25.04.2023
6.-7. Juli 2023: Tagung "Geistesgegenwart und Nachdenklichkeit. Kleine Formen der Intervention"
Tagung am Institut für Germanistik und Medienkulturen der TU Dresden
WANN: 6. bis 7. Juli 2023
WO: Festsaal im Tillich-Bau, Helmholtzstraße 6-8, 01069 Dresden
Organisation: Bernhard Stricker
Keynote: Prof. Paul Fleming (Cornell University)
Kleine Formen, wie sie aktuell im Zentrum mehrerer literatur-, medien- und kulturwissenschaftlicher Forschungsdiskurse stehen (siehe etwa das DFG-Graduiertenkolleg 2190 »Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen«, Humboldt-Universität zu Berlin), bestechen durch Kürze und Knappheit (Gamper/Mayer 2017), durch eine zeitliche und räumliche Ökonomie, welche die Voraussetzung ihres Eindringens in größere ›Texturen‹ darstellt. Die ursprüngliche Platzierung des Feuilletons ›unterm Strich‹ (Jäger/Matala de Mazza/Vogl 2021, 4–5) bildet hierfür ein ebenso prägnantes Beispiel wie die Entstehung der Kalendergeschichte durch das Ausfüllen der freien Seitenräume im Kalendarium (Goppelsröder 2017, 79; Stricker 2021). Die kleine Form ist also geradezu per definitionem eine ›Intervention‹, ohne diesen Begriff auf politischen Aktivismus im engeren Sinne zu beschränken (zur Breite des Konzepts der ›Intervention‹ siehe das Forschungsprogramm des SFB 1512 »Intervenierende Künste« an der Freien Universität Berlin). Im Zentrum der internationalen Konferenz an der Professur für Medienwissenschaft und Neuere deutsche Literatur der Technischen Universität Dresden soll das Disruptionspotential (Koch 2021) dieses spatialen und temporalen ›Zwischenraums‹ (Althaus/Bunzel/Göttsche 2007) stehen. Denn die besondere Dynamik kleiner Formen beschränkt sich keineswegs darauf, dass sie den für die Moderne charakteristischen Imperativen der Beschleunigung, des Aktualitätsdrucks und der Gegenwärtigkeit gehorchen. Die Konferenz widmet sich vielmehr der Frage, inwiefern kleine Formen dank ihres besonderen ›Sensoriums für Flüchtigkeit‹ (Brokoff 2020, 104) dazu tendieren, die ökonomischen Zwänge ihrer Hervorbringung sowie die (zeit-)räumliche Konfiguration, in die sie sich einschreiben, zu reflektieren, zu durchbrechen und zu unterlaufen. Indem sie die äußerlichen Bedingungen ihres Erscheinens in eine produktive Unterbrechung von Routinen transformieren, so die Hypothese, konstituieren kleine Text- und Bildformate ein Spielfeld, auf dem ein Umschlag von Zeitdruck in Zeitvertreib, von knappen Aufmerksamkeitsressourcen in unerschöpfliche Deutungsoptionen, von Effizienz in Emergenz stattfinden kann.
Exemplarisch für mögliche Konzeptualisierungen dieser Leistung kleiner Formen können Walter Benjamins Begriff der »Geistesgegenwart« (Benjamin 1991, I, 695, 1242, 1244) und Hans Blumenbergs Konzept der »Nachdenklichkeit« (Blumenberg 1980) stehen. Es handelt sich um zwei auf den ersten Blick gegensätzliche Ausprägungen eines Nachdenkens über das Spannungsverhältnis von Zeit und Reflexion. Benjamin versteht unter Geistesgegenwart eine antizipatorische Aktionsform, die auf einer Aussetzung des Bewusstseins beruht, um wirksam werden zu können und die ihm als Modell für genuin revolutionäres Handeln auf dem Feld der Politik dient (Weidmann 1992). Nachdenklichkeit gilt Blumenberg dagegen als eine durch die philosophische Konfrontation von lebensweltlicher und szientifischer Rationalität gewonnene Suspendierung des Reiz-und-Reaktion-Schemas, die den Kern menschlicher Kulturleistungen darstellt (Zill 2015). Beide Begriffe markieren mit jeweils unterschiedlicher (politischer, anthropologischer) Akzentsetzung einen interventionistischen Zug philosophischer Theorie. Und beide Autoren greifen dafür auf das Modell literarischer Kleinformen zurück: Wo Benjamins Geistesgegenwart neben dem Surréalismus auch in seiner Lesart der Kalendertexte Hebels gründet (Benjamin 1991, II, 640; Stricker 2021), da speist sich Blumenbergs Nachdenken nicht nur aus Anekdoten (Fleming 2012; Hawkins 2017), sondern entwickelt er sein Konzept von Nachdenklichkeit auch auf der Grundlage der äsopischen Fabeln (Fuchs 2022). Die Konzepte Benjamins und Blumenbergs können also einen möglichen Ausgangspunkt markieren für die im Rahmen der Konferenz geplante Untersuchung der vielfältigen Modi, in denen Theoriebildung sich auf dem Umweg über kleine literarische Formen auf Gegenwart bezieht und ihren eigenen Zeitbezug reflektiert, um in Prozessen und Diskursen zu intervenieren.
