Food Facts Der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden
In unserem Wissenschaftspodcast Food Facts spricht Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle von der TU Dresden mit Moderator Peer Kittel und Studentin Jule über aktuelle wissenschaftliche Fragen zum Thema Lebensmittel und Ernährung. Von A wie Apfel bis Z wie Zusatzstoffe – wir klären die Fakten zur Chemie im Essen, räumen mit Mythen und Fake News auf und geben den ein oder anderen persönlichen Tipp.
Unsere Hörer:innen haben die Möglichkeit, Fragen zu den aktuellen Folgen oder eigene Themenwünsche per Email an einzureichen.
Die Folgen sind hier auf der Website sowie auf Spotify, Castbox Amazon Podcasts und Apple Podcasts und überall da, wo es Podcasts gibt zu hören.
Inhaltsverzeichnis
- Folge 10: Fermentation - von alter Tradition zum modernen Food-Hype
- Folge 9: Hochverarbeitete Lebensmittel - macht uns Industrienahrung krank?
- Folge 8: Ernährung und Evolution, Teil 2: Von milchtrinkenden Mutanten, veganen Hunden und laktosefreier Steinzeitdiät
- Folge 7: Ernährung und Evolution, Teil 1: Hat uns das Kochen zum modernen Menschen gemacht?
- Folge 6: Aspartam, Allulose, Agavensirup: Wie empfehlenswert sind Zuckeralternativen?
- Folge 5: Superfoods: Weniger super als gedacht?
- Folge 4: Honig, das flüssige Gold - aber was steckt wirklich drin?
- Folge 3: Mindesthaltbarkeitsdatum - Sollte es für einige Lebensmittel abgeschafft werden?
- Folge 2: Zusatzstoffe und E-Nummern – sind das wirklich alles Krankmacher?
- Folge 1: Lebensmittel-Kennzeichnung - Was muss alles auf Lebensmitteln drauf stehen und warum?
- Weitere Informationen
Folge 10: Fermentation - von alter Tradition zum modernen Food-Hype
Fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut, Joghurt, Kefir, aber auch Kimchi, Miso oder Kombucha sind heute gefragter denn je. Ob selbst fermentieren oder im Spitzenrestaurant genießen, fermentiertes Essen liegt voll im Trend. Aber was genau passiert bei der Fermentation, welche Reaktionen laufen dabei ab und seit wann werden diese Prozesse genutzt? Haben fermentierte Produkte einen besonderen Einfluss auf unsere Gesundheit? Und was bringt eine „Precision Fermentation“ für unsere zukünftige Ernährung? Über diese und weitere Fragen sprechen Moderator Peer Kittel und Studentin Jule Wäntig mit Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle von der TU Dresden.
Intro Musik
Peer Kittel: Food Facts, der lebensmittelchemiepodcast der TU Dresden. In unserer heutigen Folge sprechen wir über Fermentation, eine uralte Methode zum Haltbarmachen von Lebensmitteln,die in der modernen Küche gerade ein großes Comeback feiert.
Intro Musik
Peer Kittel: Sauerkraut, Kimchi, Joghurt, Käse, Bier und Wein – all diese Lebens- oder Genussmittel haben eines gemeinsam. Sie sind fermentiert. Seit Jahrtausenden machen Menschen auf diese Weise Nahrung haltbar. Und es scheint, dass diese Methode gerade wieder einen regelrechten Hype erfährt. Vom Privathaushalt bis hin zur Spitzenkastronomie fermentierte Nahrung boomt. Wir möchten uns in unserer heutigen Folge den Trend von der wissenschaftlichen Seite her anschauen, also was bedeutet fermentieren, welche Prozesse laufen dabei ab und welche Wirkung haben diese
Lebensmittel auf unseren Körper. Diese und weitere Fragen diskutieren wir mit Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle von der TU Dresden. Wir, das sind wie immer Studentin Jule Wäntig und ich, Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Insofern, wie gehabt, hallo Thomas, hallo Jule.
Thomas Henle: Hallo Per, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo.
Peer Kittel: Thomas, wir fangen wie immer ganz vorne an. Was bedeutet denn Fermentation eigentlich?
Thomas Henle: Also der Begriff Fermentation, der leitet sich auch von
einem lateinischen Wort, fermentum und das heißt übersetzt so viel wie Gärung oder gärendes Getränk oder auch Sauerteig je nach Quelle. Fermentation bedeutet, wenn man es ganz kurz fast die Umwandlung von Stoffen durch lebende Mikroorganismen oder die Umwandlung von Stoffen durch Enzyme, die man aus Mikroorganismen oder auch aus Pflanzen oder Tieren isoliert hat. Sehr häufig wird man den Begriff Fermentation dann synonym mit dem Begriff Gärung verwenden, was aber nicht so ganz richtig ist. Den von Gärung spricht man eigentlich nur, wenn es an Anaerobe-Prozesse sind, also Prozesse, die ohne Sauerstoff ablaufen. Die Fermentation schließt aber jetzt Aerobe-Prozesse, also Reaktionen unter Sauerstoffbeteiligung und Anaerobe-Prozesse mit ein. Also wenn man jetzt so will, ist eine Gärung, eine Fermentation, die ohne Sauerstoff abläuft.
Jule Wäntig: Wo findet man denn den Fermentationsprozess in freier Wildbahn?
Thomas Henle: Also diese Fermentationsprozesse sind in der Natur sehr weit verbreitet und letztlich sind alle Fermentationen, die man im Haushalt oder in der Industrie nutzt, genauso auch biochemische Reaktionen, die genauso in der Natur ablaufen. Und solche Reaktionen, die kennt wahrscheinlich jeder, das geht los vom Verfaulen von Äpfeln, die vom Baum fallen, die vom Baum gefallen sind und dann nach Alkohol riechen nach einiger Zeit des Sauer werden von Milch, des Verfaulen von Fleisch, auch der Geruch der Unangenehme, der sich da bildet. Auch das sind Fermentationsprozesse des Verrotten vom Holz im Wald, alle möglichen Reaktionen in einem Komposthaufen ablaufen. Alles das sind Fermentationen, die also letztlich, wenn man so will, so alt sind wie die belebte Natur. Und es gibt ein paar schöne Beispiele, wie sich dann bestimmte Fermentationsprodukte, zum Beispiel natürlich der Alkohol vor allen Dingen, wie die von Tieren dann ganz gezielt genutzt wurden. Offenbar weise irgendwie gelernt haben, dass der entstandene Alkohol für sie eine gewisse angenehme pharmakologische Wirkung hat. Und auch der Mensch ist ein fermentierender Bio-Reaktor. Das beginnt bei uns im Mund, jeder weiß das. Wenn man Brot eine Zeit lang kaut, dass es dann süß wird, das ist eine Fermentation des Aufspalten der Stärke durch ein Enzym. Und ganz besonders
intensive Fermentationsprozesse laufen bei uns in unserem Dickdarm ab, wo die Darmbakterien, früher hat man gesagt, die Darmflora, dann alle möglichen Stoffwechselprodukte produzieren aus dem Teil der Nahrung, die wir im Dünndarm nicht verwerten können.
Jule Wäntig: Wie Peer schon am Anfang erwähnt hat, gibt es Fermentationen schon seit einer ganzen Weile, kann man denn genau nachweisen, seit wann der Mensch fermentierte Lebensmittel zu sich genommen hat?
Thomas Henle Also der Mensch isst fermentierte Lebensmittel vermutlich seit es ihnen gibt. Zunächst natürlich eher unbewusst und nicht unbedingt das Ergebnis eines technologischen Prozesses. Und wenn man das jetzt auf diesen technologischen Prozess etwas fokussiert, dann war da wahrscheinlich die größte Motivation, gezielt zu fermentieren, die Lust am Berauschen, also die Nutzung der pharmacologischen Wirkung
vom Alkohol. Und diese Kulturtechnik, also diese Produktion von Alkohol, die geht wahrscheinlich am längsten in der Menschheitsgeschichte zurück, da gab es 2018 eine Publikation eines internationalen Teams von Forschenden, die konnten zeigen, dass man in der Gegend des heutigen Israel bereits vor 13.000 Jahren Feste gefeiert hat, wobei diesen Festen dann ganz bewusst hergestellten Alkohol konsumiert hat. Das konnte man durch den Nachweis von bestimmten Rückständen, von vermälzten Getreide in so einer Höhle Nachweisen analytisch und es gilt als bisher ältester Nachweis einer Alkoholproduktion durch den Menschen. Ein zweiter Grund für die Nutzung von Fermentationsprozessen war dann die Halsbarmachung. Das geht zurück auf vielleicht
so 8.500 bis 10.000 Jahre vor Christus, so in der Nähe im Nahen Osten, in der Gegend des heutigen Irak. Da hat man sauer Milch produziert, eben zur Halsbarmachung von Milch, ähnliche Funde gibt es dann datiert auf etwa 4.000 bis 7.000 Jahre in Afrika. Ja, solche gesäuerten Produkte hatten einfach weniger schädliche Bakterien und konnten dann eben letztlich länger aufbewahrt werden. Und ganz nebenbei hat man auch noch den Effekt gehabt, dass durch diese Bakterienbehandlung gewissermaßen die Milch dann für Menschen verträglich wurde, die noch keine Laktose vertragen haben, denn zur damaligen Zeit, während in unseren unsere Evolutionsfolge waren, viele Menschen noch
Laktose intolerant. Ja, und die Fermentation von Sojabonen, um das vielleicht noch abzuschließen, gibt es noch nicht ganz so lange. Das macht man in Asien seit etwa 2000 vor Christus und das sind dann so traditionelle Produkte wie Miso oder Sojasauce hervorgegangen.
Peer Kittel: Jetzt gibt es die Fermentation, also schon eine ganze Weile. Seit wann beschäftigt sich dann die Wissenschaft damit?
Thomas Henle: Also die Wissenschaft beschäftigt sich, wenn man so sagen darf, vielleicht seit Louis Pasteur mit der Fermentation. Der Pasteur gilt als Begründer der Mikrobiologie, der hat diese Bezeichnung, Fermentation quasi in die Wissenschaft eingeführt, er hat sich Mitte des 19. Jahrhunderts in den 1850er Jahren vor allem mit Fäulniss- und Gärungsprozessen beschäftigt, er wollte die Frage nach dem
Entstehen von Leben von Mikroorganismen beantworten und der schaffte dann die Grundlage zum Verständnis von Gärungsprozessen. Das heißt, er konnte zeigen, dass das Prozesse sind, durch kleinste Lebewesen, durch Mikroorganismen verursacht werden und auf den geht dann auch die Pasteurisation zurück, die jeder kennt, nämlich eben auf das Abtöten dieser Mikroorganismen und damit an das Abstoppen dieser Fermentationsreaktionen. Da kann man noch einen weiteren wichtigen Forscher nennen,
einen Münchner Forscher namens Edward Buchner, der hat 1907 den Nobelpreis für Chemie bekommen und zwar für seine Arbeiten zur zellfreien Gärung und dieser Buchner gilt jetzt als Begründer der Fermentationschemie, also gewissermaßen der Enzymologie, der zeigen können, dass es das Zellinnere von Hefezellen ist, die diese Reaktionen machen. Ja, dann gibt es noch, man kann das jetzt fortsetzen, die ganze Reihe weiterer Nobelpreise, zum Beispiel im Jahr 1946, da haben drei Wissenschaftler Harden, Summon und Northrop heißen die, die haben den Nobelpreis dafür bekommen, dass sie gezeigt haben, dass diese Enzyme Eiweißmoleküle sind und es geht dann bis in die heutige Zeit, 2018 zum Beispiel, was noch gar nicht so lange her ist, da gab es den Nobelpreis ebenfalls in Chemie für die gezielte Evolution von Enzymen, für eine US-amerikanische Wissenschaftlerin namens Francis Arnold, also man sieht das, die wissenschaftliche relevanz der Enzymen-Ferminationschemie in der Wissenschaft ganz, ganz groß ist.
Peer Kittel: Jetzt hast du schon ein paar Details angedeutet, glaubt es, passt jetzt hier
trotzdem ganz gut, um da noch ein bisschen vertiefter einzusteigen. Welche Prozesse laufen denn überhaupt bei der Fermentation ab und ja, was steht dabei?
Thomas Henle: Also da kann man natürlich jetzt ganz, ganz viele einzelne Prozesse diskutieren, wir können vielleicht sogar eine ganze Vorlesungsreihe füllen. Ich würde
gerne mal fokussieren auf, auf die Reaktionen, die vor allen Dingen von wirtschaftlicher Bedeutung sind und das sind vor allen Dingen Gärungsprozesse und von denen vor allem die alkoholische Gärung, die Milchsäuregärung und die Essigsäuregärung und was den Einsatz von Enzymen anbelangt, was ja eben bei es dann Fermentation Reaktionen sind, das ist wahrscheinlich die Käseherstellung, also speziell die, die Dicklegung der Milch mit dem sogenannten Labferment ganz am Anfang der Käseherstellung. Wir sind ja ein Lebensmittel Chemie-Podcast, wenn ich so sagen darf, Chemie jetzt mal ein bisschen groß geschrieben und deshalb vielleicht ganz, ganz super kurz zu den chemischen Reaktionen, die da ablaufen. Bei der alkoholischen Gärung, da handeln die Hefen den Zucker, genauer gesagt die Glucose, also den Traubenzucker in Alkohol und Kohlendioxid um und bei der Milchsäuregärung sind es Bakterien, die diese Glucose zur Milchsäure umsetzen. Beide Reaktionen sind für die Hefen und für die Bakterien ganz wichtig für die Energiegewinnung und bei der Essigsäuregärung sind es dann ebenfalls Bakterien und die setzen jetzt Alkohol vor allen Dingen zur Essigsäure um.
Peer Kittel: Jetzt hast du die Mikroorganismen schon angesprochen, glaubt auch dazu müssen wir noch mal ein bisschen mehr ins Detail gehen, du hast schon Bakterienhefen
angesprochen, glaubt da kann man schon noch mal ein bisschen größeres Bild zeigen, oder?
