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Landesgeschichte befasst sich mit Räumen kleiner und mittlerer Größe, also mit Orten, Städten, Territorien, Landschaften und Regionen. Unsere globalisierte Gegenwart ist nicht nur von vielfältigen Entgrenzungen, sondern auch von einer neuen Heimatrhetorik und der Besinnung auf vermeintliche kulturelle Besonderheiten und Identitäten geprägt. In diesem Spannungsfeld kann die Hinwendung zur Geschichte der eigenen Region und des unmittelbaren Lebensumfelds zu einer kritischen Perspektive auf historische Verortungen und Identitätsbildungsprozesse beitragen.
Landesgeschichte wird gerne als eine „in Grenzen unbegrenzt“ arbeitende Disziplin charakterisiert (Ludwig Petry). Anspruch und zugleich Attraktivität der Landesgeschichte liegen in der Tat darin, innerhalb eines definierten Raumes epochenübergreifend vom Mittelalter bis zur Zeitgeschichte das ganze Themenspektrum der Geschichtswissenschaft zu bearbeiten. Dazu gehören Politik und Verfassung ebenso wie Wirtschaft, Kirche, Gesellschaft und Alltag. Dabei nutzt die Landesgeschichte das gesamte Methodenspektrum der Geschichts- und Kulturwissenschaften und sucht den interdisziplinären Austausch mit denjenigen Fächern, die in ihren Forschungen ebenfalls regional orientiert sind, wie z. B. Volkskunde/Kulturanthropologie, Historische Geographie oder historische Sprachwissenschaft. Eine besondere Herausforderung stellt der landesgeschichtliche Vergleich dar, also die Analyse historischer Phänomene in mehreren Regionen. In jüngerer Zeit hat die Landesgeschichte begonnen, auch die europäischen und globalen Kontexte lokaler und regionaler Phänomene genauer in den Blick zu nehmen.
Die Sächsische Landesgeschichte konzentriert sich auf Sachsen in seinen jeweiligen historischen Dimensionen, etwa auf den Freistaat, das Königreich oder das Kurfürstentum Sachsen. Aber auch durch Natur, Wirtschaft und Kultur definierte Räume in der Region, wie Erzgebirge, Vogtland und die Lausitzen, bilden Untersuchungsräume der Landesgeschichte. Die Lausitzen nehmen seit ihrem Übergang an Sachsen im Jahre 1635 die Funktion einer Brückenlandschaft wahr. In analoger Weise spielen die europäischen Nachbarländer Sachsens aufgrund der vielfältigen historischen Kontakte und Verflechtungen eine wichtige Rolle. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Polen, das im langen 18. Jahrhundert wiederholt in Personalunion mit Sachsen verbunden war.
Forschungsschwerpunkte
Das Lehrstuhl-Team forscht zur sächsischen und vergleichenden Landesgeschichte vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Aktuell liegen epochale Schwerpunkte auf der Geschichte der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts. Regionale Bezugspunkte bilden neben Sachsen derzeit vor allem Württemberg, Savoyen, Rheinland-Westfalen und Franken sowie Polen-Litauen. In der Arbeit des Lehrstuhlinhabers Prof. Dr. Andreas Rutz spielen mit Blick auf die Vormoderne Herrschaft, Raum und Kartographie, die Frauen- und Geschlechtergeschichte, Bildung und Schule, Konfessionalisierung und Klosterkultur sowie die europäischen und globalen Dimensionen der sächsischen Geschichte eine besondere Rolle. Für das 19. und 20. Jahrhundert liegt sein Fokus auf Fragen der Erinnerungskultur und der Entstehung von Geschichtsbildern. Prof. Dr. Josef Matzerath beschäftigt sich aktuell vor allem mit Fragen der Konsum- und insbesondere der Ernährungsgeschichte. Zuvor konzentrierten sich seine Forschungen auf den Adel, den sächsischen Parlamentarismus und die Geschichte des sächsischen Landtags. Im Rahmen des DFG-Projekts „Weibliche Herrschaftspartizipation in der Frühen Neuzeit. Regentschaften im Heiligen Römischen Reich in westeuropäischer Perspektive“ betreibt der Lehrstuhl wichtige Grundlagenforschung in der territorial vergleichenden Regentschaftsforschung (Stefanie Wenzel M.A.). Im Rahmen von Dissertationsprojekten wird außerdem zu erinnerungskultureller Urbanität und Aneignungsprozessen von ideellem und realen Raum in der modernen Residenzstadt des langen 19. Jahrhunderts (Lennart Kranz M.A.) und zur Rezeption der außereuropäischen Welt im Sachsen des 18. Jahrhunderts (Sophie Döring M.A.) geforscht.
