Erinnerte Shoah - Die Literatur der Überlebenden/The Shoah Remembered - Literature of the Survivors
Internationales Kolloquium
(27. - 31. Mai 2000)
Tagungsprogramm
2003 wurden die Beiträge des Kolloquiums in der Reihe »Lesecher... Judentum in Mitteleuropa« im Dresdner Thelem Verlag publiziert.
Eine Rezension des Bandes erschien auf haGalil.
Veranstalter:
Kulturwissenschaftliches Mitteleuropazentrum an der TU Dresden
in Zusammenarbeit mit
HATiKVA - Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur in Sachsen e.V. und dem
Kulturamt der Stadt Dresden
Leitung:
Prof. Dr. Walter Schmitz
Organisation:
Annette Teufel
Finanzierung:
Gefördert durch
die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung
die Deutsche Lufthansa AG
den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft
das Sächsische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst
die Gesellschaft von Freunden und Förderern der TU Dresden
die Alexander von Humboldt-Stiftung
die Dresdner Bank und
Karat Digital Press, Radebeul
Presseecho:
Sächsische Zeitung, 3./4. Juni 2000
Die Lehren der Kälte
"Erinnerte Shoah": Autoren und Wissenschaftler lasen und diskutierten in Dresden
Von Gregor Kunz
Schriftsteller sollten mit ihrem Werk nicht verwechselt werden. Das sagte Ruth Bondy ehe sie aus ihrer Autobiografie "Mehr Glück als Verstand" zu lesen begann. Sie sprach über ihr Literaturverständnis: Was man sagen wollte, steht schwarz auf weiß und vollkommene Biografien gibt es nicht. Und: Das dickste Buch ist das nicht gesagte...
Jedes Buch ist Artefakt und Auswahl, heißt das wohl, und was sich hat sagen lassen, steht da. Ruth Bondy geht dem Wie des Überlebens nach und dem Warum, und den Fragen im Gefolge. "Wie blieb man in der Hölle der Shoah am Leben, was hielt einen am Leben?" Aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Prag, kam Ruth Bondy mit 19 ins Ghetto Theresienstadt, drei Jahre später, 1943 ins "Familienlager" Auschwitz-Birkenau, 1944 nach Bergen-Belsen.
Um zu überleben, sagt sie, brauchte man einen eisernen Willen, einen Talisman, ein Wunder. Nur hatte den Willen, den Talisman und die Hoffnung auf ein Wunder fast jeder andere auch...
"In erster Linie entschied das Alter über das Schicksal im Lager. Kinder und Alte hatten kaum eine Chance. Dann der Zufall. Dann der Beruf. Geistesgegenwart, die körperliche und seelische Verfassung. Wo steht wer beim Zählappell und in welches Arbeitskommando kommt er... Doch damit hat der Zufall nichts von seiner Macht verloren," sagt Ruth Bondy. Sie habe gelernt über Theresienstadt und Birkenau zu sprechen, ohne dass ihr die Stimme versagt: "Aber nicht in der Ich-Form..."
Gedauert habe das zwanzig Jahre. Ihr Anliegen beschreibt sie mit "Dem Nebel der sechs Millionen einzelnen Gestalten, Menschen aus Fleisch und Blut zu entreißen", ihre Grenzen markiert ein großer Satz: "Dem Tod der Millionen ermordeten Kinder kann ich keinerlei Lehre entnehmen". Ruth Bondy lebt seit 1948 in Israel.
Aharon Appelfeld sprach von seinen Hochschulen, von den unterdrückten Erinnerungen einer Generation, vom Schreiben über menschliche Dinge. Wunderbare Schulen, sagt er: Ich war im Wald, im Ghetto, im Lager, bei Kriminellen.... It is a fool answer? "Meine Kindheit war Czernowitz und endete 1940, mit dem Einmarsch der Deutschen. Meine Mutter wurde ermordet... Da war ich neun." Er kam ins Ghetto und dann ins Lager, aus dem ihm die Flucht gelang, überlebte in den ukrainischen Wäldern und bei Prostituierten, Bettlern, Kriminellen... "Die Außenseiter waren gut, die normalen Leute, die Mittelklasse war schlecht zu mir."
1944 schloss er sich der Roten Armee an und gelangte über Jugoslawien und Italien nach Palästina... Sein jetzt deutsch vorliegender Band "Der eiserne Pfad" ist die Geschichte einer 40-jährigen, zwanghaften Reise, handelt von leeren Waggons und serviertem Kaffee, der Abscheu vor Thermoskannen und Lautsprechermusik, von Lebensangst und der insektenhaften Existenz kleiner Beamter, vom Meiden der Großstädte und kleinen Dörfern... "Wenn ich nicht arbeiten müsste, würde ich die Züge nie verlassen... Nichts geht über die Liebe in der Eisenbahn... Wären nicht die Müdigkeit und gewisse Frauen, ich würde die Bahnhöfe nicht verlassen. Auch sie habe ich lieben gelernt..."
