Feb 04, 2022
Wenn gesellschaftlicher Wandel die Normalität verschlingt
Im intersdisziplinären Verbund TUDiSC gehen TUD-Wissenschaftler dem Phänomen »Disruption« auf den Grund
Bei TUDiSC (TU Disruption and Societal Change Center) kommen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Sozial- und Kulturwissenschaften, Informatik, Architektur, Natur- und Ingenieurwissenschaften zusammen, um Dynamiken gesellschaftlichen Wandels zu untersuchen. Dieser Wandel führt dazu, etablierte Normalitätsvorstellungen zunehmend infrage zu stellen. In der interdisziplinären Zusammenarbeit von sieben Teilprojekten wird »Disruption « als neue Forschungsperspektive entworfen, mit der sich einschneidende Veränderungen der Gegenwart hinsichtlich ihrer technologischen, sozialen, politischen und kulturellen Effekte vergleichen lassen. Zu den Zielen von TUDiSC gehört es, konkrete Disruptionsprozesse unter anderem im Kontext von Digitalisierung, Klimawandel und Wissen(schaft)skommunikation zu beschreiben und Veränderungslogiken zu verstehen. Andererseits erarbeitet das Center gemeinsame Begriffe und eine disruptionsbezogene Theorie, die auf der stetig wachsenden Notwendigkeit, auch ohne Expertise reflektiert zu handeln, aufbaut.
Im Interview stellt die Konzeptgruppe um Prof. Heike Greschke, Prof. Lars Koch und Jun.-Prof. Susann Wagenknecht das Center und ihre Tätigkeit genauer vor.
UJ: Prof. Wagenknecht, da Störungen in allen Lebensbereichen auftreten und sich komplex entwickeln, plädiert TUDiSC für eine interdisziplinäre Untersuchung von acht Grundlagenkategorien. Worin besteht Ihrer Meinung nach die größte Herausforderung in der Arbeit mit fachfremden Kolleginnen und Kollegen?
Prof. Wagenknecht: Jedes Fach hat eigene Herangehensweisen, die historisch gewachsen sind. Disruption zum Beispiel kann als »Bruch« gelesen werden, als »Krise« oder »Revolution«, als »Unterbrechung« oder »Zerstörung«. In einem interdisziplinären Verbund wie TUDiSC diskutieren wir, wie sich fachliche Begriffe und Sichtweisen produktiv übersetzen lassen, wo sie sich fruchtbar ergänzen oder in aufschlussreicher Weise irritieren. In unserem Projekt zur Störung von Privatheit haben wir beispielsweise schnell festgestellt, dass Mikrosoziologie und Kommunikationswissenschaften mit einem ganz anderen »Zoom-Faktor« an ihre Forschung gehen. Als Mikrosoziologin interessiert mich das situative Zusammenspiel von »doings« und »sayings«, von Menschen und Dingen, Praktiken und Infrastrukturen. Die Kommunikationswissenschaften interessieren sich für diskursive Brüche: Hat sich der Diskurs über gesellschaftliche Privatheit und rechtliche privacy grundsätzlich verändert in den letzten Jahren? Diese Unterschiede in der Herangehensweise haben uns dazu gebracht, Formen von Störungen zueinander in Beziehung zu setzen und zu fragen: Ab wann irritieren praktische Störungen einen Diskurs – und das möglicherweise so stark, dass er sich grundlegend verändert? Die Informatik in unserem Projekt möchte wissen, was praktische und diskursive Störungen für eine gesellschaftlich sensible, kritische Entwicklung von Prototypen bedeutet. Das sind Fragen, die wir nur interdisziplinär beantworten können.
Prof. Greschke, bei TUDiSC beschäftigten Sie sich mit Migration und Interkulturalität, ausgehend von der Annahme, dass interkulturelle Begegnungen häufig mit Risiken der sozialen Herabsetzung belastet sind. Wie fördern diese wissenschaftlichen Erkenntnisse die gesellschaftliche Störungssensibilität?
