Geisteswissenschaften erlebbar machen
Im Rahmen der Ausschreibung "Denkwerk" der Robert Bosch Stiftung wird das Projekt "Fremde in Dresden" an der Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der TU Dresden durchführt und am MitteleuropaZentrum an der TUD koordiniert. Prof. Dr. Walter Schmitz hat dort die Leitung einer Arbeitsgruppe übernommen, in der neben Vertretern der kultur- und geschichtswissenschaftlichen Fächer der TU Dresden auch Lehrende und Studierende der Evangelischen Hochschule für soziale Arbeit und der Hochschule für Musik Carl-Maria von Weber beteiligt sind. Ziel des Projektes ist es, Schülerinnen und Schüler der allgemeinbildenden Schulen früh mit der Arbeitsweise der Geisteswissenschaften vertraut zu machen. Acht sächsische Gymnasien und eine Mittelschule nehmen daran teil. Über einen Zeitraum von drei Jahren werden die Schülerinnen und Schüler Aspekte der Zuwanderung, wie sie die Stadt Dresden von Beginn an geprägt hat, erforschen. "Die kulturelle Blüte Dresdens in der Frühen Neuzeit bis zur Ära Augusts des Starken ist ohne die Mitwirkung von Architekten, Malern, Künstlern, Gelehrten aus ganz Europa, vor allem aber aus Italien undenkbar", bringt Prof. Schmitz das Projektthema auf den Punkt. "Im Zeitalter der Nationen, im 19. Jahrhundert, kommt es zu einer breiten Zuwanderung aus den Ländern Mittel- und Osteuropas - aus Polen, aus Russland. Gruppen wie einzelne Persönlichkeiten, so etwa der bedeutende polnische Dichter Kraszewski, finden in Dresden einen Aufenthalts- oder auch einen Zufluchtsort." Ohne die Migrationsgeschichte Dresdens in 20. Jahrhundert wäre das Projekt unvollständig, ein Ausblick wird also nach Migration und Vertreibung in Mitteleuropa vor allem nach 1945 und nach 1989 fragen.
Organisiert ist das Denkwerk-Projekt in Modulen, die über drei Jahre hinweg stattfinden. Große Veranstaltungen an der Technischen Universität Dresden leiten die Arbeit in Gruppen ein. Dabei soll auch ein Stadtführer mit dem Thema "Migration in Dresden" entstehen. Für ihn werden die Schüler gemeinsam mit studentischen Tutoren zu einzelnen Erinnerungsorten in der Stadt Dresden - seien es nun Museen wie das Kraszewski-Museum oder Plätze, die nach der Zerstörung von 1945 nur noch zu rekonstruieren sind - zeitgeschichtliche Aspekte der Stadt erlebbar machen. Die Verbindung von Wissensvermittlungen, praktischem, methodengeleiteten Wissenserwerb und persönlichen Begegnungen, soll die Geisteswissenschaften sicherlich nicht nur, aber doch vor allem auch hier an ihrem Standort Dresden als ein attraktives Angebot, Bildung und Wissen zu erwerben, für die SchülerInnen erlebbar machen. Zugleich können sie erfahren, wie die Wirklichkeit, in der wir leben, geschichtlich geworden ist, und die Sprache, in der wir über die Wirklichkeit sprechen, Handeln und Verhalten prägt. Dass Fremde, so können die SchülerInnen erfahren, nicht als Außenseiter ausgegrenzt, sondern als willkommene Gäste in das Leben des Gemeinwesens integriert wurden, ist immer die Voraussetzung für die Blüte der Stadt Dresden gewesen.
Es geht darum, gemeinsam mit Lehrern und
Schülern die ganze Komplexität des Phänomens ‚Migration’ zu
erhellen und begreifen – in seiner allgemeinen Bedeutung: als
eine Bewegung von Menschen über Grenzen, die also den Verlust
einer gewohnten Lebenswelt beinhaltet und den Versuch, eine
neue zu gewinnen.
Wir nähern somit das Verständnis von ‚Migration’ eben jener
Vielfalt an, die den Schülern – und allen Bürgern – in ihrer
Lebenswelt stets begegnet und erst recht eigentlich den
Maßstab für die von den Wissenschaften erwartete Orientierung
abgibt. Der interdisziplinären Erkenntnissuche entspricht also
ein zweites wissenschaftsethisches Ziel unseres Projektes: Es
geht uns um eine Entdramatisierung des Migrationbegriffes; es
geht um ein Wahrnehmung von Migration, die eben nicht nur
soziale Probleme in den Blick nimmt, nicht nur an historisches
Unrecht und Gewalt erinnern will, sondern die zudem – in einer
oft sogar unauflösbaren Verschränkung – auch die Aspekte des
Gewinns von Chancen, der Befreiung von Gefahr und
Unterdrückung, der Problemlösung für die aufnehmenden
Gesellschaften erkennt und würdigt.
Erst die Arbeit am Begriff als grundlegendes geisteswissenschaftliches Verfahren rechtfertigt, wenn sie in der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden gelingt, unser Projekt. Sie erlaubt es, die Komplexität wahrzunehmen, die sich hinter einem Schlagwort wie ‚Migration’ verbirgt; sie erlaubt es, sich – im vollgültigen Sinn des Wortes – in unserer komplexen Gegenwart zu orientieren. Die Erkenntnisdimension der Geschichte öffnet sich damit von einer aktuellen Fragestellung aus, vermag dann aber – aus dem Eigenrecht und der Spezifik der je historischen Problemlage –, die Aktualität zu relativieren und zu differenzieren. Aus dieser Erfahrung sollte auch, so meinen wir, für die beteiligten Schüler und Schülerinnen – und für alle Mitwirkenden – die Faszination des geisteswissenschaftlichen Arbeitens (neu) erfahrbar werden. Gleichwohl wäre es ein Irrtum, diese Faszination nur von den Inhalten, den neuen Erkenntnissen, dem interessanten Gegenstand zu erwarten. Tatsächlich sind die Geisteswissenschaften schlecht beraten, wenn sie auf die Faszinationskraft ihrer Resultate setzen und darüber versäumen, deutlich zu machen, dass die eigentliche Faszination des Erkennens in der Selbsttätigkeit des Menschen zu finden ist. Es geht uns also – schließlich als drittes, methodisches Ziel unserer Arbeit – darum, das Projekt so zu entwerfen, dass die Schüler und Schülerinnen frühzeitig mit der Praxis der Forschung vertraut werden und demnach das, was sie an neuem Wissen erwerben, auch tatsächlich selbst erarbeiten können. Die Stadt Dresden bietet für die Bündelung einer fachübergreifend zu erschließenden ‚Problemlage’ wie ‚Migration’ den exemplarischen Fall. Ihre Geschichte als Residenz und Landeshauptstadt, ihre reiche, weithin berühmte und die Stadt prägende kulturelle Tradition fordern dazu auf, Migrationprozesse zu rekonstruieren – einmal die Impulse, die Migranten zu verdanken sind, dann auch die soziale Problematik und Verdrängung von Migration und schließlich wiederum die Zukunftschancen, die durch Zuwanderungen in Mitteleuropa möglich wären; denn Dresden ist nicht zuletzt ein exemplarischer Fall, weil die Stadt in die Großregion Mitteleuropa mit ihren ständig wechselnden Grenzen und vielfältigen Inklusions- und Exklusionsprozessen eingebettet ist.