwei Jahren Festungshaft bestraft. Seine Strafe verbüßte Liebknecht vom Juni 1872 bis zum April 1874. In dieser Zeit widmete er sich, trotz eines Schreibverbotes, dem Schreiben von einigen Büchern und Aufsätzen. Außerdem schrieb er weiterhin Artikel für den „Volksstaat“. Der stellvertretende Redakteur Wilhelm Blos äußerte sich mit Blick auf Liebknechts Artikel, dass er daraus mehr als 100 Majestätsbeleidigungen streichen musste.
Politische Situation (AHM)
Um Liebknechts politische Aktivitäten und die Situation der Sozialdemokraten besser verstehen und einordnen zu können, ist es hilfreich sich die Situation im Kaiserreich zwischen 1890 und 1900 anzuschauen.
1888 starb Kaiser Wilhelm I., sein Sohn Friedrich III. folgte ihm auf den Thron. Er starb nach 99 Tagen Regentschaft. Sein Sohn, Kronprinz Wilhelm, wurde Kaiser. Reichskanzler war zu diesem Zeitpunkt Otto von Bismarck. Dieser war dem neuen Kaiser zunächst sehr zugetan, da er ebenfalls antiliberale Ansichten vertrat. Doch anders als sein Großvater wollte Wilhelm II. selbst regieren. Wilhelm I. hatte immer auf die Ratschläge seines Reichskanzlers gehört und war ihnen gefolgt. Wilhelm II. wollte und tat dies nicht. Er entschied sich für eine schleichende Entmachtung des Kanzlers. 1890 wurde Bismarck schließlich als Reichskanzler entlassen. Sein Nachfolger wurde Leo von Caprivi. Dieser allerdings wurde 1895 von Chlodwig von Hohen- lohe-Schillingsfürst abgelöst. Die Regierungspolitik Wilhelm II. lässt sich als „Neuer Kurs“ zusammenfassen. Markante Punkte seiner Politik sind ein Wandel der deutschen Außenpolitik und ein starker Ausbau der Marine.
Des Weiteren hatte sich Kaiser Wilhelm II bei Regierungsantritt einem eigenen politischen Programm verschrieben, dem Arbeiterschutzprogramm. Mit diesem Programm wollte er die Arbeiterschaft für sich gewinnen. Doch damit stand der Kaiser im Widerspruch zu Bismarck. Für Bismarck waren Sozialdemokraten „Reichsfeinde“ und so versuchte der Reichskanzler, ihr Erstarken mit allen Mitteln zu verhindern. Eines dieser Mittel war das sogenannte „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, besser bekannt unter dem Namen „Sozialistengesetz“. Dieses trat im Oktober 1878 in Kraft. Im Einzelnen bedeutete dieses Gesetz für die Sozialdemokraten ein Verbot der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) sowie ihrer Parteipresse und den SAP-nahen Gewerkschaften. Nachdem 1888 eine Verschärfung des Gesetzes im Reichstag abgelehnt wurde, wurde es im September 1890 endgültig außer Kraft gesetzt. Der Obrigkeit fehlte jetzt die rechtliche Grundlage, um weitere Sanktionen gegenüber der Sozialdemokratie an zuwenden. Das Sozialistengesetz hatte außerdem nicht dazu geführt die Sozialdemokratie zu schwächen, im Gegenteil. Die Partei erfreute sich stetig wach- senden Zulaufs. Bei den Reichstagswahlen 1893 erhielt sie mit etwa 23% die meisten Stimmen und trug damit zu einer starken republikanischen Opposition bei. An dieser Stelle kommt der Tatbestand der Majestätsbeleidigung ins Spiel. Dieser war nämlich hervorragend geeignet, um politisch unliebsame Gegner auszuschalten oder mundtot zu machen.