Thomas Henle: Ja, am bekanntesten bei den Hefen ist sicher Saccharomyces cerevisiae, ja das ist die Backhefe, Bierhefe oder Weinhefe, je nachdem wofür sie verwendet wird und aus dem Namen wird auch schon die Hauptanwendung ersichtlich. Man muss aber jetzt erwähnen, dass es nicht die Bier- oder die Backhefe gibt oder dass eben alle diese Saccharomyceshefen gleich wären. Tatsächlich ist es ein Gattungsbegriff Saccharomyces und Saccharomyces cerevisiae ist dann eine Art und von der gibt es dann zahllose Stämme mit wieder ganz ganz viel unterschiedlichen Eigenschaften. Ähnlich ist es auch bei den Bakterien, die zur Fermentation verwendet werden, das sind vor allem Milchsäurebakterien, aber da ist die biologische Systematik auch ziemlich komplex, selbst unter den Kolleginnen und Kollegen aus der Mikrobiologie, immer wieder so ein bisschen in der Diskussion, vielleicht nur generell diese Milchsäurebakterien, die gehören zu einer Ordnung von Milchsäurebakterien oder von Mikroorganismen und
die teilen sich dann auf in verschiedene Gattungen, 40 verschiedene Gattungen gibt es damit ganz viel Spezies und auch wieder da einzelne Stämme davon und die leben dann zum Beispiel in unserem Dickdarm, aber die nutzen dann zum Teil eben auch für Sauerkraut Fermentationen. Und was man nicht vergessen dürfen ist, dass es dann auch noch Schimmelpilze gibt, die man für spezielle Fermentationen nutzt, da kennt jeder den weißen Schimmel auf dem Cammenbertkäse, da ist Penicillium camemberti oder den Blauschimmel, Penicillium Rockforti, den Nutztberuf für die Herstellung von
Gorgonzola oder sowas und diese Schimmelpilze bilden dann ebenfalls ganz bestimmt Aromastoffe beispielsweise aus dem Abbau von Fettsäuren. Was man da vielleicht das bei der Gelegenheit noch erwähnen kann ist, dass man bei den meisten der genannten Bakterien, auch bei den Hefen und den Schimmelpilzen heute in der Regel kommerziell erhältliche Kulturen nutzt und damit auch ganz definiert zusammengesetzte Kulturen, von denen man die Eigenschaften ganz genau kennt, die also möglichst effizient wachsen und gedeihen und von denen man dann vor allen Dingen weiß, dass sie keine gesundheitsschädlichen Lebenprodukte bilden.
Jule Wäntig: Das ist super spannend, ich habe nie darüber nachgedacht, wie lebendig so eine Lebensmittelproduktion ist und wie viele Mikroorganismen beteiligt sind, aber was ist denn jetzt der biologische Grund dafür, dass diese Reaktionen ablaufen? Also was hat die Hefe davon, wenn sie Alkohol bildet?
Thomas Henle: Es ist eine gute Frage, Jule, denn diese Prozesse, die wir als Menschen zur Femmitation nutzen, die machen die betreffenden Mikroorganismen natürlich für sich, um sich einen gewissen Lebensvorteil zu verschaffen. Es kann man ganz schön an den
Hefen und an den Milchsäurebakterien beschreiben. Die Hefen nutzen die alkoholische Gärung zur Energiegewinnung. Die haben sich durch diese Eigenschaften daran angepasst, bei niedrigen Sauerstoffkonzentrationen und bei hohen Zuckerkonzentrationen, wie man sie dann zum Beispiel früchten oder so findet, überleben zu können. Normalerweise bauen Organismen den Zucker durch die sogenannte Zellatmung ab. Da gewinnt dann am Ende bei dieser Verbrennung, bildet sich dann am
Ende Kohlendioxid und Wasser. Und wenn jetzt der Sauerstoff nicht ausreicht, dann können die Hefen in dieser alkoholischen Gärung quasi eine alternative Möglichkeit zur Energiegewinnung nutzen. Die ist zwar nicht so effektiv, sichert aber zumindest das Überleben. Bei den Hefen kommt dann noch ein spezieller Effekt dazu und der ist vielleicht die Grundlage dafür, dass wir sie auch einsetzen können zum Bierbrauen. Die können Alkohol auch produzieren in Anwesenheit von Sauerstoff bei sehr hohen Zuckerkonzentrationen und dadurch schützen sich die Hefen gewissermaßen
vor der hohen Zuckerkonzentration. Sie werden den Zucker gewissermaßen los, überlasten ihre biochemischen Wege damit nicht zum Zuckerabbau und können nun ebenfalls bei dieser hohen Zuckerkonzentration leben. Ja und ganz nebenbei bilden sie Ethanol, also Alkohol. Das wirkt als Zellgift auf andere Bakterien. Also sie schützen sich sozusagen dann zusätzlich noch durch diesen Alkohol. Und so was ähnliches machen die Milchsäurebakterien. Auch bei denen dient die Gehrung dazu den Zuckerabbau bei
Sauerstoffmangel weiter zu ermöglichen, also weiter Energie zu gewinnen. Die bilden aber jetzt keinen Alkohol, sondern Milchsäure und halten damit ihren Kohlenhydratmetabolismus aufrecht. Und diese Säurebildung führt dann bei dem Mikroorganismen noch zu dem zweiten Vorteil. Sie senken den pH Wert ab. Sie machen es um sich herum sauer. Und bei diesen sauren Bedingungen können dann viele andere Bakterien eben nicht wachsen und damit verschaffen sich diese Milchsäurebakterien einen Stoffwechsel-Vorteil. Das ist übrigens, wenn ich das hier so sagen darf, der gleiche, die gleiche Reaktion, die bei uns in unseren Muskeln abläuft bei der Milchsäuregierung. Hier erkennt es, wenn er sich überanstrengt, wenn die Muskeln mit zu wenig Sauerstoff versorgt werden, sagt man häufig, der Muskel übersäuert. Und genau das ist auch Grundlage beziehungsweise resultiert dann aus einer Milchsäugärung, wo dann die Muskeln versuchen, den Kohlenhydratstoffwechsel aufrecht zu halten,
indem sie dann bei nicht ausreichendem Sauerstoff Milchsäure produzieren.
Peer Kittel: Bevor wir jetzt dann gleich zu den konkreten fermentierten Lebensmitteln kommen, die sicherlich auch für die Hörerinnen und Hörer sehr spannend sind, sagt doch vielleicht nochmal ganz kurz, was zu anderen Bereichen, wo Fermentation ja auch eine Rolle spielt.
Thomas Henle: Ja, da gibt es eine ganze Reihe, weitere Bereiche, so neben Bier, Wein, Sauerkraut und so, wo man Mikroorganismen oder generell Fermentationsreaktionen
nutzt. Bleiben wir mal im Lebensmittelbereich, dann nutzt man Mikroorganismen beispielsweise zur Herstellung von Zitronensäure, ist ein konkretes Beispiel. Das wird an den großen Umfang in der Getränkeindustrie gebraucht beispielsweise. Mit Hilfe von Mikroorganismen kann man Vitamine herstellen, z.B. Vitamin C ist Ergebnis eines Fermentationsprozesses, auch Aminosäuren, die man dann z.B. in Futtermitteln einsetzt werden, fermentativ erzeugt. Aus Mikroorganismen, aber auch aus Pflanzen und sogar aus Tieren, kann man dann bestimmte Enzyme gewinnen, die man dann wiederum in der Lebensmitteltechnologie einsetzt. Da gibt es insgesamt zu rund 200 Enzyme, die man in der EU zur Verwendung im Lebensmittelbereich einsetzen darf. Da wäre das Beispiel das Labferment oder Chymosin, wie es heißt, chemisch, was man in der Käseherstellung nutzt. Ein anderes Beispiel wäre die Laktase, die man aus Schimmelpilzen gewinnt. Diese Laktase sind Enzyme, was den Milchzug erspaltet, die man also braucht zur Herstellung Laktosefreier Milch. Da können wir jetzt eine ganze Reihe weiterer Beispiele nennen, die jetzt zeigen, wie wichtig solche Enzyme in der Lebensindustrie sind. Dann kann man natürlich im Bogen noch weiter spannen, aber das vielleicht nur ganz kurz mal nutzt,
solche Mikroorganismen, solche fermentierten, solche Fermentationsreaktionen oder isolierte Enzyme, auch in der Pharmaindustrie beispielsweise zur Herstellung von Antibiotika, zur Herstellung von Impfstoffen, zur Herstellung bioaktiver Moleküle. Man kann, glaube ich, unschwer erkennen, welche riesige Bedeutung damit diese Biotechnologie, was im engeren Sinne ist, für all unsere Bereiche unseres Lebens habt.
Peer Kittel: Dann nun aber zu den konkreten Beispielen fermentierter Lebensmitteln
und vielleicht schauen wir uns hier auch mal ein paar an, die eher unbekannt sind, denn Bierund Wein kennen noch die meisten Leute. Ein weiteres alkoholisches Getränk, das man ja auch selber machen kann, ist Kombucha. Was ist das denn?
Thomas Henle: Also Kombucha wird aus gezuckertem Tee hergestellt.
Da kann man schwarzen Tee nehmen. Manche nehmen auch Früchte oder Kräutertee, aber klassischerweise nehmen eben schwarzen Tee. Zur Fermentation nutzt man den sogenannten Kombucha-Pilz oder auch Teepilz. Pilz, aber jetzt in Anführungszeichen, denn es ist kein echter Pilz im engeren Sinne, sondern so eine galertartige Masse möchte man so sagen, die aus einem ziemlich komplexen Gemisch aus Hefen und Bakterien besteht, die so quasi wie so in einer Stadt zusammenleben und voneinander profitieren.
So was nennt man Symbiose und im Englischen gibt es einen Ausdruck für diese Kombucha-Kultur, die heißt SCOBY, also S-C-O-B-Y, was die Abkürzung ist für Symbiotic Culture of Bacteria and Yeast, also symbiotische Bakterien-Hefen-Kultur. Und in diesem SCOBY laufen jetzt im Prinzip vier verschiedene Gärungsprozesse ab, nämlich die Bildung von Alkohol, von Milchsäure und Essigsäure und von Gluconsäure, das ist ein Oxidationsprodukt des Zuckers. Und aus diesem gezuckerten Tee wird dann durch diese SCOBY-Kultur nach ein paar Tagen so ein saures, kolensäurehaltiges Getränk mit
dem Alkoholgehalt von so ein bis zwei Prozent. Das kann man auch im Supermarkt kaufen. Aus lebensmittelrechtlicher Sicht gibt es allerdings jetzt für Kombucha keine spezifischen Vorschriften in Deutschland und damit auch keine eindeutige Definition. Je nach Zubereitung und Dauer der Gärung können dann solche kommerzielleheitlichen Kombucha-Getränke ziemlich viel Zucker enthalten, bis zu zehn Prozent, also ähnlich wie Süßgetränke. Es ist also letztlich ein Erfrischungsgetränk mit so ein bisschen Alkohol, aber halt eventuell viel Zucker, worauf man dann vielleicht in der Zutatenliste achten kann. Im Supermarkt erhältliche Kombucha sind dann auch in der Regel Wärme behandelt,
die haben also keine lebenden Mikroorganismen mehr drin. Ganz im Gegenteil natürlich zu dem selber hergestellten, da kann man dann diesen Tee Pilz am Ende der Femmitation rausholen und eventuell den neuen Kombucha ansetzen oder den Tee Pilzerzeit lang im Kühlschrank aufbewahren. So was ähnliches gibt es auch noch beim sogenannten Wasser-Kefit, der auch noch nicht so ganz bekannt ist. Vergoren wird hier eine Zuckerlösung mit Früchten, dann nimmt man dann gerne Feigen oder irgendwie sowas. Diese Früchte dienen für die Mikroorganismen als Stickstofflieferant, als Aminosauräquelle. Und man nutzt auch hier jetzt, ähnlich wie beim Kombucha, so ein Gemisch an Mikroorganismen, die jetzt aber so kein so Pilzartiges Geflecht bilden, sondern eher so knollenartig zusammen wachsen. Da sprechen die Profis von Kefir-Kristallen, was aber ist eigentlich
keine Kristalle, so im Sinne vom harte Materialien sind oder so, sondern so weiche, gelartige Knöllchen, in denen dann ebenfalls die entsprechenden Mikroorganismen jetzt durch Zucker gewissermaßen zusammengehalten werden. Und da leben dann ebenfalls Milchsäurebakterien und Hefen zusammen, die dann das Ausgangsmaterial vergehen, das ist ganz hübsch zu beobachten, wie diese Kristalle dann während der Gärung in dieser Zuckerlösung wachsen und am Ende dann ebenfalls so ein säuerliches Erfrischungsgetränk mit ein bisschen Alkohol erzeugen und die Käfekristalle, die kann man dann vorsichtig rausnehmen und wieder verwenden für einen neuen Ansatz.
Jule Wäntig: Bei Wasserkefir muss ich jetzt genau nachfragen, weil Kefir würde ich im Supermarkt zwischen Joghurt und Milch finden, weil es ist doch aus Milch gemacht und nicht aus Wasser. Gibt es da verschiedene Arten?
Thomas Henle: Ja, das ist richtig. Der klassische Kefir, den man gelandläufig so kennt, also der aus Milch erzeugte Käfir, den kann man tatsächlich im Supermarkt kaufen. Der stammt ursprünglich aus Russland, aus der Kaukasus-Region und ist jetzt ebenso, wie du richtig sagst, wie der Joghurt, ein Saumilchprodukt. Da nutzt man dann zur Fermentation solche Kefirknollen, manche sagen hier auch wieder Kefirpilz, was jetzt wieder ebenfalls eine symbiotische Kultur von Bakterien und Hefen ist. Und die haben nun die tolle Eigenschaft, dass sie den Milchzucker spalten können und dann die Monosacharide
vergären können. Und da entsteht dann wieder Milchsäure und so ein bisschen Alkohol zwischen 0,2 und 2%. Und durch die Ansäuerung kann dann die Ausgangsmilch so ein bisschen zähflüssig werden, ähnlich so wie beim Joghurt. Der Unterschied zwischen Käfir und Joghurt ist aber jetzt letztlich, dass beim Joghurt nur Milchsäurebakterien verwendet werden und keine Hefen. Und diese Milchsäurebakterien beim Joghurt in der Regel aus Reinzuchtkulturen stammen, also ganz definierte Startenkulturen sind. Beim Kefir ist das eine etwas eher vielleicht wilde Mischung, insbesondere wenn man den zu Hause dann mehrfach verwendet. Im Joghurt entsteht auch nur Milchsäure und kein Alkohol. Beim Kefir kann noch ein bisschen Kohlendioxid entstehen und es gibt dann dem Produkt ein gewisses Prickeln vielleicht. Joghurt ist insgesamt sehr cremiger, Käfir bleibt weniger gelartig eher flüssig.
Jule Wäntig: Machen wir das Supermarktkühlregal voll, was ist mit Quark? Wird er auch durch Fermentation hergestellt?
Thomas Henle: Ja, richtig. Quark ist auch ein fermentiertes Milchprodukt und da wird die Milch zunächst angeseuert, entweder mit Milchsäurebakterien oder auch durch die Zugabe von Zitronensäure. Und dann gibt man einen Enzym dazu, der sogenannte Lab-Enzym und dieses Enzym spaltet Milchproteine und führt dann dazu, dass die ausfallen. Und das entspringen die Kaseine und die kann man dann abtrennen von der Molke, zum Beispiel durch Zentrifugation. Und so kriegt man dann so eine feste Masse an Proteinen
und es ist dann der Quark. Also wenn man das konkret unterscheiden möchte zum Joghurt, dann enthält Quark im Gegensatz zu Joghurt keine Molke mehr.
