08.08.2017
Selbst-Bewusste Erzählungen: Textlichkeit und gesellschaftliche Relevanz in US-amerikanischer Gegenwartskultur
Welche Rolle spielen Erzählungen für die US-amerikanische Kultur und Gesellschaft der Gegenwart? In welchem Maße eignen sich Erzählungen in Film, Fernsehen, Literatur und Blogs zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität? Haben sich Erzählungen und der gesellschaftliche Umgang damit in den letzten Jahrzehnten verändert? Diese und weitere Fragen nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Erzählungen untersuchte das Forschungsprojekt „Selbst-Bewusste Erzählungen: Textlichkeit und gesellschaftliche Relevanz in US-amerikanischer Gegenwartskultur“. Vier Wissenschaftler*innen der TU Dresden und der Universität Leipzig erforschten ein markantes Phänomen in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur und Kultur, das sie als neues Selbst-Bewusstsein gesellschaftlicher Relevanz von erzählerischer Textlichkeit und Textproduktion bezeichnen.
„Bei unseren Forschungen haben wir entdeckt, dass sich in Erzählungen ganz unterschiedlicher Medien eine neue Ambition beobachten lässt, die gesellschaftliche Realität abzubilden“, erklärt Prof. Dr. Katja Kanzler, Professorin für Literatur Nordamerikas an der TU Dresden. „Wir haben außerdem bemerkt, dass die Kategorie der Erzählung in immer mehr Kontexten als relevant angesehen wird. Und das in einer Kultur, in der der Literatur, dem traditionellen Umfeld von Erzählungen, eine ernsthaften Krise nachgesagt wird.“
In vier Fallstudien untersuchen die Wissenschaftler*innen der Professur für Literatur Nordamerikas der TU Dresden und der Professur für amerikanische Literatur an der Universität Leipzig, wie fiktionale und nicht-fiktionale Erzähltexte um die Jahrtausendwende ihre eigene Narrativität und deren sozio-kulturelle Wirkungen und Bedeutungen thematisieren. In Leipzig forschte Caroline Alice Hofmann zu “Reference, Aesthetics, Cultural Effect: Crises of Representation in Recent American Trauma Narratives” und Dr. Sebastian M. Herrmann untersuchte “Presidential Unrealities: Epistemic Panic, Cultural Work and the US Presidency“. Dresden war mit zwei Teilprojekten an dem Verbund beteiligt, von denen eins durch die DFG gefördert wurde. „Mein Kollege Dr. Frank Usbeck befasste sich mit Blogs von Soldat*innen im Kampfeinsatz. Solche Blogs sind in den USA sehr verbreitet“, berichtet die Professorin. „Er untersuchte, wie die Soldat*innen diese Blogs nutzen, um über ihre Kriegserfahrungen zu schreiben. Wie sich die Blogtexte mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen, über Sprache ganz komplexe Erfahrungen abzubilden und wie sie für sich auch immer wieder einen Relevanzanspruch einfordern: Sie fordern ein, gelesen und ernst genommen zu werden, und sie fordern ein, dass diese Kampferfahrungen (auch von zurückgekehrten Soldaten*innen) gesellschaftlich anerkannt werden.“ Prof. Katja Kanzler befasste sich mit „Narrativity and Social Signification in Contemporary American Narratives of the Law”. In ihrem Teilprojekt ging es hauptsächlich um Erzählungen über Recht und Gesetz in amerikanischer Literatur, Film und Fernsehen. „Dazu habe ich exemplarische Erzählungen näher betrachtet. U.a. habe ich mir ein paar interessante Beispiele aus den vielen aktuellen Serien über Anwälte und über das Gericht ausgesucht, z.B. „The Good Wife“ und „Boston Legal“, beschreibt Prof. Katja Kanzler. „Hierbei habe ich mir angeschaut, wie diese Serien-Erzählungen das Recht als eine Plattform nutzen, um über darüber nachzudenken, inwiefern Erzählungen Wahrheit abbilden können und welche realgesellschaftliche Konsequenzen Erzählungen haben können.“
Der Projektname ist ein kleines Wortspiel und wurde ganz bewusst so gewählt. „Selbst-Bewusst“ mit Bindestrich lässt zwei Interpretationen zu: Zum einen kann es bedeuten, dass Erzählungen selbstbewusst mit sich selbst umgehen. Sie gehen selbstbewusst mit ihren eigenen Realitätsansprüchen und mit ihrer gesellschaftlichen Relevanz um. Sie haben also ein performatives Selbstbewusstsein. Zum anderen bedeutet es, dass sich Erzählungen ihrer selbst bewusst als Erzählung sind. Sie wissen, dass sie eine Narration sind, dass sie aus Sprache und Wörtern bestehen und auf bestimmte Medien angewiesen sind. „Der Projektname sollte diese Doppelung verdeutlichen und wir versuchen diese Doppeldeutigkeit auch in unseren jeweiligen Materialbereichen nachzuzeichnen“, berichtet Prof. Kanzler.
Daher war es im Gesamtprojekt wichtig, dass „wir uns nicht nur Literatur anschauen, sondern die mediale und modale Bandbreite, in der Erzählungen heutzutage stattfinden, betrachten und untersuchen“, erklärt Kanzler. „Unsere Untersuchungsgegenstände reichten von Büchern über Filme und Fernsehserien bis hin zu digitalen Erzählungen, von fiktionalen bis hin zu faktualen Erzählungen unterschiedlicher Gattungen.“
Für die Forschungsgruppe war es wichtig, dabei die verschieden Facetten und Nuancen herauszuarbeiten. Prof. Katja Kanzler erklärt dazu: „Wir wollten keine allgemeingültige Aussage über die amerikanische Gegenwartskultur treffen. Als Gruppe haben wir uns mit der Vermessung des gegenwärtigen Zustandes von Kultur und Literatur in den USA befasst. Wir sind der Frage nachgegangen, inwiefern die Postmoderne, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert geprägt hat, zu einem Ende gekommen ist. Und in welche Richtung sich Literatur und Kultur in ihrer Ästhetik entwickeln. Wir haben über viele Medien hinweg aufgezeigt, dass es eine Suchbewegung gibt, die sich damit befasst, was nach der Postmoderne kommt.“ Wie es weiter geht, steht noch nicht fest. „Aber wir wollen auf jeden Fall weiterforschen. Wir haben zwar erste Ergebnisse gefunden, aber diese haben wieder neue Fragen aufgeworfen, die wir gern weiter bearbeiten möchten“, resümiert die Wissenschaftlerin.
weitere Informationen unter https://tu-dresden.de/gsw/slk/anglistik_amerikanistik/na-literatur/forschung/selbst-bewusste-erzaehlungen-textlichkeit-und-gesellschaftliche-relevanz-in-us-amerikanischer-gegenwartskultur und unter http://www.selbst-bewusste-erzaehlungen.de/