Der Prozess
Vorgeschichte (AMH)
Am 6. Oktober 1895 hielt Wilhelm Liebknecht auf dem Breslauer Parteitag die Eröffnungsrede. In dieser Rede nahm er unter anderem Bezug auf die, vor wenigen Wochen gehaltene, Rede des Kaisers anlässlich des Sedantags. Bei der Sedantagsrede des Kaisers handelte es sich um einen Trinkspruch, welchen der Kaiser anlässlich eines Paradinners von sich gab. Der Sedantag war ein inoffizieller Ehrentag im Kaiserreich an welchem an den Sieg der deutschen Truppen gegen Frankreich im September 1870 bei Sedan erinnert wurde. Der Sieg bei Sedan war ein wichtiger Meilenstein bei der bismarckschen Einigung Deutschlands gewesen. In seiner Rede wandte sich der Kaiser mit ungewohnt scharfen Worten an die Sozialdemokraten. Hierbei nannte er die Genossen eine „Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen“ und rief dazu auf, einen Kampf zu führen „wider der hochverräterischen Schar“, um „uns endlich von solchen Elementen zu befreien.“ Mehrere monarchistische Zeitungen nahmen den Kaiser beim Wort und schrieben in den folgenden Tagen schwere Schimpftiraden wider die Sozialdemokraten. Als Beispiele seien der „Hannoversche Courier“ und die „Schlesische Zeitung“ genannt. Liebknecht reagierte mit folgenden Worten auf die kaiserliche Rede: „Unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht beleidigt man die Sozialdemokratie; unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht und mit Hilfe der Staatsmacht ist der Partei der Fehdehandschuh hingeworfen worden, der Fehdehandschuh zum Kampf auf Leben und Tod. Wohlan, was die Beleidigung unserer Partei anbetrifft, so stehen wird so hoch, dass…“ Diese Bezugnahme auf die kaiserliche Rede sollte ihm wenige Tage später zum Verhängnis werden.
Anklage und Ermittlungsergebnisse (AMH)
Bereits einen Tag später, am 7. Oktober 1895, schrieb die „Schlesische Zeitung“ über die Rede Liebknecht und druckte sie im Wortlaut ab. An dieser Stelle muss kurz angemerkt werden, dass es sich bei der „Schlesischen Zeitung“ um eine monarchistische und reaktionäre Zeitschrift handelte. Kurze Zeit später wurde Liebknecht von der Gerichtsstelle vorgeladen und vernommen. Am 15. Oktober verfasste die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift. In dieser Anklageschrift wird Liebknecht vorgeworfen, auf dem Breslauer Parteitag mit folgenden Worten den Kaiser beleidigt zu haben: „Unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht beleidigt man die Sozialdemokratie; unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht und mit Hilfe der Staatsmacht ist der Partei der Fehdehandschuh angeworfen worden, der Fehdehandschuh zum Kampf auf Leben und Tod. Wohlan, was die Beleidigung unserer Partei anbetrifft, so stehen wird so hoch, dass…“. Im Ermittlungsergebnis ist vermerkt worden, dass es keinen Zweifel daran gibt, dass mit „höherer Staatsmacht“ der Kaiser gemeint war. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass vor dem Parteitag „allerhöchste Kundgebungen gegen die Sozialdemokratie erfolgt waren“. Der erste Staatsanwalt beantragte ein Hauptverfahren vor der Strafkammer des königlichen Landgerichts.
Verhandlung vor Gericht (CI)
Die Verhandlung fand am 14. November 1895 in Breslau statt. Angeklagt wurde Liebknecht vom ersten Staatsanwalt des königlichen Landgerichts. Den Vorsitz der Verhandlung führte der Landgerichtsdirektor Lindenberg. Die Vertretung der Anklage übernahm der Staatsanwalt Dr. Keil. Liebknecht wurde durch den Rechtsanwalt Freudenthal aus Berlin vertreten. Die Öffentlichkeit durfte, entgegen der gängigen Praxis in einem Majestätsbeleidigungsprozess, am Prozessgeschehen teilnehmen.
Gleich zu Beginn der Verhandlung bekennt sich Liebknecht nicht schuldig. Er rechtfertigt seine Rede (unter anderem) mit den Worten: „Die Kriegserklärung der feindlichen Parteien musste beantwortet werden und nun gilt es die richtigen Worte zu finden.“ Als Beispiele nannte Liebknecht in seiner Verteidigungsrede Artikel aus der „Schlesischen Zeitung“ vom 8.9. desselben Jahres und des „Hannoverschen Courier“. Die „Schlesische Zeitung“ hatte mit eindeutigem Bezug auf die Rede des Kaisers am Sedantag zu einem „Vernichtungskampf“ gegen die Sozialdemokraten aufgerufen, diese eine „verworrene Rotte“ genannt und die Staatsmacht dazu auf- gefordert, sie auch, ohne das Gesetz genau zu nehmen, länger in Haft zu stecken. Der „Hannoversche Courier“ war in seiner Wortwahl noch eindeutiger - hier wurden die Sozialdemokraten als „Entartete, ohne Recht auf menschliche Behandlung“ beschrieben, die man „als Untergeordnete“ zu behandeln habe und „wie giftiges Ungeziefer ausrotten“ müsse. Als führendes Parteimitglied konnte Liebknecht nicht anders, als diese Akteure scharf zu kritisieren. Nur auf diese habe er sich bezogen, argumentierte er.