Peer Kittel: Jetzt gibt es nicht nur im Supermarkt, sondern ganz generell ja auch fermentiertes Gemüse. Da kennt ihr natürlich das Sauerkraut. Seit einiger Zeit wird aber Kimchi auch sehr populär. Was steckt denn da dahinter?
Thomas Henle: Also Kimchi hat seinen Ursprung in Korea, da wird es seit Jahrhunderten zubereitet und ist da auch aus kultureller Sicht und großer Bedeutung. Und es ist letztlich, wie du richtig sagst, eigentlich auch das Resultat ähnlich wie beim Sauerkraut einer Milchsäuregärung. Allerdings wird jetzt Kimchi im Gegensatz zum Sauerkraut noch intensiv und extrem abhängungsreich gewürzt, sodass es dann unzählige Variationen
vom Kimchi gibt. Aber Hauptstandard ist auch hier ein Kohl. In der Regel ist man in China Kohl. Da kann man auch andere Gemüsesorten verwenden, Rettig, Gurken oder irgendwie sowas. Und die Herstellung ist dann ähnlich wie beim Sauerkraut. Da legt man das Gemüse zunächst in Salzlake ein, um das Wasser zu entziehen und um patogene Mikroorganismen zu hemmen. Nachdem das dann eine Zeit lang entwässert wurde gewissermaßen, gibt man dann die Mischung von allmöglichen Gewürzen dazu, Knoblauch, Ingwer, Chili, auch Fischsoße kann man dazu geben. Und diese Würzmischung, die fördert dann die Fermentation, die bestimmt natürlich dann maßgeblich den endgültigen Geschmack. Und dieses fermentierte Kimchi, das lässt man dann bei kühlen Temperaturen lagern. Da entsteht dann Milchsäure. Und am Ende wird das Produkt dadurch auch konserviert, also haltbar gemacht, kriegt seine charakteristische Säure und durch das Gewürz dann oder durch die Gewürze dann seinen jeweils einzigartigen Geschmack.
Jule Wäntig: Ich verbinde Fermentation auch mit der asiatischen Küche. Gerade hatten wir ja schon Kimchi, aber wird nicht auch Sojasauce durch Fermentation hergestellt?
Thomas Henle: Sojasaucen sind ebenfalls Ergebnis einer Fermentation, jetzt eine zweistufigen Fermentation. Das ist ganz interessant. Und zwar wird dazu zunächst mit einem Schimmelpilz fermentiert und dann durch Bakterien. Bei diesen Sojasaußen, dann nimmt man, wie es der Name sagt, primär, Sojabohnen. Man kann auch dann zusätzlich noch Weizen mit dazu verwenden. Bei billigeren Sorten kann man auch noch Reis mit dazu tun als Kohlenhydratquelle. Und dieses Gemisch fermentiert man zunächst mal mit
einem Schimmelpilz. Das ist Aspergillus oryzae. Und dieser Schimmelpilz überwächst dann diese Mischung und das dauert ein paar Tage. Und danach hat man dann diese Ausgangsmischung, die man dann in Fässer füllt und Milchsäurebakterien dazu gibt. Und dann lässt man dieses Gemisch bis zu Monaten, zum Teil vielleicht sogar Jahre, gären. Man mit dann auch speziellen Fässern, so dass man dann am Ende die Erwünschte qualität erreicht. Und entsprechend teuer sind dann auch solche traditionell hergestellten Produkte. Der Grundgeschmack, der wird vor allen Dingen durch den Eiweißabbauter
bestimmt. Soja und Getreide enthalten sehr viel Glutamin und damit dann auch Glutaminsäure. Und entsprechend enthält dann die fertige Soße ganz viel Glutamat, was für den typischen Umami Geschmack, wie man es nennt, also diesen fleißbrühartigen Geschmack verantwortlich ist. Neben diesen Femminativ hergestellten traditionell sehr lange gereiften Sojasoßen, die sind ziemlich teuer. Da kann so ein Fläschchen mit 100 Millilitern schon mal mehrere 100 Euro kosten. Gibt es im Supermarkt auch preiswerte Sojasoßen, die wahrscheinlich die meisten von uns kennen. Da sind diese sind dann in der Regel nicht durch solche aufwähligen Prozesse hergestellt, sondern zum Teil mittels Säuren oder Eiweißabbauenden Enzymen hergestellt. Es geht deutlich schneller,
bildet ebenfalls das geschmacksverstärkende Glutamat, führt aber dann zu sensorisch weniger komplexen Produkten. Und das ist dann übrigens letztlich ähnliches Verfahren für die Herstellung von Maggi nutzt. Auch da wird Eiweiß, vor allem Weizenprotein, in den Amminisäuren zerlegt. Früher hat man das mit Säuren gemacht, da hat man da Enzyme. Und das Ergebnis ist dann eben, weil es ein gemischt gewissermaßenes Glutamat aus Salz und so ganz charakteristischem Maggiaromen.
Peer Kittel: Ebenfalls populär in der asiatischen Küche ist ja die Würzspaste Miso, die ja wohl auch aus Soja gewonnen wird. Was ist das denn?
Thomas Henle: Ja Miso ist tatsächlich auch ein sehr interessantes Produkt,
was eine Paste ist aus Fermentierten Sojabohnen. Und es ist ein Würzmittel, was man dann für die Herstellung von Suppen oder so verwenden kann. Die Herstellung ist ganz, ganz spannend, denn die beginnt, indem man zunächst mal Reis oder Gerste mit einem bestimmten Schimmelpilz fermentiert. Das ist der sogenannte Aspergillus oryzae, nimmt man da. Und das Ergebnis nach dieser Femmination nennt man dann Kochi, also die Ausgangskultur gewissermaßen. Und diese Kochi-Kultur, die wird dann mit gekochten Sojabohnen und mit Salz vermischt und dann fermentiert. Wobei die Enzyme
Kochi, dann die Protein und die Kohlenhydrate in der Paste abbauen. Und letztlich für den typischen Wiederum-Omami-Geschmack sorgen. Diese Miso-Paste lässt man dann in Fässern oder Behältern für Monate oder vielleicht Jahre lagern. Je länger sie reift, umso intensiver wird dann der Geschmack und ist hinternehm als Basis für Marinaden, für Suppen, für Soßen und so weiter. Auch das ist so ein bisschen ähnlich wie die bei uns bekannten Suppenwürfel, auch wenn es dann natürlich jetzt deutlich Unterschiede gibt in der Herstellung. Das geht bei den Suppenwürfel viel, viel schneller mit Säure oder mit Enzymen und die sensorischen Unterschiede sind natürlich auch ziemlich evident.
Jule Wäntig: Als ich für diese Folge mich schon mal belesen habe, hat der Algorithmus sehr schnell gemerkt, dass ich Fermentation anscheinend spannend finde. Und ich habe auf den sozialen Netzwerken super viele Videos bekommen, wo nicht nur Sauerkraut, sondern einfach alles Mögliche an Gemüse fermentiert wird. Und ich habe mir auch wirklich jedes Tutorial angeschaut. Und das hat alles sehr einfach gewirkt. Ist es denn so einfach? Also kann ich wirklich die Plastikdosen, die ich sonst für mein Butterbrot nutze, zum Fermentieren verwenden?
Thomas Henle: Also die Anleitungen, die man auf YouTube jetzt
speziell für die Herstellung von Sauerkraut oder anderen fermentierten Gemüsen findet,
sind wirklich sehr, sehr gut zum Teil. Und wer sich dafür interessiert, der kann das wirklich
einmal probieren. Denn ich sage es mir so, viel schief gehen kann eigentlich nicht. Im schlimmsten
Fall schmeckt es halt einfach nicht. Und dann stüttelt man es weg. Immer dann, wenn es irgendwie
komisch schmeckt, bitter schmeckt oder faulig schmeckt, dann ist was schief gelaufen und dann
weiß man, dass man das vielleicht noch mehr ausprobieren muss. Beim Arbeiten muss man letztlich
nur ein paar grundlegende Aspekte beachten. Man soll natürlich möglichst sauber arbeiten,
also Händewaschen, die Küchenplatten sauber halten, die Gefäße, in denen man fermentiert,
möglichst auskochen und dadurch sterilisieren, bevor man das Kraut einfüllt. Man soll nur
Gefäße verwenden, die gut schließen, möglichst keine aus Metall, weil aus denen dann durch die
Säure Metall rausgelöst werden kann. Also es reicht eine gute, ich sage es mir, gute Küchenhygiene
völlig aus. Wenn man dann Sauerkraut herstellt oder fermentiertes Gemüse, dann muss man so ein
bisschen beachten, dass man, aber das wird in den Anleitungen sehr gut erklärt, dass man natürlich
den Weißkohl sauber hält beim Schneiden, dass man ausreichend Salz, das ist ganz wichtig, zum
Einlegen verwendet, dass man dann das Kraut in diesem Salzwasser möglichst ohne Luft aufbewahrt.
Es ist ganz wichtig, dass man eben diese anaeroben Bedingungen für die Milchsäurebakterien schafft,
das Wachsen von Fremdkeimen vermeidet, dass man die Temperatur nicht so hoch macht. Wenn sich dann auf
der Oberfläche manchmal solche Hefen bilden, dann ist das nicht schlimm, die kann man abschöpfen,
sie sind sogenannte Karmhefen. Problematisch ist es, wenn es sich irgendwie mit so Schimmel wachsen
sollte, schwarz oder weißer, dann ist was schief gelaufen und dann sollte man das vielleicht
auch wegschmeißen. Aber das Wichtigste vielleicht, neben der Sauberkeit, ist bei allen
Femmiätationsprozessen, egal ob man jetzt Sauerkraut macht oder ob man Bier herstellt,
man soll einfach Geduld haben. Das heißt, man soll nicht jeden Tag den Deckel aufmachen,
nachgucken, ob sich da was tut. Dann kommt Sauerstoff mit rein, vielleicht auch Fremdkeime,
wenn man verdirbt, ansonsten vielleicht durch diese Neugier das Produkt. Also, was soll
den Bakterien oder auch den Hefen genug Zeit zum Fermentieren geben?
Peer Kittel: Jetzt haben wir, glaube ich, das Thema Fermentation, auch die Mikroorganismen, die dahinterstehen, die Prozesse, wie sie ablaufen, uns in detail angeschaut. Vielleicht nochmal ein bisschen Perspektivwechsel. Ein Thema, was man beim Fermentieren auch immer wieder lesen kann, ist das Thema Gesundheit. Diese Lebensmittel sollen sich ja positiv auf Gesundheit auswirken. Jedenfalls findet man diese Aussagen, sollen sich zum Beispiel gut auf das Immunsystem auswirken. Wie siehst du das? Ist das wissenschaftlich belegt?
Thomas Henle: Also, Peer, wie immer schon, an dieser Stelle betont, es ist ja, wenn man so will, unser wissenschaftliches Mantra, ein Lebensmittel ist nicht per se gesund oder ungesund. Und es gilt jetzt hier auch für fermentierte Lebensmittel. Und speziell bei fermentierten Lebensmitteln ist es in der Tat so, dass so vermeintlich positive Gesundheitseffekte in der Öffentlichkeit häufig sehr sehr übertrieben werden. Es gibt zwar ein paar interessante wissenschaftliche Hinweise darauf, dass es physiologisch positive Effekte gibt. Das betrifft vor allen Dingen fermentierte Milchprodukte. Da gibt es zum Beispiel Berichte, die zeigen, dass es beim kontinuierlichen Konsum von Sauermilchprodukten ein eventuell geringes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen gibt. Insgesamt fehlt aber die wirklich ausreichende wissenschaftliche Evidenz, um viele dieser positiven gesundheitlichen Wirkungen wirklich wissenschaftlich zu begründen. Es wird da wirklich sehr sehr häufig sehr übertrieben dargestellt. Und wir als Lebensmittel Chemikerinnen und Lebensmittel Chemiker schauen immer zur EFSA, zur europäischen Behörde für Lebensmittel Sicherheit, die erstellt ja eine Positivliste mit sogenannten Health Claims, also wissenschaftlich Belegten und damit zugelassenen Gesundheitsbezogen aussagen. Und da gibt es für fermentierte Lebensmittel eigentlich
nur zwei, die bisher zugelassen sind, also zwei echte Health Claims, wenn man so sagen darf, und zwar einen für lebende Joghurtkulturen und einen für den sogenannten Rotschimmelreis. Dieser Rotschimmelreis vielleicht gleich zu Beginn, der kann dabei helfen und da gibt es wissenschaftliche Aussagen, wissenschaftliche Befunde dafür, einen Cholesterinspiegel im Blut zu regulieren. Und die Joghurtkulturen können die Verdauung von Laktose, bei Menschen mit Laktose Intoleranz verbessern. Alles das ist wissenschaftlich belegt. Allerdings braucht es bei den Joghurtkulturen vor allen Dingen dann sehr viele Bakterien, eine große Menge an lebenden Bakterien, konkret
mindestens zehn hoch acht, also 100 Millionen koloniebildende Einheiten, wenn man sagt,
Programm, also das ist so der entscheidende Punkt. Wenn ich vielleicht kurz auf diesen Rotschimmelreis eingehen kann, das ist ein fermentiertes Produkt, das man durch Fermentation von normalem Reis macht, mit einem speziellen Schimmelpilz. Da würde ich jetzt aber nicht empfehlen, dass man das zu Hause produziert, denn der wird traditionell in China gemacht, dort auch unter anderem Naturheilmittel verwendet. Und diese rote Farbe bekommt dieser Reis durch bestimmte bioaktive Verbindungen, die heißen Monakoline. Die sind auch jetzt witzigeweise chemisch identisch mit verschreibungspflichtigen Cholesterinsenkern. Und damit ist diese Cholesterinsenkende Wirkung wissenschaftlich gut belegt, ein zugelassener Healthclaim, aber natürlich ein nicht unhebliches gesundheitliches Risiko unter Umständen bei höheren Dosierungen, bei Menschen mit Vorerkrankungen zum Beispiel. Wenn man so was tatsächlich dann zu Hause probiert, dann ist die Gefahr von Kontaminationen durch andere Schimmelpilzprodukte sehr, sehr groß, sodass man diesen Rotschimmelreis eigentlich tatsächlich eher vor diesem Eher warnen sollte, vielleicht sogar.
Jule Wäntig: Jetzt gibt es sogenannte probiotische Lebensmittel. Da sind ja so lebende Milchsäurebakterien drin. Und da heißt es ja, dass die Darmbakterien und deren zusammensetzung einfach positiv beeinflussen. Stimmt das?
