Projekt "Die Welt vor Ort. Sammlung, Nutzung und Verbreitung globaler Wissensbestände in Sachsen vom 16. bis 19. Jahrhundert"
Inhaltsverzeichnis
Projektbeschreibung
Weltgeschichte im traditionellen Sinne behandelt – ganz im Sinne einer eurozentrischen Perspektive – ausschließlich die Geschichte außereuropäischer Kulturen und Regionen. Europa und seine Staatenwelt wird durch diese Trennung der Geschichte in einen europäischen und einen ‚weltgeschichtlichen‘ Teil ein herausgehobener Status zugeschrieben. Der in jüngerer Zeit etablierten Globalgeschichte geht es dagegen um die ‚Provinzialisierung‘ (Dipesh Chakrabarty) eben dieses Kontinents sowie das Aufbrechen eurozentrischer und nationalstaatlicher Deutungsmuster. Zu diesem Zweck wird Europa als eine Weltregion unter vielen verortet, die untereinander verglichen werden, ohne dass der Westen notwendigerweise als Referenzpunkt fungiert. Darüber hinaus werden globale Verflechtungen und Kulturtransfers analysiert, wobei lokal und regional begrenzte Perspektiven eine wichtige Rolle spielen. Denn auch unter den Bedingungen der Globalisierung lebten und leben Menschen in überschaubaren räumlichen Zusammenhängen. Hier bietet sich für die Landesgeschichte eine hervorragende Möglichkeit, methodisch und inhaltlich an der Erforschung der Globalgeschichte mitzuwirken. Denn zum einen unterläuft sie mit ihrem Fokus auf Räume mittlerer Größe seit jeher nationalstaatliche Deutungsmuster von Geschichte. Zum anderen hat sich in jüngerer Zeit eine methodische Diskussion über die europäischen Dimensionen der (deutschen) Landesgeschichte entwickelt, in der es insbesondere um die Möglichkeiten interregionaler Vergleiche sowie innereuropäische Kontakte, Transfers und Verflechtungen geht. Derartige Ansätze sind für die Erforschung der globalen Dimensionen von Landesgeschichte weiterzuentwickeln.
Diesem Zweck dient das Forschungsprojekt, mit dem am Beispiel Sachsens globale Transfer- und Aneignungsprozesse von Wissen und ihre Bedeutung für die regionale und lokale Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft des 16. bis 19. Jahrhunderts analysiert werden sollen. Auch der europäische Raum gerät in diesem Zusammenhang in den Blick, denn gerade ein Binnenland wie Sachsen war auf die Vermittlung von Weltwissen von außen – etwa durch die westeuropäischen Monarchien und die niederländische Republik mit ihren Häfen und globalen Handelsbeziehungen oder die ostmitteleuropäische Staatenwelt mit ihren Kontakten nach Russland und in das Osmanische Reich – angewiesen. Untersucht werden sollen die Akteurinnen und Akteure, die Medien und die Orte des Transfers und der Aneignung sowie die übertragenen Wissensbestände als solche. Zu fragen ist, wer globales Wissen nach Sachsen vermittelte und wer es dort rezipierte, in welcher medialen Form sich Wissenstransfer und -aneignung vollzogen und welche Orte hierfür zur Verfügung standen. Schließlich ist zu untersuchen, wie globale Wissensbestände jeweils genutzt wurden, welche Bedeutung die Aneignung globalen Wissens für die Region und einzelne Orte hatte und wie sich dadurch die Wahrnehmung der Welt bzw. anderer Kulturen veränderte.
Die sächsische Geschichte bietet für das Projekt vielfältige Anknüpfungspunkte, etwa die weltweite Sammlungstätigkeit der Kurfürsten seit dem 16. Jahrhundert, die auch wilde Tiere und Menschen aus Afrika und Übersee einschloss, die Leipziger Messe als bedeutenden mitteleuropäischen Umschlagplatz für globale Güter, den Dresdner Hof und die Stadt als Konsumptionsorte entsprechender Waren, ein differenziertes Bildungswesen mit mehreren Universitäten und Fürstenschulen als Orten der Gelehrsamkeit und eine reiche Verlagslandschaft mit auflagenstarker Produktion von Büchern, Flugschriften und anderen Medien oder die seit dem 16. bis in das frühe 19. Jahrhundert unternommenen Versuche zur Gründung von Handelskompanien für den Überseehandel. Die regionale Reichweite der Untersuchungen wird je nach Epoche und thematischer Ausrichtung variieren. In vielen Fällen wird es sich als fruchtbar erweisen, den Wissenstransfer aus bestimmten Ländern und Regionen in epochalen Längsschnitten zu bearbeiten und so Kontinuität und Wandel der Beziehungen zu analysieren.
Sachsen wird durch die globale Perspektivierung als eine von weltumspannenden Transferprozessen geprägte Region sichtbar. Die sächsische Geschichte erscheint damit in einem neuen, anderen Licht – nicht mehr als die Geschichte eines begrenzten und lediglich in epochaler Tiefe und thematischer Breite zu erforschenden Raums mittlerer Größe, sondern vielmehr als Geschichte einer offenen, dynamischen und durch vielfältige Beziehungen und Verflechtungen mit seinen Nachbarn, Europa und der Welt verbundenen Region. Sächsische Landesgeschichte lässt sich somit nicht mehr isoliert betrachten, sie ist auch die Geschichte Afrikas, Amerikas, Asiens und Europas, sächsische Landesgeschichte ist globale Geschichte vor Ort.
Kontakte
Lehrstuhlinhaber
NameProf. Dr. Andreas Rutz
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Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte
Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte
Besuchsadresse:
Bürogebäude Zellescher Weg, 5. Etage, Raum A536 Zellescher Weg 17
01069 Dresden
Sprechzeiten:
- Donnerstag:
- 10:00 - 12:00
- online
Terminvereinbarung per Email
Publikationen
Andreas Rutz, Deutsche Landesgeschichte europäisch. Grenzen – Herausforderungen – Chancen, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 79 (2015) [Festgabe für Manfred Groten zum 65. Geburtstag], S. 1–19.
Andreas Rutz, Wilde Tiere und herrschaftliche Repräsentation in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 305 (2017), S. 334–361.
Andreas Rutz, Landesgeschichte in Europa. Traditionen – Institutionen – Perspektiven, in: Freitag, Werner / Kißener, Michael / Reinle, Christine / Ullmann, Sabine (Hrsg.): Handbuch Landesgeschichte, Berlin/Boston 2018, S. 102–125.
Andreas Rutz, Die langen Reisen des Zacharias Wagner (1614–1668), oder: Sächsische Landesgeschichte als ‚global history‘, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 91 (2020) [2021], S. 81–111.
Andreas Rutz, Zwischen Globalisierungsdiskursen und neuer Heimatrhetorik. Herausforderungen für die Landesgeschichte im 21. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 39 (2021), S. 17–36.
Andreas Rutz, Zacharias Wagner (1614–1668), Thier-Buch („Livre des animaux, où sont reproduites moult différentes espèces de poissons, d'oisaux, d'animaux à quatre pattes [...] au Brésil [...]“), in: Brink, Claudia (Hrsg.): Miroir du Monde. Chefs-d’oeuvre du Cabinet d’art de Dresde. Ausst.-Kat. Paris 2022/23, Paris 2022, S. 66f.