Liebknecht wollte kein Teil der Majestätsbeleidigungs-Epidemie sein, die sich seit der Sedan- rede des Kaisers gegen die Sozialdemokraten richtete. Als Beispiel sei hier der Prozess gegen drei sozialdemokratische Redakteure, Dierl, Pfund (beide „Vorwärts“) und Rautmann („Volksblatt“), genannt. Dierl, Pfund und Rautmann hatten zum Sedanfest-Artikel geschrieben, die den deutschen Militarismus und die deutsche „schneidig aufgeputzte Bourgeoisie“ scharf angingen, sie würde „Gebete zum Gott des Friedens lallen und dabei barbarische Jubelfeste anrichten, um blutige Siege über ihre Mitmenschen und Mitchristen zu feiern“. Sicherlich eine harsche Wortwahl, aber mit keinem Wort wird der Kaiser in dem Artikel erwähnt. Vielmehr werden die Redakteure verurteilt, weil der Kaiser als oberster Heerführer galt und somit der Heuchelei bezichtigt worden war. Angesichts der Vielzahl an Verurteilungen war es nicht unwahrscheinlich, dass alsbald hochrangige Mitglieder der SPD, unter anderem Liebknecht, ebenfalls der Majestätsbeleidigung bezichtigt werden würden. Liebknecht selbst sagte dazu während seines Prozesses: „Ich möchte nicht im Feuer der Rede die Grenzlinie, die ich zog, überschreiten.“ Damit meinte er die Mäßigung, der er sich nach der gescheiterten Anklage wegen Majestätsbeleidigung aus dem Vorjahr unterzogen hatte.
Deutschen Gerichte waren in der Kaiserzeit generell eifrig bei der Verfolgung von Majestätsbeleidigungen dabei. Bis 1900 gab es eine Vielzahl an Majestätsbeleidigungsprozessen und auch zahlreiche Gesetze und Bestimmungen, die sich auf den Tatbestand der Majestätsbeleidigung sowie auf dessen Auslegung und Auswirkungen bezogen. Zu diesen Ge- setzen gehören zum Beispiel das Reichspresserecht von 1874, die Strafnovelle von 1876, aber auch das Sozialistengesetz und die Umsturzvorlage von 1894/95. Die Bestimmungen der Majestätsbeleidigung waren sehr gut dafür geeignet, um unliebsame Gegner auszuschalten oder sie mundtot zu machen. Wie zum Beispiel die Sozialdemokratie bzw. die Sozialdemokraten. Nicht nur deswegen wählte Liebknecht seine Worte mit Vorsicht. Ein weiterer Grund war, dass die sozialistische Zeitung „Vorwärts“ auch unter Verdacht stand den Kaiser zu beleidigen. Diesen Verdacht fasste Liebknecht selbst jedoch als Beleidigung auf.. Die Situation schien ähnlich der, die vor der Entlassung Bismarcks und zur Zeit des Sozialistengesetzes herrschte. Durch die Aufhebung des Gesetzes wurden sozialistische Zeitungen zwar wieder legal, aber im Vergleich hatte sich für die sozialdemokratische Partei und Liebknecht nicht viel verändert. Wurden sie vor 1890 durch das Sozialistengesetz kontrolliert, so standen sie jetzt verschärft unter der Beobachtung ihrer politischen Gegner. Texte und Reden deutete die politische Gegnerschaft wie sie es wollte.