Thomas Henle: Ja, grundsätzlich kann man festhalten, dass die Zusammensetzung unserer Darm-Mikrobiota, also der Bakterien im Dickdarm, durch unsere Nahrung beeinflusst wird. Das ist Fakt. Das wird auch intensiv erforscht. Und das ist eine ganz
wichtige Frage, wie sich jetzt zum Beispiel die Aufnahme von lebenden Bakterien, die mir zum Beispiel befemmentierte Lebenswoll aufnimmt, ob sich die dann tatsächlich im Darm ansiedeln können und was sie dort eventuell bewirken. Jetzt ist aber auch hier die, sagen wir, positive Wirkung dieser probiotischen Bakterien in der Regel sehr, sehr übertrieben in der öffentlichen Wahrnehmung. Denn die Darmflora, die entwickelt sich unmittelbar nach der Geburt in den ersten Lebensmonaten und ist für jeden Menschen super definiert und stabil zusammengesetzt. Und es bleibt die auch. Man kann sogar beobachten, dass wenn man eine Therapie mit Antibiotika macht, zum Beispiel irgendwelchen Darminfektionen oder so, wenn also die allermeisten Bakterien in unserem Darm abgetötet werden, dass sich diese Darm-Mikrobiota dann nach dem Absetzen der Antibiotika ziemlich
genau wieder so ausbildet, wie sie vorher zusammengesetzt war. Das spielt natürlich neben der Ernährung noch viele andere Faktoren eine Rolle, also Wechselwirkungen zwischen dem Wert, also dem Menschen und seinen Gästen, den Bakterien. Und diese Wechselwirkung, die versteht man ja noch nicht so richtig, ist eines der großen Forschungsgebiete in diesem Wissenschaftsbereich. Und zudem kommt dazu, dass die meisten Menschen ziemlich konstante Lebensgewohnheiten haben und damit
natürlich auch die Ernährung in der Regel immer ziemlich gleich zusammengesetzt ist, sodass dann so ein kurzzeitiger Einfluss von Lebensmitteln auf die Zusammensetzung der Darmbakterien, wenn man es jetzt, sagen wir mal, mit 3-4-5-mal-Sauerkraut ist oder irgendwie sowas, kaum eine Rolle spielen wird, vor allen Dingen auch aufgrund der insgesamt eher geringen Mengen erlebenden Mikroorganismen, die man dann über solche fermentierten Lebenswellen aufnimmt. Selbst die Therapie mit probiotischen
Bakterienkulturen, so wie kann man ja in der Apotheke kaufen und ihm zum Beispiel dann nach Antibiotiktherapien nehmen, um so gezielt gewissermaßen die Darmflora aufzuforsten, wenn man das so sagen darf. Selbst die haben nur eine relativ geringe Wirkung auf die Zusammensetzung der Mikrobiote, die könnte man vielleicht ein bisschen helfen, das Anwachsen und das Wiederbesiedeln zu verbessern, aber eine tatsächliche Beeinflussung hinsichtlich zu besonders positiven Bakterien kann man selbst hierfür nicht messen.
Peer Kittel: Jetzt haben wir heute wieder eine sehr ausgedehnte Folge ist, aber
natürlich auch ein großes Themengebiet und Thomas, du hast es schon angedeutet, da müssen wir uns vielleicht das ein oder andere nochmal auch in Detail anschauen, aber lasst uns vielleicht zum Abschluss nochmal den Blick in die Zukunft richten. Wo geht denn die Reise hin? Ich habe neulich ganz tollen Begriff gelesen, nämlich den der Precision Fermentation. Was ist das denn? Sauerkraut der Zukunft oder wie stelle ich mir das vor?
Thomas Henle: Das ist tatsächlich so ein supercooler Begriff, der jetzt landauf, landab so ein bisschen kommuniziert wird und diese Precision Fermentation bedeutet jetzt nix anderes als dass man Mikroorganismen, also Hefen, Bakterien, Pilze genetisch so verändert, dass sich spezielle Proteine, Eiweise oder andere bioaktive Moleküle produzieren. Und das ist jetzt ehrlich gesagt überhaupt nichts Neues, denn das macht man seit einigen Jahrzehnten bereits, etwa zum Beispiel zur Herstellung des Lab-Enzymes für die Käseherstellung. Das ist re-kombinantes Hymosin und das macht man seit den 1980er Jahren, hat man den Prozess entwickelt und seit den 1990er Jahren kann man aus gentechnisch modifizierten Schimmelpilzen dieses Hymosin isolieren und für die Käseherstellung verwenden. Mir persönlich kommt es immer so ein bisschen so vor, als
müsste man immer wieder mal so neue, sage mal sexy klingende Begriffe kreieren, wie zum Beispiel Nanotechnology, weiße Biotechnologie oder jetzt halt Precision Fermentation, um einerseits eine gewisse Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen und zum anderen natürlich auch Fördermittelgeber zu beeindrucken, um es mir vorsichtig zu formulieren. Vielleicht nutzt man den Begriff Precision Fermentation auch deshalb lieber, wenn man dann den Begriff Gentechnologie vermeidet, vor allem wenn es um Lebensmittel geht, denn jetzt ganz konkret im Lebensmittelbereich ziemlich gehypt, wenn momentan, diese Precision Fermentation Ideen hinsichtlich der Herstellung gentechnisch
modifizierte, hinsichtlich der Nutzung gentechnisch modifizierte Mikroorganismen zur Herstellung von tierischen Proteinen, vor allem von Milchproteinen und dann, dass man dann aus diesen Milchproteinen Tierfreie, also vegane Milch oder veganen Käse produziert. Diese Precision Fermentation soll es also ermöglichen, tierische Produkte herzustellen, ohne Tiere zu halten oder zu schlachten und dann wird versprochen, dass diese Produkte dann einen verbesserten ökologischen Fußabdruck haben,
weniger Landwasserressourcen benötigen, als die traditionelle Viehzucht. Ob das jetzt
tatsächlich so ist und ob sich die entsprechenden Produkte wirklich dann auf den Markt durchsetzen, das wird sich zeigen, denn sagen wir mal so die aktuell größte Herausforderung dieser Precision Fermenter ist jetzt gar nicht so sehr die Herstellung der Proteine durch die gentechnisch modifizierten Bakterien, sondern vielmehr dann die Anreichung der Eiweise aus den Fermentation ansetzen. Das nennen die Profis Downstreaming, also die Massenproduktion gewissermaßen der Proteine aus den Fermentationstanks. Da braucht man riesengroße Fermentationstanks, das schaut
es dann aus wie eine Bierbrauerei, nur dass dann eben nicht der gesamte Ansatz wie beim Bier verwendet wird, sondern dass man nur einen ganz kleinen Anteil aus dieser Fermentationslösung eben die Proteine abtrennen muss, was dann sehr viel Wasser, sehr viel Energie benötigt. Auch sind Zulassungsfragen noch offen. Also die Frage, ob es dann tatsächlich so einen tierfreien Käse gibt, der dann vielleicht sogar ein neuartiges Lebensmittel ist, eine Sicherheitsbewertung durchlaufen muss. All diese Fragen sind da jetzt noch ungekehrt, aber man wird sehen, wie sich jetzt das so in den nächsten Jahren entwickelt und vor allen Dingen, was diese Produkte dann auf dem Markt kosten werden.
Jule Wäntig: Stellt man mit diesem Precision Fermentation auch dieses Laborfleisch her? Also das soll ja angeblich so strukturiert sein wie echtes Fleisch.
Thomas Kittel: Ja auch das ist ein aktuell ziemlich in der
Öffentlichkeit stehender Prozess und das ist jetzt streng genommen keine Fermentation, sondern das Vermehren von tierischen Zellen in Zellkultur. Man bezeichnet es dann auch als kultiviertes Fleisch oder In vitro Fleisch, also quasi ein in der Petri-Schale hergestelltes Fleisch. Das macht man so, indem man einige wenige Muskelzellen aus einer Kuh zum Beispiel nimmt durch eine Biopsie, das ist für die Kuh relativ problemlos und diese paar Muskelzellen, die wird man dann versuchen, in speziellen Nährlösungen zur Vermehrung zu bringen. Und dann kann man durch geeignete Anzucht und Vermehrungstechniken dazu sorgen, dass diese Muskelzellen wachsen zu Muskelfasern mit einer ähnlichen Struktur wie bei Rindern oder Schweinen im Muskel zum Beispiel. So dass es
dann tatsächlich echte Fleischfasern entstehen und diese Fleischfasern, die kann man dann weiter verarbeiten für Produkte wie Burger oder Ähnliches. Ein zentraler Bestandteil dieser eigentlich ganz faszinierend klingt eine Idee jetzt zunächst und das ist auch das zentrale Problem, ist, dass man hier ganz speziell zusammengesetzt in Nährmedien braucht, indem man die Zellen zur Vermehrung bringt. Und dieses Nährmedium, das muss quasi alles das enthalten, was die Zellen brauchen, zur Differenzierung, alle Nährstoffe und so weiter, vor allen Dingen bestimmte Wachstumsfaktoren und traditionell nutzt man da eine Zellkultur für die Zellkultivierung, der sogenannte fötale Kälberserum. Also eine aus dem Blut von ungeborenen Kälbern gewonnene
Nährlösung. So und das ist natürlich teuer und natürlich auch ethisch problematisch,
denn man will ja schließlich ein Fleisch produzieren, in diesen Zellkulturen ohne Tiere zu töten und dieser Widerspruch ist bislang noch nicht so richtig aufgelöst, denn es gibt zwar Firmen, die daran arbeiten, tierfreie Nährmedien zu herzustellen, um die Produktion dann ja ethisch verträglich und kostengünstiger zu gestalten und das ist aber noch ne soweit ich weiß, zumindest große Herausforderung und funktioniert eben noch nicht so gut. Auch hier wird dann interessant, wie diese Produkte angenommen werden von den Verbraucherinen und Verbrauchern und vor allen Dingen, was die dann mal
kosten und wie sich die Zulassungsbehörden positionieren werden.
Peer Kittel: Lieber Thomas, liebe Jule,
vielen Dank für das superinteressante Gespräch. Wir haben heute gemerkt, dass Fermentation ein
superkomplexes Thema ist und wir in einer Folge unmöglich alle Fragen beantworten können. In unserer
nächsten Folge oder in einer der nächsten Folgen werden deshalb fermentierte Lebensmittel sicherlich
immer mal wieder eine Rolle spielen, zum Beispiel in den Folgen zum Milch und Käse oder auch zum Bier.
Ja, das ist das kleine Vorschau. Fermentation war übrigens ein Wunschthema aus unserer
Hörerschaft. Von daher auch gerne noch einmal der Hinweis, wenn Sie Fragen oder Themenwünsche
rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie oder Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine
E-Mail an lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de. Das war Foodfacts, der Lebensmittelchemie-Podcast
der TU Dresden. Bis zum nächsten Mal.
Outro Musik
Das älteste Bier der Welt – vor 13.000 Jahren:
https://www.scinexx.de/news/geowissen/das-aelteste-bier-der-welt/
L. Li et al., J. Archaeol. Sci. Rep. 2018, 21, 783-793
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S2352409X18303468
Bundeszentrum für Ernährung: „Foodtrend Fermentation“
https://www.bzfe.de/service/news/aktuelle-meldungen/news-archiv/meldungen-2023/maerz/foodtrend-fermentation/
Max-Rubner-Institut: „Fermentierte Lebensmittel“
https://www.mri.bund.de/fileadmin/MRI/Verbrauchermedien/MRI-Booklet_IGW18-Fermentierte-Lebensmittel.pdf
Quarks und Co: Fermentieren: Hipster-Trend oder richtig gesund?
https://www.quarks.de/gesundheit/ernaehrung/fermentieren-hipster-trend-oder-richtig-gesund/
Zur Gesundheit fermentierter Lebensmittel
https://www.eufic.org/de/gesund-leben/artikel/sind-fermentierte-nahrungsmittel-gesund
Precision Fermentation und Laborfleisch
https://utopia.de/ratgeber/precision-fermentation-revolution-fuer-die-lebensmittelproduktion_419791/
Folge 9: Hochverarbeitete Lebensmittel - macht uns Industrienahrung krank?
Sie sind aus dem Supermarktregal kaum wegzudenken und begleiten uns oft durch den Alltag – von Snacks über Fertiggerichte bis hin zu zuckerreichen Getränken: sogenannte hochverarbeitete Lebensmittel oder auch UPF (engl. ultra-processed food). In den Medien wird ihnen oft eine schädliche Wirkung auf Umwelt und Gesundheit nachgesagt. Doch was steckt hinter dem Begriff „hochverarbeitet“? Wie sinnvoll ist eine Einteilung von Lebensmitteln nach einem industriellen Verarbeitungsgrad? Und ab wann wird ein vermeintlich wissenschaftliches Konzept zu einer ideologischen Heilslehre? In dieser Folge sprechen Peer Kittel und Juliane Wäntig mit Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle über dieses auch in der Fachwelt überaus heiß diskutierte Thema.
Intromusik
Peer Kittel: Foodfacts, der Lebensmittel Chemie Podcast der TU Dresden. In unserer heutigen Folge sprechen wir über hochverarbeitete Lebensmittel und deren schlechten Ruf. Wir stellen die Frage, macht uns Industrienahrung krank?
Intromusik
Peer Kittel: Ob Zeitungen, Ratgeber, Internetforen, soziale Medien oder Fachkreise, hochverarbeitete Lebensmittel oder auch UPF, das ist Englisch für Ultra Processed Foods, sind derzeit in aller Munde. Und das nicht wortwörtlich, sondern vor allem im Zusammenhang mit Risiken für Gesundheit und Umwelt. Wir wollen uns heute gemeinsam mit Lebensmittlchemiker Prof. Thomas Henle von der TU Dresden dem Thema von der wissenschaftlichen Seite nähern. Was bedeutet
hochverarbeitet eigentlich? Wie sinnvoll ist eine Einteilung von Lebensmittel nach dem
industriellen Verarbeitungsgrad? Welche Aussagekraft steckt tatsächlich hinter den zahlreichen Ernährungsstudien zum Risiko industriell hergestellter Lebensmittel?
Viele Fragen, viele Meinungen, viele Emotionen. Mir scheint das Thema hat es in sich. Deshalb lasst uns starten. Ich bin Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Neben mir sitzt wie immer Studentin Jules Wäntig und wir sprechen mit unserem Experten Thomas
Henle. Ich grüße euch
.Thomas Henle: Hallo Peer, Hallo Jules.
Jule Wäntig: Hallo.
Peer Kittel: Thomas, zum Einstieg wie immer erst mal die generelle Frage, was versteht man denn in einem Begriff hochverarbeiteter Lebensmittel eigentlich?