Literatur:
- Althaus, Thomas/Bunzel, Wolfgang/Göttsche, Dirk (2007): Ränder, Schwellen, Zwischenräume. Zum Standort kleiner Prosa im Literatursystem der Moderne. In: dies. (Hg.): Kleine Prosa. Theorie und Geschichte eines Textfeldes im Literatursystem der Moderne. Tübingen: Niemeyer, S. ix-xxvii.
- Blumenberg, Hans (1980): Nachdenklichkeit. Dankrede zur Verleihung des Sigmund-Freud-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. URL: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/dankrede [12.01.2023].
- Brokoff, Jürgen (2020): Literarische Form und Intervention. Zur Formdiskussion im Kontext der proletarisch-revolutionären Literaturtheorie um 1930. In: Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung. Hrsg. v. Torsten Hahn und Nicolas Pethes. Bielefeld: transcript, S. 101–114.
- Fleming, Paul (2012): On the Edge of Non-Contingency: Anecdotes and the Life-World. In: Telos 158, S. 21–35.
- Fuchs, Florian (2022): Decoding Aesop: Blumenberg’s Fabulistic Turn. In: New German Critique 145, Vol. 49, No. 1, S. 163–183.
- Gamper, Michael/Mayer, Ruth (Hg.) (2017): Kurz und Knapp. Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld: transcript.
- Goppelsröder, Fabian (2017): Hebels Kalenderpoetik. In: Weimarer Beiträge 63, S. 78–100.
- Hawkins, Spencer (2017): Anecdote as Philosophical Intervention: Hans Blumenberg’s Figure of the Absent-Minded Phenomenologist. In: Monatshefte 109, No. 3, S. 430–452.
- Holzer, Jenny (1996): Writing./Schriften. Hrsg. von Noemi Smolik. Ostfildern-Ruit: Cantz.
- Jäger, Maren/Matala de Mazza, Ethel/Vogl, Joseph (2021): Einleitung. In: dies. (Hg.): Verkleinerung. Epistemologie und Literaturgeschichte kleiner Formen. Berlin/Boston: De Gruyter, S. 1-12.
- Koch, Lars (2021): Literaturwissenschaft als Disruptionswissenschaft. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft LXV, S. 413–428.
- Stricker, Bernhard (2021): Hebels Nachleben. Die Kalendergeschichte als kleine Form. In: Archiv für Mediengeschichte – Kleine Formen. Hrsg. von Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl, S. 135–145.
- Weidmann, Heiner (1992): Geistesgegenwart: Das Spiel in Walter Benjamins Passagenarbeit. In: MLN 107, No. 3, S. 521–547.
- Zill, Rüdiger (2015): Nachdenklichkeit, antik – und modern. Sokrates als Urbild narrativer Philosophie. In: Prometheus gibt nicht auf. Antike Welt und modernes Leben in Hans Blumenbergs Philosophie. Hrsg. v. Melanie Möller. Paderborn: Wilhelm Fink, S. 219–238.
Programm
Donnerstag, 06. Juli 2023
14:00 |
Begrüßung und Einführung |
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14:15 |
Jürgen Brokoff (Berlin) |
»Durchstreichen, Zurückziehen, Aussetzen. Über (geistes-)gegenwärtige Verfahren von kleinen Formen der Intervention« |
15:00 |
Anja Gerigk (Dresden) |
»Gattungsökonomien und Schreibgestus. |
15:45 |
Kaffeepause |
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16:15 |
Fabian Goppelsröder (Braunschweig) |
»Kalendergeschichte, Fait Divers, Twitter. |
17:00 |
Florian Fuchs (Berlin) |
»Operative Erzählungen. Über kleine Form und nicht-menschliche Autonomie« |
17:45 |
Kaffeepause |
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18:15 |
Öffentlicher Abendvortrag von Paul Fleming (Cornell University): »Nichtdenken, Nachdenken, Lachen: Kleine Formen in Blumenberg und Freud« |
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20:30 |
Gemeinsames Abendessen |
Freitag, 07. Juli 2023
09:00 |
Eva Axer (Berlin) |
»›Einfache Formen‹ der Intervention – Jolles mit Benjamin gelesen« |
09:45 |
Rüdiger Zill (Potsdam) |
»›Denkbilder‹ oder ›Begriffe in Geschichten‹. Kleine Formen bei Walter Benjamin und Hans Blumenberg« |
10:30 |
Kaffeepause |
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11:00 |
Claudia Öhlschläger (Paderborn) |
»Zwischen Heroismus und kritischer Intervention: Physiognomische Miniaturen als Medien historiographischer Reflexion im frühen 20. und 21. Jahrhundert« |
11:45 |
Bernhard Stricker (Dresden) |
»Die Erfahrung des Gemeinplatzes. |
12:30 |
Mittagspause |
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14:00 |
Julia Prager (Dresden) |
»Schinkenfleckerl, Sachertorte und Grünkohl. Traditionsgerichte als kleine Formen identitätspolitischer Intervention bei Jelinek, Schleef und Regener/Haußmann« |
14:45 |
Annika Hildebrandt (Bonn) |
»Intervention und Aktivierung. Hanns Eislers Konzept des revolutionären Kampflieds« |
15:30 |
Kaffeepause |
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16:00 |
Lars Koch (Dresden) |
»Über Anwürfe. Beobachtung zu einer Praktik der Missbilligung zwischen Kritik und Invektivität« |
16:45 |
Abschlussdiskussion |