Ein Auszug aus der Rede war: „Unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht beleidigt man die Sozialdemokratie, unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht und mit Hilfe der Staatsmacht ist der Partei der Fehdehandschuh hingeworfen worden, der Fehdehandschuh zum Kampf auf Leben und Tod…“. Um diesen Auszug ging es auch in der Verhandlung. Die Staatsanwaltschaft deuteten diesen Auszug der Rede so, dass unter dem Schutze des Kaisers strafbare Handlungen und Beleidigungen ausgeübt wurden. Sie warfen Liebknecht sogar vor, dass er direkt den Kaiser gemeint hatte. In der Verhandlung stellte der Staatsanwalt konkrete Fragen. Die Fragen des Staatsanwaltes gegen Liebknecht waren unter anderem, wer denn für ihn die höchste Staats- macht wäre und warum er denn sagte, es soll kommen wer will sie könnten die Sozialdemokraten nicht treffen, weil sie zu hochstehen. Liebknecht erklärte, er habe gemeint, dass trotz allen Steinen, die der Sozialdemokratie in den Weg gelegt werden würden, einschließlich eines Parteiverbots, diese beständig stärker werden würde. Verdächtigt war auch, dass der Vorwärts, in dem Liebknecht Chefredakteur war, den genauen Wortlaut der Rede verändert hatte, angeblich aus Vorsicht damit die Zeitungen nicht direkt auch verboten wurden. Liebknecht war auf einige Fragen der Staatsanwaltschaft sehr unvorbereitet und machte sich auch dadurch verdächtig. Eine Antwort auf eine Frage des Staatsanwaltes war (Zitat Liebknecht): „Die höchste Staats- macht ist nicht der Kaiser, der Begriff ist ein viel weiterer, ich will aber nicht verhehlen, dass ich bei dieser Wendung allerdings an den Kaiser gedacht habe.“ Weiterhin sah sich Liebknecht immer noch als Opfer und meinte indirekt, dass er selbst und auch seine Genossen hier beschämt und vor allem unschuldig der Beleidigung bezichtig wurden. Dies wird klar ersichtlich aus weiteren Aussagen von Liebknecht. Dieser sagte im Prozess: „Ich kenne kein anderes Land außer Deutschland, in dem der Parteikampf mit solchen Waffen ausgeübt wird. Wir werden als Person zweiter Sorte und als untergeordnete Wesen angesehen, die aus Sozialer und Kulturellen Sachen ausgeschlossen werde. Aller Rechte beraubt, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet wer- den müssen.“ Auf die Frage des Vorsitzenden, warum viele Personen dies als Beleidigung an- sahen und er und seine Genossen nicht, antwortete Liebknecht mit den folgenden Worten:
„Meine Parteigenossen haben eine so gute Schulung und politische Bildung, dass sie meine Worte nicht missverstehen konnten und sie so auffassten, wie sie gesprochen und gemeint waren.“ Im Vordergrund belasteten diese Fragen Liebknecht sehr, aber bei einigen Punkten stand er (auch eindeutig) als Opfer einer Beschämung da. Liebknecht sagte klar aus: „Niemand, der mich für zurechnungsfähig hält, kann mir zutrauen, dass ich, und noch dazu bei dieser Gelegenheit, von dem Kaiser einen solchen Ausdruck gebraucht haben könne. Es wäre der helle Wahnsinn gewesen.“ Der Staatsanwalt erwiderte: „Die schärfere Deutung ist folgende: Es handelt sich, wenn der Angeklagte von der höchsten Staatsmacht spricht, um preußische Verhältnisse. Dem Angeklagten ist bekannt, dass in Preußen die Vollgewalt der Staatsmacht dem König zusteht. Es ist ihm weiter bekannt, dass der König durch die preußische Verfassung als unverletzlich hingestellt ist.“. Doch die Belastung reichte aus, um ihn als Täter zu überführen und dadurch ihn klar der Beschämung und Beleidigung zu bezichtigen.
Insgesamt wird deutlich, dass Liebknecht gar nicht vor hatte den Kaiser zu beleidigen. Es kommt dennoch zu einer Invektive. Die Äußerung Liebknechts wird als kritisch erachtet und es kommt zu einer Reaktion. Die Reaktion war in diesem Fall der Prozess und die Verurteilung Liebknechts. Der Prozess löste allerdings eine weitere Reihe von Reaktionen aus, wie z. B. Berichterstattungen, die wir später noch einmal beleuchten werden. Vorerst kommen wir aber/ noch auf das Urteil zu sprechen.
Urteil (AMH)
Am 27. November 1895 traf das Urteil gegen Liebknecht in Berlin ein. Daraus geht hervor, dass es sich bei der fragwürdigen Stelle um eine Majestätsbeleidigung in zweifacher Richtung handelte. Liebknecht gab an , dass ihm sowohl die Geschehnisse des Parteitages als auch die kaiserliche Rede zum Sedantag 1895 im Wortlaut in all ihren Einzelheiten bekannt seien. Aber dennoch bekannte er sich (im Sinne der Anklage) nicht schuldig. Der Vorwurf der direkten Majestätsbeleidigung wurde zwar fallen gelassen, doch die Richter verurteilten Liebknecht zu 4 Monaten Gefängnis und zur Zahlung der Verfahrenskosten, da es eine indirekte Beleidigung war. Sie begründeten ihr Urteil unter anderem dadurch, dass „die ganze Kundgebung des Angeklagten sich direkt an ein Publikum wandte, das vorher die Kundgebung des Kaisers gehört hatte und diese im Sozialdemokratischen Sinne auffasste. (…) Ein Zweifel bei dem Publikum nicht darüber bestehen konnte, dass mit dem Satz „Unter dem Schutze der höchsten Staatsmacht beleidigt man die Sozialdemokraten“ nicht bloß eine Partei gemeint war. Bei der Festsetzung der Strafe bezogen die Richter neben Liebknechts Vorstrafenregister und seiner wichtigen Position innerhalb der sozialdemokratischen Partei auch sein hohes Alter mit ein. Liebknecht war zu Beginn des Prozesses immerhin schon 70 Jahre alt.