Thomas Henle: Peer, das ist eine sprachliche Neuschöpfung, so möchte ich es vielleicht bezeichnen, die
sich eben aus der englischen Begrifflichkeit diesen Altroprocessed Foods ableitet. Das
wurde es auf etwa 15 Jahren vielleicht in die wissenschaftliche Literatur eingeführt
und im Deutschen dann wurde aus diesen ultraprozessierten Lebensmitteln die hochverarbeiteten Lebensmittel. Das Ganze geht zurück auf einen brasilianischen Ernährungswissenschaftler namens Carlos Montero von der Uni in Sao Paulo und von dem erschienen 2009 und 2010 Kommentare in Fachzeitschriften, also wohlgemerkt Meinungsäußerungen, keine experimentellen Arbeiten. Und in diesen Kommentaren
hat der Kollege Montero die These aufgestellt, dass der weltweit zunehmende, verzehr industriell hergestellter Lebensmittel maßgeblich verantwortlich ist für die weltweit zu beobachtende Zunahmen Übergewicht und die damit verbundenen Folgeerkrankungen. Man kann den Titel vielleicht nennen, dieses Thesenpapier ist der lautete The Big Issue Is Ultroprocessing, also das große Problem, dem wir weltweit gegenüberstehen, ist das Ultraprozessieren von Lebensmitteln. Und in diesem Thesenpapier hat der Kollege Montero dann auch gleich ein vierstufiges Einteilungsprinzip von Lebensmitteln vorgeschlagen, nach dem Verarbeitungsgrad, der sogenannte NOVA-System,
das wir vielleicht ja heute noch sprechen. Und in diesem NOVA-System sind dann diese
UPFs, die am stärksten verarbeiteten Lebensmitteln, ja und diese Bezeichnung hat sich dann in der Ernährungsepidemiologie vor allen Dingen sehr schnell ausgebreitet. Man hat versucht alle möglichen wissenschaftlichen Belege für einen Zusammenhang zwischen dem Konsum industrieller hergestellter Lebensmittel auf der einen Seite und den unterschiedlichsten Ernährungs mitbedingten Konsequenzen dann aufzuzeigen.
Peer Kittel:Über das Konzept und die Aussagekraft der Studien werden
wir ja hier gleich auf jeden Fall noch mal sprechen. Aber hier vielleicht jetzt erstmal
die Rückfrage mit den hochverarbeiteten Lebensmitteln, assoziiert man ja in erster Linie den Begriff
auch Industrie und ja die Industrie, per se gibt es ja schon viel länger als 2010, warum
ist das jetzt so ein Thema?
Thomas Henle: Grundsätzlich gibt es eine Verarbeitung von Lebensmitteln
seit Menschen gedenken, denn letztlich ist das Schneiden, das Zerkleinern, das Haltbarmachen von Lebensmitteln, zum Beispiel durch Gärungsprozesse, Kochenbraten, Backen, alles das sind Prozesse der Lebensmittelverarbeitung. Und so findest du es in der Tat keine neue Erfindung selbstverständlich. Die Lebensmittelindustrie jetzt im engeren Sinne, die hatte wahrscheinlich ihre Blütezeit so im Sinne von technologischem Fortschritt, so im 19. Jahrhundert, zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1810 beispielsweise wurde die Konservendose entdeckt oder erfunden. Die Pasteurisation, die Wärmebehandlung von Milch, das hat man 1864 entwickelt um ein paar Beispiele zu nennen. Die Margarine wurde erfunden, 1869, das Milchpulver, übrigens von einem Herr namens Henri Nestle,
wurde 1872 erfunden. Und insofern hat natürlich die Lebensindustrie vor allem im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wirklich ganz entscheidend auch zum, ja man kann wirklich sagen zum Überleben einer wachsenden Bevölkerung beigetragen. Vor allen Dingen in den Städten, wir haben das schon mal angesprochen hier in diesem Kreise, vielleicht kann man das aber durchaus hier nochmal wiederholen, die Einwohnerzahl von Dresden beispielsweise, die hat sich von 1880 bis 1905 mehr als verdoppelt von 220.000 über 500.000 und viele dieser Menschen lebten in wirklich sehr ärmlichen Verhältnissen. Und das war natürlich eine Riesenherausforderung für die Nahrungsversorgung.
Und ohne die industrielle Herstellung von Lebensmittel wäre das schlichtweg nicht möglich gewesen. Es gibt sogar Berechnungen oder Schätzungen, nur nach alleine des Pasteurisieren von Milch und die Erfindung des Kühlschranks zu 10 bis vielleicht sogar 15 Jahren an zusätzlicher Lebenserwartung geführt haben. Und da kann man dann glaube ich wirklich mit Fugg und Recht feststellen, dass es ohne die moderne Lebensindustrie heute keine moderne Gesellschaft gäbe.
Jule Wäntig: Wann ist die Lebensmittelindustrie dann in so ein schlechtes Licht gerückt?
Thomas Henle:Ja, das ist schwer zu sagen, Jule. Es gibt vermutlich sociologische Studien oder geschichtliche Studien dazu, die ich jetzt nicht kenne. Wenn man das so ein kleines bisschen vielleicht aus eigener Erfahrung rekapituliert, ich habe natürlich hier unter dem Blick auf Westdeutschland damit kann das vielleicht so in den 1970er Jahren. Da war dann die Nachkriegszeit lange vorbei. Die Erinnerung an Mangelannährung war endgültig zu Ende. Die Versorgung mit Lebensmitteln, das war jetzt kein Problem mehr. Und damit konnte sich natürlich ein steigendes Umwelt und Gesundheitsbewusstsein
entwickeln. Da rückten dann Themen wie Umweltverschmutzung, Saucherregen, Waldsterben. Das war dann alles so in der Öffentlichkeit immer wichtiger, zurecht natürlich. Umweltschutzbewegungen wurden bedeutender auch politisch und entsprechend haben sich dann auch viele Menschen immer mehr für die Naturbelassenheit von Lebensmittel interessiert. Und damit rückte natürlich so ein
potenziell schädlicher Einfluss der Industrie auf die Umwelt und damit auch auf Lebensmittel immer mehr in den Fokus. Man begann sich über Verunreinigungen von Lebensmitteln mit Pestiziden, mit Schwermetallen zu kümmern, die Chemie generell und dann vor allem die sogenannte Chemie in Lebensmitteln wurde dann zunehmend kritisch gesehen. Und da hat natürlich dann auch die Industrie durchaus, ja, ich möchte mal sagen, Fehler gemacht und zu einem entsprechend schlechten öffentlichen Verunreinigung beigetragen. Es gab die ersten großen Lebensmittelskandale. In den 1970er Jahren beispielsweise gab es einen großen Skandal um das Unternehmen Nestle im Zusammenhang mit der aggressiven Vermarktung von Säugelungsnachung in Entwicklungsländern. Es gab wissenschaftlich irreführende Werbeaussagen, wonach zum Beispiel ein Nuß-Nougat-Creme, wertvolle Lebensbausteine enthält und so weiter. Also auch die Lebensindustrie hat da wirklich Fehler gemacht. Und dazu entwickelt
sich dann so was wie eine, ich möchte mal nennen, Skandalisierungsindustrie. Es verschiedene immer mehr Bücher. Da gab es dann Buchtitel, wie zum Beispiel Iss und Stirb in den 1980er Jahren. Organisationen wie Foodwatch und Greenpeace, deren, ich darf mal so sagen, Markenkern, ja, das Aufdecken von vermeintlichen Machenschaften in der Industrie ist. Auch die wurden immer wichtiger und einflussreicher. Und es führte
dann alles zusammen im Laufe der letzten Jahrzehnte, kann man sagen, zu einer ganz tief verwurzelten Skepsis gegenüber der Industrie, der Lebensindustrie vor allem. Und es hält ja heute noch an. Viele kennen Fernsehsendungen wie die Tricks der Lebensindustrie. Es befeuert diese Skepsis nach wie vor und es gibt auch eine ganze Reihe von, ja, ich möchte mal sagen, an sich seriös erscheinenden Informationsquellen. Ich denke da zum Beispiel so einen Podcasts von irgendwelchen Ernährungs-Docs, die dieses Industrie
bashing als Teil ihres Geschäftsmodells haben. Und das insgesamt ist dann so ein Konglomerat, was zu diesem schlechten Ruf, zu dieser schlechten Reputation der Lebensindustrie beiträgt.
Peer Kittel: Soviel zum schlechten Image der Lebensmittelindustrie. Das ist also faktisch nichts Neues. Die Grundlegende Skepsis vieler Verbraucher:innen gegenüber industriell hergestellten Lebensmitteln haben wir ja durchaus auch schon in unserer Folge zum Beispiel zum Thema Zusatzstoffe thematisiert. Was steckt denn jetzt aber genau hinter dem Konzept von hochverarbeiteten Lebensmitteln? Das haben uns nämlich auch viele Hörerinnen und Hörer gefragt. Kannst du da vielleicht erst mal eine Einteilung machen, kurz erläutern, vielleicht auch ein paar Beispiele geben?
Thomas Henle:Also dieses sogenannte Nova-Konzept, was von diesem Kollegen Montero eingeführt wurde, nachdem werden Lebensmittel in vier Gruppen eingeteilt. Und zwar erstens unverarbeitete oder wie es nennt minimal verarbeitete Lebensmittel. Die zweite Gruppe sind verarbeitete Zutaten. Die dritte Gruppe sind jetzt verarbeitete
Lebensmittel. Und die vierte Gruppe sind hochverarbeitete Lebensmittel. So was gehört jetzt doch dazu. Zur Klasse 1, also diesen unverarbeiteten oder minimal prozessierten Lebensmittel, da gehört zum Beispiel Obst, Gemüse, Nüsse, Eier, Milch, Fleisch, aber auch eben wie gesagt minimal verarbeitete Lebensmittel, also zum Beispiel Fruchtsäfte oder auch gekochtes Fleisch, Joghurt oder so, das gehört zu dieser Gruppe 1. Die Gruppe 2 oder die Klasse 2 sind jetzt, wie man es nennt verarbeitete Haushaltsübliche Zutaten, also so was wie Olivenöl oder andere Speiseöle, Zucker, Butter, auch Honig, das gehört in diese zweite Gruppe. Und mit der dritten Gruppe beginnt jetzt die, etwas, sagen wir mal stärkere Verarbeitung von Lebensmitteln. Und zwar definiert diese Klasse Lebensmittel
3 als bestehend aus Lebensmittel der Klasse 1 und der Klasse 2. Und das sind jetzt zum Beispiel Obst, Gemüse, Konserven, frisch gebackenes Brot vom Bäcker, Käse, fermentierte Getränke, Wein und Bier und so. Aber man merkt schon, jetzt wird es ein bisschen schwierig, nämlich mit der Unterscheidung, denn in die Klasse 4, und das sind jetzt diese hochverarbeiteten oder ultra processed Foods, die sind jetzt nach dieser Einstufung Lebensmittel mit, ich zitiere jetzt mal, Formulierungen von Zutaten, die mehrere industrielle Verfahren durchlaufen haben und dann gewissermaßen
zusammen gemischt wurden. Also dazu gehören jetzt Softdrinks, egal ob jetzt Mit Zucker oder mit Süßstoff, Fertiggerichte, vorgekochte Lebensmittel zum Aufwärmen, Tiefkühlpizzas, Eiscreme, interessanterweise auch abgepacktes Brot, wie gesagt, nicht verpacktes Brot, vom Bäcker ist Klasse 3, abgepacktes Brot ist Klasse 4, Säuglingsnahrung zum Beispiel ist Parschalklasse 4. Und man merkt ja mal jetzt diese Aufzählung hier anschaut, dass diese Einstufung objektiv gesehen schon recht problematisch ist und in vielen Beispielen auch schwer nachvollziehbar ist. Sagen wir mal ein Beispiel, ein Biojoghurt Natur zum Beispiel wäre Klasse 1, derselbe Joghurt mit Fruchtzusatz Klasse 4. Und zwar deshalb, weil diese Fruchtzubereitung,
die man da reingetan hat, Gelierzucker, also Pektin enthält. Anderes Beispiel, Pistazien geröstet ohne Salz sind Klasse 1, Natur belassen, das Rösten gilt hier als klassisches Verfahren, wenn man da jetzt Salz und Gewürze reintut, dann sind sie Klasse 4. Also man merkt schon, dass es da ziemliche Probleme gibt in der Einstufung, dass das doch nicht unerheblich für Verwendes, möchte ich mir sagen.
Jule Wäntig: In vielen Kühlschränken steht die H-milch. Ich meine,
das steht für ultrahocherhitzte Milch und die gibt es ja schon ewig. Ist es dann auch so ein
hochverarbeitetes Lebensmittel?
Peer Kittel: Das ist eine ganz wichtige, eine ganz gute Frage. Jule,
denn man muss hier an dem Beispiel kann man sehr schön diskutieren, dass dieses Nova System definitiv nicht auf messbaren Parametern beruht. Das ist also kein Einstuf und nach einem Einfluss zum Beispiel einer Hitzebehandlung oder so. Hochverarbeitung von Nova, also nach diesem Nova Prinzip ist es nicht bedeutend mit zum Beispiel einer hohen, thermischen Behandlung oder einer langen Erhitzung. Das wäre nämlich bei der H-milch so. Die könnte man analytisch problemlos von einer pasteurisierten Milch unterscheiden. Also diesen Erhitzungseffekt, den kann man analytisch genau definieren und festlegen und messen. H-milch interessanterweise und pasteurisierte Milch, die werden beide nach Nova nicht unterschieden. Die stehen beide in der Gruppe 1. Also H-milch
hoch erhitzt heißt in diesem Fall nicht hochverarbeitet. Konservenlosen sind ja Pauschalklasse 4.
Jule Wäntig: Ich oute mich jetzt mal als großer Fan, vor allen Dingen des Hühnernudeltopfes bei Erkältung oder abends mal einen schnellen Eintopf. Sollte ich das lieber lassen?
Peer Kittel: Nee, macht das nicht. Ich mache
es nämlich auch nicht. Ganz neben bei weil es schmeckt vielleicht besser, wenn man selber kocht, aber
hinsichtlich des Einflusses einer Verarbeitung ist da letztlich kein Unterschied, ob du jetzt
eine Dose ist oder ob du dir selber kochst. Ich kann dazu vielleicht sogar aus eigenen Arbeiten
berichten. Wir haben da vor einiger Zeit eigene Untersuchungen durchgeführt und zwar wollten
wir jetzt untersuchen, welchen Einfluss vor allem die Erhitzung hat auf den Nährwert und auf bestimmte
Folgereaktion im Lebensmittel. Da gibt es nämlich auch in dieses Vorurteil gewisse Massen, dass die
in der Industrie erhitzten Lebensmittel viel stärker Wärme behandelt werden und damit dann
wesentlich weniger bestimmte wertvolle Inhaltsstoffe enthalten. Wir haben jetzt dann im Rahmen von
Untersuchungen uns ein paar Produkte im Supermarkt gekauft, also Dosen eintöpfe wie
Chili Con Carne, Kartoffelsuppe und so was und haben dann versucht mit ja haushaltsüblichen Rezepten
diese Sachen nach zu kochen, mehr oder weniger zumindest. Die haben natürlich zum Teil unterschiedlich
geschmeckt. Manchmal schmeckt sogar die Dosen so besser als die selbst gekochten. Wenn man die aber
jetzt analytisch anguckt, also hinsichtlich irgendwelcher Erhitzungsparameter, Folgereaktionen
oder so, dann war letztlich kein Unterschied zu sehen. Das heißt man kann auf gar keinen Fall
sagen, dass diese Dosenprodukte thermisch belasteter sind als sehr haushaltstechnisch
hergestellten. Wir haben das im letzten Jahr auch bei verschiedenen Tagungen präsentiert und
damit vielleicht ein bisschen mit dem Vorurteil aufräumen können, wonach industriell gefertigte
Lebensmittel höhere Gehalte, unerwünchte Erhitzungsprodukte enthalten als die selbst gekochten.
