Kossel und Pseudo-Kossel Technik
Bei diesem Verfahren trifft ein fein fokussierter Elektronenstrahl (Durchmesser <10 µm) bzw. ausgeblendeter Röntgenstrahl (Durchmesser <100 µm) auf ein einkristallines Probengebiet und erzeugt dort innerhalb des Wechselwirkungsvolumens (Anregungsbirne) charakteristische Röntgen- bzw. Fluoreszenzstrahlung.
Im Falle der Röntgenstrahlanregung ist wegen der höheren Intensitäten Synchrotronstrahlung empfehlenswert. Bei Verwendung polychromatischer („weißer“) Synchrotronstrahlung besteht hierbei die Möglichkeit, KOSSEL- und LAUE-Interferenzen gemeinsam kontrastreich abbilden zu können. Teile der charakteristischen Strahlung und der gesamten Bremsstrahlung bei Elektronenanregung bzw. der Fluoreszenz- und Streustrahlung bei Röntgenanregung verlassen den Kristall ungebeugt und rufen eine (unerwünschte) Filmschwärzung hervor. Nur ein geringer Anteil der charakteristischen Röntgenstrahlung wird, falls das Untersuchungsgebiet einkristallin vorliegt (z.B. Korn einer polykristallinen Probe), an den interferenzfähigen Netzebenen gemäß der BRAGG‘schen Gleichung gebeugt (Gitterquelleninterferenzen). Diese Interferenzen liegen auf geraden Kreiskegeln mit dem halben Öffnungswinkel 90°-θ und erzeugen auf einem in Rückstrahlrichtung angeordneten Detektorsystem (Röntgenfilm, Image Plate oder CCD-Flächendetektor) die sogenannten KOSSEL-Linien, die geometrisch (bei ebenem Detektor) Kurven 2. Ordnung darstellen.
Zur gerätetechnischen Umsetzung wurde im Röntgenographischen Speziallabor ein multifunktionales KOSSEL-/EBSD-/REM-Mikrobeugungssystem (MFS) entwickelt und realisiert, welches die Anfertigung großformatiger (Genauigkeit der Auswertung) KOSSEL-Aufnahmen bei gleichzeitiger rasterelektronenmikroskopischer Auswahl des Untersuchungspunktes mit hoher Ortsauflösung gestattet. Die Größe der genutzten Flächendetektoren (Röntgenfilm, Image Plate) beträgt 240 x 300 mm.
Informationsgehalt einer KOSSEL-Aufnahme:
- Präzisionsbestimmung der kristallografischen Orientierung (Δα = ± 0,01° bei Missorientierung, sonst Δα= ± 0, 1° )
- Bestimmung von Symmetrieerniedrigungen (Tetragonale oder orthorhombische Verzerrungen)
- Präzisions-Gitterkonstantenbestimmung Δa/a ≤ 3·10-5 (in Spezialfällen: 3·10-6)
- Präzisionsbestimmung einzelner Netzebenenabstände (Eigenspannungsanalyse III.Art) mit |Δσ| ≤ 10 MPa
- Versetzungsdichtebestimmung (107 bis 1010 Versetzungen pro cm2)
- Phasenidentifizierung im Mikrobereich
- Unterscheidung von A- und B-Seiten nicht zentrosymmetrischer Gitter („Seitenidentifizierung“ z.B. an GaP-Halbleitern, Phaseninformation der Intensität, dynamische Theorie)