Reaktionen und Berichterstattung (LFG)
Bei den Verhandlungen waren viele Journalisten von den unterschiedlichsten Zeitungen anwesend. Sie alle berichteten über das Prozessgeschehen. Die liberale Breslauer Zeitung berichtete als eine von vielen über den Prozess. Neben einer Schilderung des Prozesses und der Wiedergabe des Urteils bezog sie am Ende ihres Artikels eine klare Position. Es wird deutlich gemacht, dass man die Strafe für zu gering hält und fragt sich, warum Liebknecht nicht härter bestraft wurde. Der letzte Satz des Artikels war: „Innerhalb der Zuhörerschaft hätten sich genug Personen befunden, die keinen Zweifel gehabt hätten, dass die inkriminierten Äußerungen zugeschrieben werde nicht bloß den Beleidigern…“.
Aber nicht nur die liberale Breslauer Zeitung schilderte das Prozessgeschehen und bewertete es. Auch die Zeitung der Sozialdemokraten, der Vorwärts, schrieb über den Prozess Liebknechts. Da Liebknecht selbst Chefredakteur des „Vorwärts“ war, wird auf dessen ersten Artikel zum Prozess an dieser Stelle genauer eingegangen.
Am 13. Oktober berichtet der Vorwärts erstmals in überraschtem Tonfall über die gerichtliche Vorladung Liebknechts. Weiterhin wird berichtet, auf dem Breslauer Parteitag habe es eine überwältigende Polizeipräsenz gegeben. Die Tonlage dieses Artikels ist beinahe spöttisch, da, so das Blatt, während der Rede kein Polizist gegen die Rede protestiert hatte. Überhaupt seien die Sozialdemokraten im Vorhinein durch die Polizei gewarnt worden, dass bei dem kleinsten Hinweis auf ausländische Redner auf dem Parteitag oder auf eine gegen geltende Gesetze verstoßende Rede die Polizisten den Parteitag auflösen würden. Eine Drohung, der die Polizei keine Taten folgen ließ. Dieser Artikel des „Vorwärts“ stellte seinem Leser die Frage, weshalb dann Liebknecht angezeigt worden war, wenn doch hunderte Polizisten seine Rede gehört hatten, ohne einzugreifen. Im Verlauf der Berichterstattung des „Vorwärts“ in den folgenden Tagen wird deutlich klar, dass sich die Sozialdemokraten als Opfer einer staatlichen Diskriminierung sehen. Besonders oft fiel der Begriff „Septemberkurs“.
Der Septemberkurs stand für eine verstärkte Diskriminierung der Sozialdemokratie, sowohl der Partei als auch ihrer Mitglieder und parteieigenen Presse. Dies zeigte sich durch häufige Hausdurchsuchungen der Wohnungen der Sozialdemokraten sowie ihrer Parteiräumlichkeiten, teilweise bis hin zur zwischenzeitlichen Auflösung einzelner Verbände wegen Verstößen gegen Verordnungen, die keine der im Reichstag vertretenen Parteien ernst nahm - es handelte sich um den §8 der Verordnung zur Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Missbrauchs des Versammlungs- und Vereinsrechts, nach dem politische Vereine auf keine Weise mit anderen Vereinen gleicher Art in Verbindung treten durften.
In den Monaten, die auf die Sedanrede des Kaisers folgten, kam es zu einer wahren Flut an Anklagen wegen Majestätsbeleidigung, die Liebknecht wie schon erwähnt als „Prozessepidemie“ bezeichnete. Im „Vorwärts“ befand sich ab Mitte der 1890er Jahre eine Rubrik, die beinahe täglich erschien und sich mit Anklagen wegen Majestätsbeleidigung gegen Sozialdemokraten befasste, ohne dabei besonders nahe ins Detail zu gehen. An dieser Stelle sei gesagt, dass diese in vielen Fällen juristisch unanfechtbar waren. Nicht jeder Sozialdemokrat verstand es, seine Abneigung dem Kaiser gegenüber so gut in Worte zu verpacken, wie es Liebknecht vermochte. Andere Klagen, wie die zuvor beschriebene Klage wegen Majestätsbeleidigungsklage gegen die Redakteure Dierl, Pfund und Rautmann konnte nur mit einer umfassenden Interpretationsgabe als Majestätsbeleidigung angesehen werden. Auch die Verurteilung Liebknechts ist in diesem Zusammenhang zumindest kritisch zu begutachten.