Peer Kittel: WieiIst das dann mit den veganen Fleischersatzprodukten und auch mit den Milchalternativen, wo werden
die dann einsortiert?
Thomas Henle: Das ist ebenfalls ein ganz großes Problem dieser Nova-Klassifizierung, denn solche Milchalternativen, z.B. aus Hafer, aus Erbsen, aus Mandeln, die werden ganz pauschal als hoch verarbeitete Lebensmittel eingestuft. Also aus Nova-Klassifier, das gilt auch für Fleischersatz, aus Soja, aus Weizen. All diese veganen Lebensmittel sind pauschal hoch verarbeitet in dieser Definition. Und das ist nun deswegen problematisch, weil einige dieser Produkte, nicht alle, aber einige sind aus Sicht der Nachhaltigkeit durchaus sehr, sehr gut. Haferdrinks z.B., die gelten nun als durchaus nachhaltiges, aus Pflanzen, Quellen produziertes Lebensmittel. Und damit ist dann diese Einstufung dieser pflanzlichen Produkte als hoch verarbeitete Produkte und die damit verbundene negative Wahrnehmung, das führt jetzt in der Öffentlichkeit bereits dazu, dass die Nachfrage nach bestimmten Lebensmitteln sogar stagniert. Also, dass einige Unternehmen
tatsächlich bereits Umsatzeinbußen zu verkraften haben, weil eben diese Verunsicherung in der Bevölkerung hinsichtlich einer möglichen Hochverarbeitung immer stärker wird. Man sieht also, welche Konsequenzen da so eine negative und eigentlich auch irreführende Berichterstattung haben kann.
Jule Wäntig: Wie ist es jetzt, wenn ich etwas im Restaurant bestelle oder selber koche,
beziehungsweise meal prepe?
Peer Kittel: Das ist nun aus meiner Sicht vielleicht sogar das größte oder die
größte Ungereimtheit, die mit diesem Konzept verbunden ist. Ich zitiere jetzt mal aus diesem Originalpaper von Montero, also aus diesem Thesenpapier von 2010. Und da steht, ich übersetzte es mal wörtlich, Methoden, die bei der kulinarischen Zubereitung von Lebensmitteln in Haus oder Restaurant-Küchen verwendet werden, werden von Nova nicht berücksichtigt. In anderen Worten, alles was man daheim kocht oder was man in guten Restaurants, was in guten Restaurants gekocht wird, ist damit per Definition auf gar keinen Fall hochverarbeitet. Und spätestens da wird es aus meiner Sicht nahezu absurd, denn eine Pizza, egal mit was oder wie dick belegt in einem italienischen
Restaurant, ist damit gut, also zumindest nach Nova nicht hochprozessiert. Wenn ich meine Fertig-Pizza kaufe, dann ist die per Definition hochverarbeitet. Ein Burger, den man sich zu Hause aus Hackfleisch mit Zwiebeln und Gewürzen zubereitet und dann auf den Grill legt, anschließend dann vielleicht mit Gurken, Ketchup und Mayionese anrichtet, der ist gut, also nicht hochverarbeitet. Ein Hamburger in dem Schnellimbiss automatisch hochverarbeitet. Jetzt gibt es aus kulinarischer Sicht vielleicht Unterschiede, es mag schon sein, aber aus Nährwärtssicht behaupte ich, es ist völlig egal, ob ein
eventuelles zu viel an Kalorien von der Pizza vom Edelitaliener stammt oder aus der Tiefkühltruhe. Und es beeinflusst natürlich dann auch die wissenschaftlichen Studien, wenn es in diesen Ernährungsprotokollen, auf dem wir vielleicht nachher noch zu sprechen kommen, bestimmte Selbstgemachte oder im Restaurant verzerrte Lebensmittel, kaloriendichte Lebensmittel nicht erfasst werden, dann verzerrt es natürlich die entsprechenden Ergebnisse.
Peer Kittel: Jetzt haben wir schon das Thema Nachhaltigkeit ein bisschen mit in den Blick genommen und haben festgestellt, dass es da durchaus Widersprüche gibt zum Nova System. Wie ist es denn mit der Nutri-Score-Einteilung? Da hatten wir uns ja in einer der ersten Folgen auch schon mal mit auseinander gesetzt und die ist ja durchaus selber etwas umstritten. Wenn wir uns da jetzt diese Einteilung hernehmen, A bis E, liegt die dann über dem Nova-System, entspricht die dem Nova-System. Das heißt also,
wer jetzt ein Lebensmittel, was mit Nutri-Score-E ausgezeichnet ist, dann im Nova-System automatisch Klasse 4, also ultraprozessiert?
Thomas Henle: Der Nutri-Score, das haben wir wie gesagt schon besprochen, ist jetzt
ein über die Nährwert-Kennzeichnung hinausgehendes Einstufungssystem und das zumindest jetzt orientierend darauf hinweisen soll, welche Lebensmittel in ihrer Zusammensetzung, man berücksichtigt da zum Beispiel den Zucker, das Fett und den Salz und die Kaloriendichte, welche Lebensmittel da eher als vorteilhaft einzuschätzen sind. Auch das ist umstritten, das sagst du ganz richtig, also die Einstufung nach guten oder weniger guten Lebensmitteln, wenn man damit sehr häufig dann
gesund oder ungesund assoziiert, was aus wissenschaftlich Sicht falsch ist. Denoch ist
dieser Nutri-Score aus lebensmittelichemischersicht zumindest einigermaßen nachvollziehbar. Das heißt, diese Einstufung in A bis E, die beruht auf einem Berechnungsmodell. In dieses Berechnungsmodell bezieht man jetzt die Gehalte eher erwünscht in Haltstoffe, also zum Beispiel ungesättigte Fettsäuren, Proteine, Vitamine, pflanzliche Lebensmittel und die verrechnen er mit ein und die verrechnen wir dann mit den Inhaltsstoffen, die man als eher ungünstig betrachtet, also zum Beispiel zu viel an Fett, zu viel Zucker, zu viel Salz. Und da kommen dann diese Einstufungen in A bis E raus, die tatsächlich aber nur, und das ist immer ganz wichtig, innerhalb einer Produktgruppe, also zum Beispiel zwischen Frühstückscerealien oder so einen Vergleich zulassen, da kann man dann sagen, dass A etwas günstiger ist, C oder so. Aber ganz
wichtig, A bedeutet nicht per se gesund und D und E per se ungesund. Interessant ist aber jetzt, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Nutriscore und dieser Einstufung nach Nova oder den ultraprozessierten Lebensmittel gibt. Tatsächlich gibt es sogar eine ganze Reihe von Lebensmitteln, die nach dem Nutrisko als A eingestuft werden, also eine eher günstige Nährwertzusammensetzung haben, nach Nova aber als hochverarbeitet gelten. Ich sage doch mal rede Beispiele, Hafermilch ohne
Zucker hat eine Nutriscore von A, ist nach Nova 4 hochprozessiert. Bestimmte Zereali- oder Müslimischungen ohne Zucker, da gibt es welche, die haben eine Nutriscore von A, aber solche cereali- und Müslimischungen gelten nach diesem Nova-Score automatisch als hochverarbeitet. Säuglingsnahrung, Säuglingsnahrung hat keine Nutriscore, die ist davon ausgenommen, ist aber natürlich in ihrer Zusammensetzung optimal an der Ernährungsbedürfnisse von Säuglingen angepasst, trotzdem aber sind diese Säuglingsnahrung kategorisch Nova 4 also hochprozessiert. Und es ist ganz
klar, dass sowas natürlich für totale Verunsicherung bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern führt und verdeutlicht, dass dieses Nova System, ich darf es glaube wirklich so direkt sagen, keine naturwissenschaftliche Grundlage hat, vor allen Dingen keinen Bezug auf den Stoffwechsel oder auf die Ernährungserfordernisse des Menschen hat.
Jule Wäntig: Viele Publikationen ziehen einen Zusammenhang
zwischen hoferarbeiteten Lebensmitteln und negativen Gesundheitseffekten. Ich zitiere hier mal ein paar Schlagzeilen, wie schädlich sind hochverarbeitete Lebensmittel, wann Schaden stark verarbeitete Lebensmittel der Gesundheit. Das klingt jetzt recht eindeutig. Nova Klasse 4, hochverarbeitete Lebensmittel sind super schlecht und Schaden mir, kann man das so sagen.
Thomas Henle: Also wenn man in die entsprechenden Literaturdatenbanken schaut, dann werden festgestellt, dass dieser Begriff Ultra Processed Foods bis vor 2010 praktisch unbekannt war und beginnend mit den oben genannten Papieren von dem Montero, stiegt dann die Anzahl Papern, die sich mit dieser Thematie beschäftigen, nahezu exponentiell an. Wenn man in PubMed, das ist so eine Literaturdatenbank
reinguckt und das Stichwort Ultra Processed Foods eintippt, dann fand man zum Beispiel,
ich habe mir Zahlen rausgesucht für 2014, gerade mal acht Publikationen, 2023, aber schon über 500 und das verdeutlicht natürlich, welche öffentliche oder welche wissenschaftliche Wahrnehmung dieses Konzept jetzt bekommen hat. Und in der Tat berichten viele epidemiologische Studien in der Regel darüber, dass die Personen, die viele hochprozessierte Lebensmittel auf ihrem Speiseplan
hatten, dann ein erhöhtes Risiko für die unterschiedlichsten gesunderlichen Konsequenzen hatten. Jetzt muss man aber wieder in der Prätation dieser so, ich sage mal auf den ersten Blick, ziemlich eindeutigens nachlage, ein bisschen vorsichtig sein sehen, diese Studien sind in der Regel sogenannte Beobachtungsstudien. Das heißt, dann nimmt man eine Gruppe von Menschen retrospectiv, schaut rückblickend gewissermaßen nach, was die gegessen haben und versucht dann Zusammenhänge zu finden zwischen bestimmten Ernährungsgewohnheiten oder vielleicht verschiedenen anderen sogenannten Lifestyle Faktoren und bestimmten dann gesunderlichen
Konsequenzen. Und da kommen dann solche Aussagen raus, wie diejenigen, die das und das essen oder die, die so und so leben, haben ein höheres Risiko für die und die Sachen. Solche Beobachtungsstudien sind für bestimmte Risikofaktoren, wie zum Beispiel für Zigarettenrauchen ziemlich eindeutig. Das ist aber auch relativ eindeutig zu erfassen. Für Lebensmittel ist das Ganze jetzt viel, viel kompliziert und viel, viel weniger eindeutig. Das beginnt jetzt schon mit der Erfassung der Lebensmittel, da machen wir in der Regel Ernährungstagebücher, schaut rückblickend gewissermaßen
nach, was man da so gegessen hat und das weiß jeder, der seine Lebensmittel aufschreibt oder vielleicht rückblickend gefragt wird, was hast du letzte Woche gegessen, dass das in super schwieriges und man sich selbst häufig nicht ganz so ehrlich seine Sachen aufschreibt. Und dann der nächste Punkt ist damit dann, neben dieser Erfassung der Ernährungsweise, dass ganz viele weitere Faktoren mit eine Rolle spielen, Einkommen, Bildung, sozioöknomischer Status, Raucher nicht Raucher, eine glückliche Partnerschaft, Stress im Beruf. Also alles mögliche Faktoren, als möglichen Faktoren, die sich sowohl aufs Essen, als auch aufs Wohlbefinden auswirken. Das kann man zwar in gewissen Weise rausrechnen, dann werden aber die Zahlen der Untersuchten Probandinnen
und Probanden immer weniger und damit die Aussagekraft immer geringer. Und dann der Hauptpunkt oder die Hauptkritik, die man dann an diesen Studien immer äußern kann, der Hauptkritik an der Epidemiologie überhaupt, es werden, wenn überhaupt, nur Korrelationen aufgezeigt, also mathematische Zusammenhänge. Also zum Beispiel ein Mehr an bestimmten Lebensmitteln führt zu einem Mehr an,
was auch immer. Es werden aber keine Kausalitäten aufgezeigt. Das heißt, die Aussage hochverarbeitete Lebensmittel machen krank, ist so nicht seriös. Das wissen auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Studien, die drücken sich dann meistens so ein bisschen rum, wie es gibt Hinweise, aber es braucht mehrere Studien oder weitere Studien und damit schlagen die zwei Fliegen einer Klappe, einmal legen sie sie nicht fest, es gibt ja nur Hinweise und andererseits fordern sie weitere Studien und damit natürlich auch aus gewissem Eigeninteresse entsprechende Fördermitteln. Also diese epidemiologischen Studien sind grundsätzlich immer mit viel, viel Vorsicht zu genießen.
Peer Kittel: Wenn du jetzt quasi auf der einen Seite ja, ja, durchaus du hast
das selber wie ein Hunderte von Studien anzweifelst, gibt es denn neben diesen von dir beschriebenen
allgemeinen Aspekten auch wissenschaftliche Literatur, die sich dann kritisch mit den
epidemiologischen Ergebnissen auseinandersetzen?