Prof. Greschke: Bei Disruption denkt man an Großereignisse, die uns zwar existenziell betreffen, aber als übermächtig und außerhalb der eigenen Reichweite vorgestellt werden. Migration macht vielen Menschen deshalb Angst, weil sie im öffentlichen Diskurs als Ansturm von Menschenmengen wahrgenommen wird. Doch je nach Perspektive kann Migration auch als Bewältigung von erlebten Disruptionen wie Krieg oder Klimawandelfolgen angesehen werden. Drittens kann Migration biographische Disruptionserfahrungen zur Folge haben, weil sich etwa der soziale Status der migrierten Person massiv verändert − Nichtanerkennung von Bildungsabschlüssen, rassistische Stereotypisierung, Verständigungsschwierigkeiten oder unbekannte Konventionen. Uns interessiert, wie die großen Ereignisse in die konkrete Lebenspraxis der Menschen hineinwirken und im Alltag zu Veränderungen führen können. Und ich bin überzeugt, dass hier ein Schlüssel zum Verständnis für Disruptionsphänomene liegt. Etwas anders gelagert ist die Zielrichtung des Projektes »The Disruptivity of the Others in Transformations«, in dem nach dem gesellschaftlichen Wert des Wissens von Akteuren gefragt wird, die den common sense infrage stellen, oder deren »Wissen« − im Extremfall etwa als Verschwörungstheorie − diskreditiert wird. TUDiSC versteht sich als Generator von Experimentierraumen, in denen der gesellschaftliche Umgang mit Störungen erprobt wird und dabei hoffentlich auch Disruptionskompetenz erwachsen kann.
Prof. Koch, das Fundament für Ihr gemeinsames Forschen ist eine Systematisierung der verschiedenen Störungsarten, die Sie bereits in früheren Publikationen heranzogen. Wie prägen Störungen eine Gesellschaft?
Prof. Koch: Grundsätzlich haben Gesellschaften vor dem Hintergrund ihrer politisch-sozialen, erkenntnistheoretischen und technologischen Verfasstheit andere Voraussetzungen im Umgang mit Disruptionserfahrungen. Es macht beispielsweise bei einer Naturkatastrophe einen großen Unterschied, ob die christliche Heilsgeschichte ein dominantes Narrativ darstellt und man die Verantwortung an Gott adressiert, oder ob man sich auf die eigene gesellschaftliche Gestaltungskraft verwiesen sieht. In modernen Gesellschaften ist »Zukunft « gleichzeitig Möglichkeits- und Gefahrenraum – aber die gefährliche Zukunft soll möglichst keine zukünftige Gefährlichkeit mit sich bringen. Daher entwickeln Menschen Wissensformen und Praktiken der Antizipation und Regulation, um Handeln und Entscheiden anzuleiten. Entsprechende Stichworte waren etwa Risiko, Prävention, Precaution oder auch Resilienz. Allerdings kommt mehr und mehr der Eindruck auf, dass die Steuerungsfähigkeit der Gesellschaft zunehmend an eine Belastungsgrenze gerät. Die Coronapandemie und der Umgang mit der Klimakrise zeigen dies in drastischem Ausmaß. Auch ist nicht klar, wie wir die enorm wachsenden Möglichkeiten der Digitalisierung − Big Data, KI usw. − wirklich zielführend für die Fortentwicklung von Gesellschaft nutzen können. Insofern steigt angesichts der Disruptionskaskaden der letzten 20 Jahre der Stresslevel der Gesellschaft massiv an. Einen Beitrag zum besseren Verständnis dieser Konstellation gesellschaftlichen Wandels zu erarbeiten, ist die zentrale Zielstellung von TUDiSC.
Die Fragen stellte Magdalena Selbig.
Weitere Informationen unter: tu-dresden.de/gsw/forschung/projekte/tudisc.
Als Teil der Exzellenzstrategie wird TUDiSC vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Freistaat Sachsen im Rahmen der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern gefördert.
Dieser Artikel ist im Dresdner Universitätsjournal 2/2022 vom 1. Februar 2022 erschienen. Die komplette Ausgabe ist im Online-Auftritt des UJ unter https://tu-dresden.de/uj oder hier im pdf-Format kostenlos downloadbar. Das UJ kann als gedruckte Zeitung oder als pdf-Datei bei bestellt werden.