Ähnlich wie der „Vorwärts“ reagierte auch die bürgerliche „Vossische Zeitung“ auf das Urteil. In einem Artikel vom 16. November 1895 beschrieb sie ihr Unverständnis gegenüber der Verurteilung Liebknechts, in der „Hoffnung, dass das Urteil vom Reichsgericht zurückgenommen wird.“
Der „Vorwärts“ zitierte in den Tagen nach dem Urteilsspruch auch zwei weitere Blätter, die im Original nicht mehr auffindbar sind, nämlich die Berliner Zeitung und die Frankfurter Zeitung. Da der „Vorwärts“ eine klare Agenda hatte, können die nachfolgenden Zitate aus dem eigentlichen Kontext genommen worden sein. Es ist nicht gesichert, ob beide Zeitungen die Verurteilung Liebknechts tatsächlich so scharf kritisierten, wie es der Vorwärts ausdrückte. In den Zitaten durch den „Vorwärts“ wirkt es, als hätten beide Zeitungen, „Berliner Zeitung“ und die „Frankfurter Zeitung“ Angst vor einer mit dem Urteil einhergehenden Strafrechtsverschärfung gehabt. Wenn tatsächlich die bloße Erwähnung oder gar der indirekte Bezug zum Kaiser in einem kritischen Artikel bereits als Majestätsbeleidigung ausgelegt werden konnte, würde das einer Einschränkung des Presserechts gleichkommen.
Die „Frankfurter Zeitung“ war in ihrer Kritik sogar noch deutlicher: Sie bezichtigte die deutsche Justiz indirekt der Tendenziösität, da Strafen gegen Sozialdemokraten und andere Republikaner deutlich häufiger waren und deutlich schwerer ausfielen als Strafen gegen Menschen mit regierungsnaher Ausrichtung. Auch die „Berliner Zeitung zog einen interessanten Vergleich: zur selben Zeit wie Liebknecht wurde ein Redakteur der antisemitischen Zeitung „Deutscher Michel“ in Berlin verurteilt, weil dieser es in einem Artikel so aussehen ließ, als würde die deutsche Kaiserin den Baron Rothschild stark begünstigen. Eine Anschuldigung der Günstlingswirtschaft war mit Sicherheit Majestätsbeleidigung, weshalb der Redakteur zu zwei Monaten Festungshaft verurteilt wurde. Die Befürchtungen dieser bürgerlichen Blätter, durch das Urteil (zur Majestätsbeleidigung) würde die Pressefreiheit eingeschränkt werden, hatte durchaus ihre Begründung. Dass Zeitungen ebenfalls verklagt werden konnten, war damals ebenso klar, wie es heute klar ist - auch heute kann ein Blatt Menschen, gleich ihrer gesellschaftlichen Stellung, nicht einfach direkt beleidigen. Pressefreiheit bedeutet nicht, dass Zeitungen über dem Gesetz stehen oder standen. Als Beispiel dafür kann man den Prozess Springer-Verlag gegen Kachelmann aus dem Jahr 2013 sehen, in dem der ehemalige Wettermoderator erfolgreich wegen Verleumdung und Hetzkampagne auf Schadenersatz geklagt hatte. Dennoch ließ der Vorwurf der Majestätsbeleidigung mehr Spielraum für das Gesetz. Daher sahen auch eher bürgerliche Zeitungen in dem Urteil einen Präzedenzfall für eine klare Verschärfung der Rechtslage. Den schieren Einfluss, den der Majestätsbeleidigungsparagraph auf die Pressefreiheit hatte, kann man an einem anderen Beispiel sehen.
In den Tagen nach Liebknechts Verurteilung kam es zu einem anderen Prozess gegen den Redakteur Dr. Friedrich Förster von der „Ethischen Zeitung“, einer christlich-liberalen Zeitung. Dieser hatte sich betrübt über die Rede des Kaisers zum Sedanfest geäußert, es sei traurig, dass sich der Kaiser über eine große Partei seines Landes so äußerte. Das allein reichte aus, um den Redakteur der Majestätsbeleidigung anzuklagen und ihn zu verurteilen.