Thomas Henle: Ja, das gibt es in der Tat, also um da jetzt nicht falsch verstanden zu werden, ich zweifle nicht die Seriosität der Wissenschaftlerinnen Wissenschaftlerinnen, die jetzt diese epidemiologischen Studien machen, sondern tatsächlich dann eher so
die öffentliche Interpretation dieser Studien. Tatsächlich gibt es aber auch fundierte Kritik
in der Wissenschafts-Community und da gibt es eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Argumenten, die hier ausgetauscht werden. Das heißt, wir haben es, wenn man so will, in der Fachwelt tatsächlich mit sowas wie früher mal gesagt, einem Gelehrthinstreit zu tun. Tatsächlich wird es auch deutlich, wenn man sich zum Beispiel entsprechende Publikationen anschaut, da ist vor ganz kurz am Anfang des Jahres 2024 ein Überblicksartikel erschienen, ein sogenannte Umbrella, also Schirm, Überblicks
Publikation, die eine ganze Reihe von Studien zu dieser Thematik zusammenfasst. Diese erschienen im BMG, das ist ein sehr angesehenes Journal, das war das frühere britische Medical Journal. So, und dieses Paper kommt jetzt zusammenfassend zu dem Schluss, das ist die allermeisten Studien, die jetzt Zusammenhänge zwischen hochverarbeiteten Lebensmitteln und Gesundheitskonsequenzen beschreiben von relativ schlechter Qualität sind und allenfalls Hinweise auf mögliche Zusammenhänge abgeleitet werden können. Und wenn es dann überhaupt Zusammenhänge gibt, dann ist tatsächlich Risiko relativ gering ist. Und dieser Gelehrthenstreit, den ich in so nennen darf, der wird dann deutlich, wenn man sich die Kommentare zu dieser Publikation anschaut und haben dann sehr, sehr viele Kolleginnen und Kollegen, die Aussagen des Papers intensiv
kritisiert und selbst die Hinweise auf bestimmte ernährungsbedingte Konsequenzen
in Zweifel gestellt, letztlich vor allen Dingen bedingt durch die Tatsache, dass die Eingabe
der Daten problematisch ist, also dass auf das Erfassen der tatsächlichen Ernährung und da gibt es dann im Englischen diesen Begriff Garbage in, Garbage out, also Müll rein vorne, was die Daten anbelangt, dann kann hinten auch nur Müll rauskommen. Und jetzt gibt es auch, wenn ich das bei der Gelegenheit vielleicht noch erwähnen darf, ganze Reihe von Studien, die zeigen, dass die beobachteten negativen Effekte, wenn sie denn eine ausreichende Evidenz haben, in der Regel schlicht und einfach durch bekannte Risikofaktoren erklärt werden können. Das ist für mich die Hauptkritik an
diese ganzen Thematik, nämlich durch ein zu viel an Zucker und durch ein zu wenig an Obst und Gemüse, zu wenig Ballaststoffe, vor allen Dingen aber durch die zu hohe Energiedichte. Also die negativen Gesundheitseffekte, die man in diesen Studien misst, haben dann bei genauerem Anschauen der verzehrten Lebensmittel letztlich nichts mit der Verarbeitung zu tun, sondern um es ganz profan zu sagen, mit einem zu viel an Kalorien. Und das ist nun also wissenschaftlich sich wirklich überhaupt nichts Neues. Und es bedeutet jetzt aber auch, dass die Erklärungsansätze für bestimmte
Zusammenhänge, also viele postulieren dann, dass es die Zusatzstoffe sind, dass die Hochverarbeitung zu bestimmten chemischen Veränderungen im Lebensmittel führt, dass all diese vermeintlichen Erklärungsansätze wissenschaftlich unfundiert sind. Und es passt auch zu einer Interventionsstudie. Es gibt eine einzige Interventionsstudie, die hier zugemacht wurde, wo man eine Reihe von Probandinnen in längerer Zeit mit NOVA 4 Lebensmitteln ernährt hat und die Kontrollgruppe eben nicht. Und das einzige, was man gemessen hat, ist, dass die Gewicht zugenommen haben, und zwar deshalb, weil sie zu
viel gesüßte Softdrinks zu sich genommen haben. Also der vermeintlich schädliche Effekt dieser hochprozessierten Lebensmittel geht in der Regel dann auf eine zu hohe Zufuhr von Kalorien zurück.
Peer Kittel: Da hört man jetzt sehr deutlich raus, dass sich also sozusagen die Wissenschafts, insbesondere dann in der Gegenüberstellung von Lebensmittelchemie, Lebensmittelwissenschaften und der Nährungswissenschaft nicht so einig ist, inwieweit das NOVA System sinnvoll ist oder nicht.
Thomas Henle: Die Fachgesellschaften der Lebensmittelchemie und der Technologie, die sind einhellig ablehnend. Also die sagen, dieses NOVA System ist wissenschaftlich nicht fundiert. Die Ernährungswissenschaften, die sind ein bisschen ein bisschen ambivalent, natürlich, weil die auch die Ernährungsepidemiologie mit drin haben. Von der deutschen Gesellschaft für Ernährung, beispielsweise der DGE, da erschien im letzten Jahr 2023 eine Übersichtsarbeit zu dieser Thematik als ein Kapitel für den nächsten Ernährungsbericht. Der Titel dieser Publikation war Verzehrstark verarbeiteter Lebensmittel und Nährungs mitbedingte Erkrankungen. Und etwas kritisch zu betrachten ist vielleicht, dass die DGE da immer noch diesen Begriff hochverarbeitete Lebensmittel, ultraprozessierte Lebensmittel nutzen, aber auch die DGE kommt dann zu dem Schluss, dass es bislang keinen wissenschaftlichen Konsens gibt. Das haben wir ja gerade diskutiert,
vor allen Dingen aber, dass es keine objektiven Kriterien gibt für die Beschreibung des Verarbeitungsgrades. Und sie kommen dann letztlich zu dem endgültigen Statement, dass das NOVA System letztlich kein geeignetes Klassifizierungssystem für Ernährungsstudien ist. Also um es nochmal zu betonen, für die Lebensmittelchemie ist die Faktenlage klar. Der Begriff hochverarbeitete Lebensmittel ist wissenschaftlich inkorrect und wird bei uns auch nicht verwendet.
Peer Kittel: Kann man denn jetzt umgekehrt davon ausgehen? Denn offensichtlich spielt dieses NOVA System ja eine Rolle, sonst würden wir uns auch nicht drüber unterhalten, dass dann Ernährungsberatungen auf der Basis ja vielleicht sogar Risiken produzieren.
Thomas Kittel:Ja, das ist ein ganz wichtiger Aspekt und es ist etwas,
was tatsächlich auch ganz aktuell diskutiert wird. Das ist auch beispielsweise bei der DFG,
der Deutschen Forschungsgemeinschaft, angekommen. Da gibt es eine Senatskommission, die sogenannte SKLM, die Senatskommission zur gesundheitlichen Bewertung von Lebensmitteln. Ich war da lange Jahre mitgelegt und aktuell sind zwei andere Kollegen aus unserer Lebensmittel Chemie dort vertreten. Und diese SKLM, die untersucht tatsächlich gerade, ob die Anwendung des NOVA Systems per se vielleicht sogar ein Ernährungsrisiko darstellt. Ich sage mir zwei Beispiele, wo vielleicht konkrete Gefahrenpunkte aus dieser ja vielleicht eher ideologischen Einstufung von Lebensmitteln als hochverarbeitete herausgehen können. Säuglingsnahrung gilt, wie wir gesagt haben, als hochverarbeitetes Lebensmittel. Was jetzt tun, wenn die Mutter
nicht stillen kann und auf diese Produkte angewiesen ist. Man kann sich vorstellen,
welche Verunsicherung aus dieser Einstufung als hochverarbeitetes Lebensmittel resultiert, so im Sinne von, was tue ich denn meinem Kind an, wenn ich ihm von klein auf hochverarbeitete, ultraprozessierte Nahrung anbiete. Ein anderer Aspekt ist der, dass man, wie auch schon dargestellt, dann vermeintlich hochverarbeitete Lebensmittel, die eigentlich eine sehr gute Zusammensetzung haben, also Nutriscore A oder B oder so, sogar aus dem Speiseplan rausnehmen, bloß aus Angst vor der potenziellen, industriellen Herstellung. Wenn man jetzt dieses Konzept von dem Montero noch
weiterspint, dann fordert er ja letztlich nichts anderes als eine Rückbesinnung auf traditionelle Tugenden. So nur das, was von der Natur direkt kommt, das ist gut und wir müssen wieder zu Hause kochen und auf gar keinen Fall Industrien darum zu uns nehmen. Man kann sich jetzt durchaus vorstellen, dass man dieses Propagieren eines Essens wie früher, eines zurück zur Natur, nahtlos auch zu einem Heim an den Herd instrumentalisieren kann. Und damit natürlich, und das gilt natürlich vielleicht ganz besonders für Schwellen und Entwicklungsländer, eine Festschreibung von klassischen Geschlechterrollen propagiert, so im Sinne von, die Frau soll gefälligst zu Hause bleiben und kochen, weil das Industrieessen ja schädlich ist. Und das sieht man
dann tatsächlich aus meiner Sicht zumindest, dass in diesem Konzept weit mehr drinsteckt an bedenken werden Aspekten als nur die Frage der gesunden Ernährung.
Jule Wäntig: Wer in diesem Jahr online
unterwegs war auf sozialen Netzwerken hat das Erstärken des Phänomen Tradwifes gesehen,
unter anderem Frauen, die stundenlang in der Küche stehen, um ja keine Hochverarbeitete Lebensmittel in
den Lebensmittel für ihre Kinder und ihre Familie zu kochen. Und das fängt bei Nudeln an und ich
habe Kaugummi gesehen.
Thomas Henle: Wenn man das jetzt weiterspinnt, dann könnte man dieses ja nun durchaus nicht unerheblich kritisch zu betrachten Phänomen auch wiederum rechtfertigen mit dem Nichtessen von hochverarbeiteten Lebensmitteln. Also hier steckt wirklich eine ganze Reihe auch von sozialologischen Problemen dahinter.
Jule Wäntig: Auch habe ich eine Vorbereitung für diese Folge gelesen, dass sogar die WHO das Nova-System gut findet. Wie erklärst du dir das?
Thomas Henle: Ja, das stimmt. Es ging vor einigen Wochen sogar
durch die Presse. Da fahren wir dann ganz krasse Schlagzeilen im Sinne von die Weltgesundheitsorganisation, also die WHO sagt, hochverarbeitete Lebensmittel machen krank. Diese Meldungen bezogen sich da auf einem Bericht, den die WHO Anfang des Jahres veröffentlicht hat und in dem es dann im weitesten
Sinne um Zusammenhänge zwischen kommerziellen Interessen, verschiedenen Industriebereiche und Zivilisationserkrankungen ging. Da waren natürlich auch die Lebensindustrie mit drin und da tauchte dann leider möchte ich sagen auch der Begriff der Ultroprocessed Foods wieder auf. Allerdings eher, ich möchte mal sagen, als Synonym, als Narrativ, eine unausgewogene Ernährung. Jetzt muss man
natürlich festhalten, dass auch die Berichte der WHO immer Positionen der betreffenden
Autoren wiedergeben und leider, das darf ich vielleicht einmal so sagen, sind da häufig zu
wenig Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler dabei, sodass dann eben solche wissenschaftliche umstrittenen Begriffe häufig unkritisch verwendet werden, was dann dazu führt, dass vor allen Dingen die mediale Berichterstattung völlig übertrieben dargestellt wird, im Sinne von auch die WHO warnt vor hochverarbeiteten Lebensmitteln, was eigentlich so dann nicht der Fall ist.
Peer Kittel: Vielleicht fokussieren wir es nochmal. Wie sieht denn jetzt dein Standpunkt aus? Also du hast ja schon anklängen lassen, dass du grundlegende Probleme mit der Argumentation von Monteiro, also dem Begründer des Nova-Konzeptes hast.
Thomas Henle: Also mein Standpunkt ist
klar, der Begriff hochverarbeitete Lebensmittel und das gesamte Nova-Konzept ist aus wissenschaftlicher Sicht vor allem unseriös. Jetzt habe ich aber als, ich möchte sagen, evidenzbasierter Naturwissenschaftler noch ein weiteres großes Problem mit diesen Konzepten. Es widerspricht aus meiner Sicht nämlich in zentralen Punkten einem grundlegenden Prinzip aller Naturwissenschaften, nämlich dem objektiven Fakten basierten Beobachten und dem nachvollziehbaren Erklären von Phänomenen.
Also es widerspricht der grundlegenden Methodik der Wissenschaft. Ich würde sogar so weit gehen, dass dieses Nova-Konzept konkrete Züge einer Anti-Aufklärung und Achtung Fake Science, also Pseudowissenschaften enthält. Das ist ein harter Vorwurf. Ich weiß aber, ich lese jetzt mal ein paar Zitate aus dem Thesenpapier vor von dem Montero. Der spricht davon, dass die Ernährungswissenschaften seit Jahren oder seit Jahrzehnten, ich zitiere, übersehen, was den Lebensmitteln angetan wird. Also allein dieser Duktus ist schon etwas interessant und jetzt geht es weiter. Noch ein Zitat, dass wir uns immer noch auf die Erkenntnisse der Biochemie aus den 20. Jahrhunderts stützen, die, wiederum Zitat, die Minishing Relevance, also immer wenige Bedeutung haben. Und das ist deshalb außerhalb der konventionellen Wissenschaften noch. Das ist ein
Zitat, dass wir außerhalb der konventionellen Wissenschaften argumentieren müssen, die er als nicht mehr relevant für die Beurteilung einer Lebenserarbeitung achtet. Und das ist jetzt für mich als Wissenschaftler schon sehr, sehr harter Stoff. Und auch wenn man sich die Selbstinszenierung der Arbeitsgruppe anschaut, da gibt es zum Beispiel ein Paper von 2016 mit dem Titel NOVA, der Star shines bright, da inszeniert sich diese Gruppe tatsächlich mit so einem, wir retten jetzt die Weltanspruch, denn wir haben erkannt, was wirklich Sache ist und die Industrie ist eben verantwortlich für alle möglichen Probleme der Welt. Und da erkennt man jetzt aus meiner Sicht zumindest wirklich konkrete Tendenzen einer, ja, ich möchte mal sagen, Ideologisierung der
Thematik, die es mit Wissenschaft nichts mehr zu tun hat, also eher so eine alternative
Ernährungswissenschaft aufgebaut wird oder vielleicht sogar eine Art Heilslehre und ein
zentraler Punkt einer Heilslehre ist ja dann auch immer, dass man potenzielle Kritiker
diskreditiert. So im Sinne von, wenn ich für uns ist, der ist gegen uns und auch dafür kann
man jetzt Belege finden, was aus meiner Sicht auch einzigartig ist für so eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Es gibt nämlich eine Publikation der Arbeitsgruppe von 2018 und da haben die alle Publikationen zusammengefasst, die sich kritisch mit diesem NOVA-Konzept auseinandersetzen. So was kann man machen. Die werden aber jetzt in diesem Paper nicht wissenschaftlich diskutiert oder widerlegt oder so. Es geht den Autorinnen und Autoren vielmehr darum, dass man über eine bibliografische Analyse herausfinden wollte, ob die Autorinnen und Autoren dieser kritischen
Paper eventuell Verbindungen zur Lebensindustrie hatten, also zum Beispiel Forschungsprojekt oder so mit Industriepartnen durchgeführt haben. Man wollte also mit dieser wissenschaftlichen Publikation die NOVA-kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als potenzielle Industrielobbyisten Auten, die quasi, ich sage es mal, ihr Recht verwirkt haben, das NOVA-System zu kritisieren.
Ja, diese Kolleginnen und Kollegen wurden dann sozusagen als, ja jetzt sage ich mal,
unglaublich in diesem Paper vorgeführt und ihre fachliche Kritik damit entwertet. Und
spätestens da hat die Diskussion dann nichts mehr für Wissenschaft zu tun, sondern es ist
Indiz, ich sage es noch mal, für eine postfaktische pseudo-wissenschaft und die müssen wir als der Objektivität verpflichtete Wissenschafts-Community strikt ablehnen.