Ausgangspunkt ist ein Nicht-Ort, an dem die SS die Waggons mit den Deportierten 1945 stehen ließ. Die Literatur der erinnerten Shoah - im weiteren Sinne: der Lager und der Vernichtung - ist Literatur einer Minderheit der Überlebenden: Primo Levi, Fred Wander, Jurek Becker, Jorge Semprun, Aharon Appelfeld, Ruth Bondy, Sara Kofmann. Primo Levi nannte die Überlebenden eine privilegierte Gruppe, die das System durchschaut hat, ihre Literatur die distanzierten Beobachtungen einer Minderheit. Wer den tiefsten Punkt erreicht hat, der starb oder verlor die Fähigkeit zur Beobachtung.
Wie mit den "Verhaltenslehren der Kälte" (Claudia Albert, Berlin) umzugehen war und ist, das Wie und Warum von Sprache, Chronik und Deutung waren Gegenstände der Diskussion, der Vorträge und Lesungen während des viertägigen Colloquiums des Mittel-Europa-Zentrums an der TU Dresden und der Bildungs- und Begegnungsstätte für jüdische Geschichte und Kultur in Sachsen HATiKVA. Weiterschreiben und weiter schreiben. Dieses Auschwitz ist eine Welterfahrung, sagt sinngemäß Imre Kertész. Es hat das Leben der Menschheit verändert. Die Shoah ist eine zentrale Frage der europäischen Zivilisation. Nur im Weiterschreiben, wenn dieses Auschwitz als kontinuierliche Welterfahrung begriffen wird, kann das Zeugnis Bestand haben.
Sächsische Zeitung, 30. Mai 2000
Folter und Tod, Musik und Theater
In Dresden begann das Kolloquium "Erinnerte Shoah - die Literatur der Überlebenden"
Von Wolfgang David
Untersuchungen über nazistischen Massenmord an den Juden haben Konjunktur. Da verliert man leicht die schrumpfende Zahl derer aus den Augen, für die der Forschungsgegenstand gelebtes Leben war. Schon kostete es Mühe, ihre Zeugnisse zwischen all der Sekundärliteratur aufzuspüren. Wird nicht gegengesteuert, ist der Tag nicht mehr fern, an dem man sich dem Holocaust ebenso abgeklärt nähert wie heute den Napoleonischen Kriegen.
Das Mitspracherecht der Betroffenen bei der Deutung des Erlittenen sichern zu helfen, sind drei Dutzend Wissenschaftler und Autoren aus Europa, den USA sowie Israel an der TU Dresden zusammengekommen: Vertreter mehrerer Sparten, wie der Initiator, Professor Walter Schmitz, hervorhebt. Das ist nicht so selbstverständlich, wie man meinen könnte, wird doch Literaturwissenschaft vor allem jeweils im Rahmen einer nationalen Philologie betrieben.
Das KZ als Aufführungsort von Jazz und Schönberg
Andere Disziplinen arbeiten dem Thema ebenfalls zu. Der Musikwissenschaftler Milan Kuna etwa konfrontiert uns mit der gewöhnungsbedürftigen Vorstellung, dass in den Lagern nicht nur getötet und gefoltert, sondern auch musiziert, komponiert und inszeniert wurde, oft mit Duldung der Obrigkeit. In Dachau gelang "Cyrano de Bergerac" zur Aufführung, in Sachsenhausen betätigte sich eine Musikgruppe tschechischer Studenten, die sich den makabren Namen "Sing-Sing-Boys" gegeben hatten. Jazz wurde in manchen KZs ebenso gespielt wie - "draußen" undenkbar - Mendelssohn Bartholdy oder Schönberg. Welches Kalkül dahintersteckte, ist klar: Die Vernichtungsmaschinerie werde keinen Schaden nehmen, wenn sich die Häftlinge ein bisschen ablenkten; im Gegenteil. Diese wiederum stärkten so ihren bedrohten Lebenswillen. Dennoch, es verschlägt einem den Atem.
Der Schrecken muss nicht beschworen werden, er ist in seinen Projektionen immer gegenwärtig. So, wenn die Amerikanerin McGlothlin schildert, wie der österreichische Jude Jean Amery das Exil erfuhr. Aus der Umgebung gerissen, die ihn prägte, beginnt er sogar, seine Muttersprache zu hassen. Nie wieder, weiß er, wird es für ihn Heimat geben. Anders liegen die Dinge bei der israelischen Autorin Ruth Bondy, die es, Überlebende dreier Lager, auch mit 77 nicht lassen kann, eine Erklärung für ihre Rettung zu suchen (im Titel ihres glänzenden Erinnerungsbuches "Mehr Glück als Verstand" klingt diese Obsession an). Dabei weiß sie, dass die üblichen Regeln "dort" nicht galten, weder Cleverness noch Robustheit den geringsten Schutz boten. Im Lager entschied der Zufall über Tod oder Leben - nur er. Sie weiß es und kann diesen Gedanken noch heute nicht ertragen.