Auch im Ausland erregte der Fall Aufsehen. Linke und liberale politische Kräfte wie die Fabian Society sandten Sympathiebekundungen an Liebknecht. Bemerkenswert war allerdings der Ton, in dem die eher konservativ ausgerichtete „Westminster Gazette“ sich über die deutsche Judikative und ihren Einfluss auf die politische Landschaft in Deutschland ausließ. Das Urteil wird als „ungeheuerlich“ beschrieben, eine klare Einschränkung der Rede- und Pressefreiheit, ein klarer Angriff auf die Freiheit der politischen Opposition im Kaiserreich. Sicherlich zogen britische Blätter gerne über Deutschland her, seit im Zuge geopolitischer Spannungen; namentlich der deutsche Anspruch, zur stärksten Seemacht der Welt aufzusteigen; Deutschland vom ehemaligen Verbündeten zum ernsthaften Konkurrenten geworden war. Trotzdem ist es erstaunlich, dass ein klassischer Majestätsbeleidigungsprozess selbst in Großbritannien zu einer deutlichen Reaktion führte.
Reaktionen der Sozialdemokraten (LFG)
Bei den Klagen gegen Sozialdemokraten kam des Öfteren ein juristischer Kniff zur Anwendung, den es auch heute noch gibt – den „dolus eventualis“, zu Deutsch Eventualvorsatz. Dieser besagt, dass eine willentlich in Kauf genommene Straftat genauso hart bestraft werden kann wie die Straftat an sich. Dabei muss allerdings das Gericht beweisen, dass die Straftat mit voller Absicht in Kauf genommen wurde. Dieser Eventualvorsatz war es auch, dem Liebknecht zum Opfer fiel. Die Richter argumentierten, dass er sich zwar so geschickt ausgedrückt hatte, dass eine Majestätsbeleidigung im direkten Sinne nicht in Frage kam, sich jedoch hätte sagen müssen, dass seine Wortwahl, als er sich auf die höchste Staatsmacht bezog, an ein sozialdemokratisches Publikum gerichtet waren, welches die Äußerungen, so die Richter, in ihrem Sinne auffassen würden. Hierbei sieht man zumindest eine gewisse Voreingenommenheit, die gegenüber den Sozialdemokraten herrschte - man nahm an, dass die Sozialdemokraten grundsätzlich antimonarchistisch eingestellt waren. Folgt man dieser Argumentation, kann man allerdings feststellen, dass die Genossen damals klar republikanisch eingestellt waren und die herrschaftlichen Verhältnisse ablehnten.
Hierbei lässt sich auch feststellen, weshalb die Sozialdemokraten und auch einige Bürgerliche das Gesetzesurteil als eine Gefahr ansahen. Liebknecht hatte während des Prozesses ausgedrückt, dass es nach diesem Urteil nur noch eines ihm feindlich gesinnten Stalkers bedürfe, der ihm eine Äußerung im Munde verdrehte und ihn aufgrund dessen anklagte, um ihn zu verurteilen. Das wäre ein scharfer Angriff auf die Meinungsfreiheit. Liebknecht schloss aus dem Prozessurteil, dass jegliche Kritik kaiserlichen Verhaltens nunmehr als Majestätsbeleidigung angesehen werden könne. So wäre die Oppositionsarbeit ungemein erschwert gewesen. So argumentierte auch der „Vorwärts“. Anhand der Häufung der Majestätsbeleidigungsprozesse der umliegenden Wochen und Monate sei eine erneute Verfolgung der Sozialdemokratie auszumachen. Nachdem die Regierung bemerkt habe, dass die Partei trotz der Sozialistengesetze bis 1890 Zulauf hatte und nun im Begriff war, zur stärksten Partei im Reichstag zu werden, wolle man die Partei nun durch Verhaftungen und Einschüchterung aufhalten, argumentiert das Blatt.