Standort Dresden
Dresden ist ein ebenso attraktiver wie traditionsreicher Standort für die Landesgeschichte. Erste Vereinsgründungen wie der Königlich Sächsische Altertumsverein (1992: Neugründung als Verein für sächsische Landesgeschichte) oder der Dresdner Geschichtsverein datieren jeweils auf die Mitte des 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus ist Dresden die Wiege des 1852 gegründeten Gesamtvereins der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, auch heute noch Herausgeber der renommierten Blätter für deutsche Landesgeschichte.
Während die universitäre Lehre und Forschung zur sächsischen Landesgeschichte seit dem frühen 20. Jahrhundert zunächst in Leipzig institutionalisiert war, profitiert Dresden seit jeher von seinem aktiven Vereinsleben, einem reichhaltigen kulturellen Angebot und den Standortvorteilen einer (seit 1918 ehemaligen) Residenzstadt. Vor allem die Königlichen Sammlungen, zu denen auch eine Bibliothek mit exzellentem Ruf zählte, regten früh zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Vergangenheit von Stadt und Region an. Als Nachfolgerin der Königlichen Bibliothek unterhält die SLUB enge Beziehungen zum 1992 gegründeten Dresdner Lehrstuhl und ist regelmäßig mit Lehrformaten zur Erforschung von Beständen und digitalem Datenmanagement präsent. Auch die Nähe zum Sächsischen Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden bietet Landeshistorikerinnen und Landeshistorikern sowie den Studierenden eine gewaltige Fülle an Material, aus der etwa für Abschlussarbeiten geschöpft werden kann. Nicht zuletzt bietet auch das Archiv der 1828 als Königlich-Technische Bildungsanstalt zu Dresden gegründeten Technischen Universität Dresden einen reichen Quellenbestand für die sächsische Landesgeschichte.
Eine besondere Bedeutung für den Standort Dresden hat das 1997 gegründete Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), ein außeruniversitäres Forschungsinstitut, das sich der historischen und kulturanthropologischen Grundlagenforschung sowie aktuellen Forschungsthemen widmet. Eine herausragende Rolle spielen dabei digitale Methoden und die Open Access-Publikation von Forschungsdaten und -ergebnissen. Darüber hinaus sind als wichtige Forschungsinstitutionen, mit denen der Lehrstuhl eng zusammenarbeitet, u. a. das Sorbische Institut in Bautzen, das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden, die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die Staatlichen Schlösser, Burgen und Gärten Sachsen sowie Stadtarchiv und Stadtmuseum Dresden zu nennen.
Geschichte des Lehrstuhls
Begründet wurde der Lehrstuhl von Karlheinz Blaschke (1927–2020), der sich zuvor in der DDR als systemkritischer Archivar und Landeshistoriker einen auch in die Bundesrepublik ausstrahlenden Ruf erarbeitet hatte. Blaschkes Verdienst in seiner Zeit als Lehrstuhlinhaber von 1992 bis 1998 besteht zum einen in seiner umfangreichen und vielfältigen Forschungs- und Vermittlungstätigkeit und zum anderen darin, der sächsischen Landesgeschichtsforschung mit dem Aufbau des Dresdner Lehrstuhls und seinem Engagement für die Gründung des ISGV zu einem abgesicherten institutionellen Rahmen verholfen zu haben.
In die langjährige Lehrstuhltätigkeit von Winfried Müller (*1953) von 1999 bis 2019 fallen nicht allein die Weiterentwicklung des ISGV zur zentralen Institution der landeshistorischen und volkskundlichen Forschung in Sachsen, sondern auch ein reger Ausbau der Lehrstuhlaktivitäten. In den Jahren 2001 bis 2008 leitete Müller das Teilprojekt R „Das historische Jubiläum. Genese, Inszenierungsgeschichte und Ordnungsleistung eines institutionellen Mechanismus“ im Dresdner SFB 537 „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. Dem schloss sich von 2009 bis 2014 die fachliche Leitung des Teilbereichs G „Gemeinsinndiskurse und religiöse Prägung zwischen Spätaufklärung und Vormärz (ca. 1770–ca. 1848)“ im SFB 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ an. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit am Lehrstuhl legte Müller auf die Sattelzeit. Zuletzt beschäftigte sich Müller mit sächsischen Künstlersteinzeichnungen und der frühen Dresdner Kinokultur 1895–1945.
Seit 2019 ist Andreas Rutz (*1974) Inhaber des Lehrstuhls für Sächsische Landesgeschichte an der TU Dresden. Wie sein Vorgänger leitet er, gemeinsam mit dem Leipziger Kollegen Prof. Dr. Enno Bünz, das ISGV.