Nachgeschichte (LFG)
Eine gewisse Tendenziösität deutscher Gerichte lässt sich angesichts der angesprochenen Urteile nicht leugnen. Dies wurde auch Gegenstand einer längeren Parlamentsdebatte zwischen dem Abgeordneten Haußmann von der Demokratischen Volkspartei, Liebknechts Parteifreund August Bebel und Justizminister von Schönstedt, etwa einen Monat nach Liebknechts Verurteilung. Haußmann und Bebel warfen der deutschen Justiz Tendenziösität vor. Haußmann warf der Regierung vor, die Sozialdemokraten durch die Verschärfung in der Rechtsprechung indirekt zu stärken. Er sagte ,dass bei der prompten Art von Haft und Urteil es merkwürdig hervorgetreten sei, „dass wir eine Klassenjustiz haben.“ August Bebel schlug in dieselbe Kerbe. Er warf dem Justizminister vor, dass „Leute“ beim Verdacht auf kleinste Verbrechen, auf die geringere Gefängnisstrafen standen, ohne jeden Fluchtverdacht aus ihren Betten geholt wurden und in teilweise monatelanger Untersuchungshaft sitzen mussten. Hierbei wird das Beispiel des Abgeordneten Hammerstein von der deutschkonservativen Partei erwähnt. Hammerstein hatte sich im Frühjahr 1895 der Bestechung und Veruntreuung von Geldern schuldig gemacht. Obwohl die Vorwürfe gegen ihn schon länger in der Luft standen, wartete die Justiz ab - und Hammerstein nutzte dieses Zeitfenster aus und floh nach Griechenland. Erst im September desselben Jahres wurde er festgenommen. Allerdings erst, nachdem der Justizminister unter dem Druck der SPD und der Fortschrittspartei einen Kriminaloffizier nach Griechenland gesandt hatte. Bebel und Haußmann warfen der deutschen Justiz somit vor, bei Sozialdemokraten sofort und mit aller Härte durchzugreifen, während auf der anderen Seite mit regierungsnahen Personen sehr gnädig umgegangen wurde. Schönstedt verweigerte zwar die grundsätzliche Anschuldigung. Auch konnte er, was den Fall Hammerstein betraf, erklären, dass die zuständige Staatsanwaltschaft nichts unternommen hatte, weil Hammerstein eine Gegenklage gestellt hatte. Allerdings antwortete er nicht auf die Anschuldigung, dass bei Regierungsgegnern schneller und härter durchgegriffen wurde. Des Weiteren verteidigte er die häufiger vorkommenden Majestätsbeleidigungsprozesse gegen Sozialdemokraten. Sie seien einfach nur das Resultat der tatsächlich häufiger vorkommenden Vergehen. Aber auch Schönstedt gab, wenn auch indirekt, eine Unterscheidung bei Majestätsbeleidigungsprozessen zu, als er sagte, dass Majestätsbeleidigungsprozesse gegen weniger Gebildete, die vielleicht einfach nur eine unüberlegte Äußerung getätigt hatten besser weniger verfolgt werden sollten, während bei Klagen gegen Sozialdemokraten davon auszugehen sei, dass diese aus voller Absicht die inkriminierenden Worte gewählt hatten. Er gab also durchaus zu, dass Sozialdemokraten eher wegen Majestätsbeleidigung verfolgt und bestraft wurden.
Fazit (CI, LFG, AMH)
Um auf die anfangs gestellte Frage, wurde der Vorwurf der Majestätsbeleidigung benutzt, um die Sozialdemokraten im Kaiserreich mundtot zu machen, zurückzukommen, lässt sich zusammenfassend feststellen, dass es sich bei Zeit zwischen 1890 und 1900 um eine, wie Liebknecht sagte, „Majestätsbeleidigungsprozessepidemie“ handelte. Es war eine Zeit des Umbruchs und der Veränderung, auf die sich die Kaisertreuen nicht einlassen wollten. Viele, die das bestehende System kritisierten und es verändern wollten wurden zum Opfer des Majestätsbeleidigungsparagraphen. Bei einigen der Angeklagten suchte man regelrecht nach Fehlern. Bei Liebknecht selbst wurde eine ganze Rede lediglich auf zwei Sätze herunter gebrochen. Auf dieser Grundlage wurde er überführt und bestraft. Es wird auch deutlich, dass der Fall Liebknecht zur damaligen Zeit kein Einzelfall war. Es muss aber an dieser Stelle auch festgehalten werden, dass Liebknecht nicht aus reiner Willkür angeklagt und bestraft wurde. Auch seine Gegenspieler hielten sich an bestehende Gesetze und gingen auch davon aus, dass er es, gerade durch seine wichtige Position innerhalb der sozialdemokratischen Partei, hätte besser wissen müssen als den Kaiser indirekt zu beleidigen. Eindeutig erkennbar ist auch die Unverhältnismäßigkeit bei solchen Urteilssprüchen. Sozialdemokraten wurden für verhältnismäßig geringe Vergehen schwerere Strafen auferlegt, da es sich bei ihnen um stärkere Gegner des Kaisers handelte. Deshalb lässt sich durchaus sagen, dass (in einigen Fällen) die Majestätsbeleidigung genutzt wurde, um einzelne Personen mundtot zu machen oder auch einzuschüchtern.
In Bezug auf das Konzept der Invektivität lässt sich festhalten, dass man im Fall Liebknecht durchaus von einer Invektive sprechen kann. Diese nahm ihren Anfang mit der Rede Liebknechts auf dem Parteitag der Sozialdemokraten und wurde durch die monarchietreue Presse als eine Beleidigung des Kaisers aufgefasst. Im Anschluss daran kam es zum Prozess und einer Flut an Reaktionen. Diese reichte sogar soweit, dass die ausländische Presse über den Fall berichtete.
Seminarleitung:
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
NameDipl. Soz. Dorothea Dils B.A.
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