Peer Kittel: Auch abschließend, das Thema hat wirklich großes Diskussionspotenzial und obwohl wir uns heute mehr Zeit als sonst für ein Thema genommen haben, wird es sicherlich noch Fragen geben bei Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer. Insofern, wenn Sie welche haben, schicken Sie diese gerne an
unsere E-Mail-Adresse, lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de. Zum Abschluss, Thomas, noch mal ganz
simpel die Frage, heute Abend Abendessen, Konservendose, ja oder nein.
Thomas Henle: Natürlich, aber so ist ja gerne, es kommt halt wie immer auf die Menge und auf die Ausgewogenheit an. Vor allen
Dingen aber kommt es davon, dass man keine Angst vorm Essen hat.
Peer Kittel: Wie immer perfektes Schlusswort.
Viele Dank, lieber Thomas, liebe Jule. Mir hat die Einordnung und deine Einordnung zu
hochverarbeitenden Lebensmitteln insofern geholfen, dass ich in Zukunft wohl ein wenig entspanntermit diesen Lebensmitteln umgehe und vielleicht auch kein so schlechtes Gewissen habe, wenn es abendsdoch mal die Tüten super wird. Wenn auch Ihnen die Folge gefallen hat und Sie Interesse an allenThemen rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie und Ernährung haben, dann hören Sie gern auch unsere
weiteren Folgen. Food Facts gibt es immer am 24. jedes Monat auf der Webseite der TU Dresden undüberall da, wo es Podcast gibt. Das war Food Facts, der Lebensmittelchemie Podcast derTU Dresden. Bis zum nächsten Mal
Position der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zur Einteilung von Lebensmitteln nach dem „Verarbeitungsgrad“:
15. DGE-Ernährungsbericht, 2024, Kapitel 9
Zur Geburt des „NOVA-Systems“ und dem Umgang mit Kritik
Monteiro C.A., The big issue of ultraprocessing. World Nutr. 2010, 1, 237-269 https://www.wphna.org/htdocs/downloadsmar2011/11-03%20WN6%20Letters%20UPPs%20CORR%20pdf.pdf
Monteiro C.A: et a., NOVA, the star shines bright. World Nutr. 2016, 7, 28-38 https://www.worldnutritionjournal.org/index.php/wn/article/view/5
Mialon M. et al., Criticism of the NOVA classification: who are the protagonists? World Nutr. 2018, 9, 176-240 https://www.worldnutritionjournal.org/index.php/wn/article/view/606
Wissenschaftliche Kritik am NOVA-System (Beispiel)
Visioli F. et al., The ultra-processed foods hypothesis: a product processed well beyond the basic ingredients in the package. Nutr. Res. Rev. 2023, 36, 340-350. DOI: 10.1017/S0954422422000117
Die wissenschaftlche Diskussion, verdeutlicht an einer aktuellen Metastudie (“Umbrella-Review”) und den Reaktionen darauf von Expert:innen
Lane N.M. et al., Ultra-processed food exposure and adverse health outcomes: umbrella review of epidemiological meta-analyses. BMJ 2024;384, e077310, DOI: https://doi.org/10.1136/bmj-2023-077310
Expert reaction to umbrella review looking at ultra-processed food exposure and adverse health outcomes: https://www.sciencemediacentre.org/expert-reaction-to-umbrella-review-looking-at-ultra-processed-food-exposure-and-adverse-health-outcomes/
Folge 8: Ernährung und Evolution, Teil 2: Von milchtrinkenden Mutanten, veganen Hunden und laktosefreier Steinzeitdiät
In Teil 2 unseres Podcasts zu Ernährung und Evolution widmen wir uns speziell der Frage, wie die Kultur die Gene beeinflusste – und zwar nicht nur die menschlichen, sondern auch die tierischen Gene. Insbesondere die Sesshaftwerdung des Menschen vor rund 10 000 Jahren und die damit verbundenen kulturellen Veränderungen - weg von Jägern und Sammlern hin zu Ackerbau und Viehzucht - hatte tiefgreifenden Konsequenzen für unsere Ernährung, was über die folgenden Jahrtausende wiederum unsere Gene beeinflusste. Warum heute viele Menschen milchtrinkende Mutanten sind und ob wir uns doch lieber wie in der Steinzeit ernähren sollten, darüber diskutieren Moderator Peer Kittel und Studentin Jule Wäntig mit dem Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle von der TU Dresden.
Intro Musik
Peer Kittel: Food Facts, der Lebensmittelchemiepodcast der TU Dresden. Heute sprechen wir noch einmal über Essen und Evolution. Dabei geht es diesmal insbesondere um kulturelle Einflüsse auf unsere Gene. Wir erfahren mehr über Milch trinkende Mutanten und was es mit der Steinzeit Diät auf sich hat.
Intro Musik
Peer Kittel: In unserer letzten Folge haben wir den Zusammenhang zwischen der menschlichen Evolution und dem Kochen thematisiert. Von unserem Experten Thomas Henle haben wir dabei gehört, dass das Kochen vor hunderttausenden vielleicht Millionen Jahren von unseren Vorfahren entdeckt wurde und dass das Erhitzen von Lebensmitteln so viele Vorteile mit sich brachte, dass sich der Menschen seine Evolution angekochte Lebensmittel angepasst hat. Heute wollen wir mal die jüngere Vergangenheit betrachten, also so die letzten Jahrtausende. Gab es da weitere genetische Anpassungen des Menschen in Zusammenhang mit der Ernährung? Darüber sprechen wir mit Lebensmittelchemie Professor Thomas Henle von der TU Dresden. Wir, das sind Studentin Jule Wäntig und ich Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Insofern, wie gehabt, hallo Thomas, hallo Jule.
Thomas Henle: Hallo Peer, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo.
Peer Kittel: Thomas, wie lange braucht denn die Evolution, bis sich Gene verändern und dies dann auch als Merkmal beim Menschen erkennbar wird? Müssen das dann immer Jahrtausende sein?
Thomas Henle: Also wir hatten in der letzten Folge ja dargestellt, was Evolution bedeutet, nämlich die allmähliche Veränderung von vererbbaren Merkmalen oder Eigenschaften von Organismen, von Generation zu Generation. Und aus molekularer Sicht geht es immer auf Mutationen in den Genen, also im Erbgut zurück. Und solche Mutationen treten eigentlich ständig auf, meistens völlig unbemerkt, entweder weil sie in Bereichen des Genoms passieren, die keine Auswirkungen auf den Phänotyp haben, oder dass sie dann zu Proteinen führen, deren Funktion durch die Mutation nicht beeinflusst werden. Manchmal sind diese Mutationen so ungünstig, dass der Organismus gar nicht mehr lebensfähig ist und noch ein paar Zellteilungen abstirbt. Und manchmal führen solche Mutationen auch zu fatalen Folgen wie z.B. Krebs. Wie letztes mal beschrieben, setzen sich jetzt bestimmte positive Eigenschaften durch Vererbung von Generation zu Generation nur dann durch, wenn ein Vorteil, also eine positive Anpassung an die Umwelt damit verbunden ist. Und im Zusammenhang mit der Ernährung, mit Lebensmitteln gibt es tatsächlich mehrere Beispiele für Mutationen oder Anpassungen in jüngerer Zeit, wobei Jünger dann immer noch bedeutet mehrere Tausend bis vielleicht Zehntausende von Jahren.
Jule Wäntig: Welche konkreten Beispiele gibt es da deinem Bezug auf Lebensmittel und Ernährung?
Thomas Henle: Also da gibt es zwei ganz wichtige Beispiele, die auch unsere heutige Lebensform gewissermaßen prägen und für unser heutiges Essen ganz wichtig sind. Und zwar die Anpassung an die Stärkeverwertung, das ist die Amylase, ein bestimmtes Enzym im Speichel, also die bessere Ausnutzung von Getreide, und die Laktose Toleranz, also die Ausnutzung von Milchzucker als Energiequelle. Und dann gibt es noch ein paar etwas exotische Beispiele, da gibt es zum Beispiel bei den Inuit, den Ureinwohnern von Arktis, von Grönland, in Nordamerika, da gibt es eine Reihe von Menschen, die haben eine bestimmte Kohlenhydratintoleranz, die vertragen zum Beispiel keine Sacharose, also keinen Haushaltszucker. Und zwar deshalb, weil deren Lebensmittel oder deren Ernährung eigentlich maßgeblich auf Fisch und Fleisch beruht, praktisch keinen Zucker enthielt und sich so im Laufe der Jahrtausende eine Sacharose-Intoleranz entwickeln konnte. Man schätzt, dass bis zu 10 Prozent der Menschen das haben, was die eigentlich gar nicht mehr kennen. Erst dann, wenn sie dann mal Zucker essen, vielleicht in der heutigen Ernährung, dann mehr als vielleicht früher Zucker in den Speiseplan einbauen, dann haben die Symptome, die ähnlich sind wie eine Laktose-Intoleranz. Auch das ist ein Beispiel, also diese Sacharose-Intoleranz gewissermaßen für eine Mutation der jüngeren Zeit.
Peer Kittel: Wenn wir uns die beiden die ja zentralen Stoffe, nämlich Stärke und Laktose nochmal anschauen, denkt man ja sofort an Getreide und Milch. Seit wann spielen diese Lebensmittel dann in der menschlichen Ernährung eine Rolle?
Thomas Henle: Also die Stärke ist ein Polysacharit, ein Speicher, Kohlenhydrat, den ganz vielen Pflanzen, zum Beispiel in Knollen wie Kartoffeln oder Manioc, in Getreide, Mais, Reis, Weizen, auch in Hülsenfrüchten, Erbsen oder Linsen. Und diese Lebensmittel waren natürlich seit langem Grundlage unserer Ernährung und damit ist auch Stärke seit vielen, vielen Jahr-, Millionen Jahren für die Versorgung mit Kohlenhydraten bei vielen Säugetieren eben die wichtigste Grundlage auch beim Menschen. Man kann davon ausgehen, dass unsere Vorfahren wahrscheinlich schon vor mehreren Millionen Jahren stärkehaltige Lebensmittel zu sich nahmen. Das ist bei der Laktose anders, Laktose der Milchzucker. Die Laktose ist natürlich der Hauptbestandteil der Milch, aller Säugetiere und entsprechend ist die Laktose ein Nährstoff, seit es Säugetiere gibt. Das ist so seit, etwa die Muttermilch, Milch aufnehmen, nehmen sie auch Laktose auf und können diese Laktose auch verwerten. Und da jetzt außer in der Milch Laktose keinem anderen Lebensmittel vorhanden ist, spielte natürlich dann die Laktose als Nährstoff nach dem Abstillen keine Rolle mehr. Außer für Neugeborene war also quasi dann die Laktose bis vor nicht allzu langer Zeit kein wichtiger Bestandteil unserer Ernährung.
Jule Wäntig: Damals, wenn ich nicht so viel Taschengeld hatte, habe ich mir immer ein Brötchen gekauft. Und wenn ich das nur lang genug gekaut habe, dann war es auch irgendwann süß, da schon einen Mund angefangen zu verdauen, weil eigentlich ist ja in so einem regulären Brötchen kein Zucker drin.
Thomas Henle: Ja, ganz genau. Du hast praktisch im Mund bereits mit der Stärke verdauen begonnen. Die Stärke ist, wie gesagt, ein Polysacharid. Das besteht aus vielen einzelnen Glucose-Molekülen, also dem Traubenzucker, die miteinander verknüpft sind. Diese Bindungen nennt man aus chemisch glykosidische Bindungen. Und diese Bindungen müssen gespalten werden, damit die Stärke letztlich vom Körper verwertet werden kann. Und das machen bestimmte Enzyme, die sogenannten Amylasen. Diese Amylasen werden produziert im Speichel, wie du gerade schon richtig dargestellt hast, und in der Bauchspeicheldrüse. Und wenn die jetzt dann beginnt mit ihrer Aktivität im Mund, dann wird diese Stärke gespalten. Zunächst bis hin zu Disachariden, den Malzzucker. Die Malzzucker besteht aus zwei Glucose-Molekülen und es schmeckt dann bereits süß. Also man beginnt, wie du richtig sagst, im Mund bereits mit der Stärkeverdauung, mit der Kohlenhydrat Verdauung. Und wenn man dann quasi den Speisebrei so richtig einspeichelt, wenn man das mal so sagen darf, dann trägt man eben ganz entscheidend dazu bei, dass die Verdauung sehr gut funktionieren. Man soll also auch möglichst lange kauen, um damit dann den Amylasen sehr gut die Aktivität gewissermaßen zu erleichtern. Es ist nur ganz interessant, dass der Mensch evolutionär sehr gut an die Verwertung von Stärke angepasst ist. Man hat nämlich vor einigen Jahren entdeckt, dass sich die Zahl der Gene, die genau für diese Amylase im Speichel kodieren, im Laufe der Evolution erhöht hat. Dieses Gen heißt AMY1 und dieses Gen hat sich im Laufe der Evolution vervielfacht. Man spricht da aus biochemischer Sicht von der Copy Number Variation oder CNV, also einer Vermehrfachung der Anzahl der Gene. Und diese CNV ging auch mit einer erhöhten Aktivität einher. Das heißt, wir haben heute eine höhere Amylaseaktivität im Speichel, als unsere Vorfahren vor vielleicht einer Million Jahre. Normalerweise hat man einen diploiden Chromosomen Satz, also jedes Gen kommt zweimal vor. Aber von diesem AMY1 Gen haben dann manchen Menschen sogar bis zu 15 Genkopien und eine entsprechend höhere Aktivität. Und diese Erbgutveränderungen, die haben sich im Verlauf der letzten Jahre, man schätzt so 50 bis 100.000 Jahre ergeben und damit den Menschen befähigt, die Stärke besser auszunutzen. Im Erbgut von Schimpansen zum Beispiel findet man nur zwei Kopien, die Affen bevorzugen vor allen Dingen reife Früchte, also Nahrung, die relativ wenig Stärke enthalten. Und ganz interessant ist jetzt ein Aspekt für alle Hundebesitzer. So eine CNV, also so eine Vermehrfachung des Amylasegens gibt es auch beim Hund, nicht aber beim Wolf. Was ein tolles Beispiel ist für eine Anpassung an die Ernährung im Verlauf der Domestikation. Also quasi eine Ausnutzung des Futters, was die Hunde durch die Menschen bekommen haben, da war wahrscheinlich auch viel Stärke drin. Und die Tiere, die das besser ausnutzen konnten, hatten einen Überlebensvorteil, sodass sich dann diese Vervielfachung der Gene, diese CNV, im Laufe der Domestikation durchsetzen konnte.
Jule Wäntig: Also wenn der Hund genau wie der Mensch an Stärkeverwertung angepasst ist, dann kann ich ihn doch auch rein theoretisch so komplett vegetarisch ernähren.
Thomas Henle: Ja, das ist tatsächlich in der Diskussion. Da gibt es Tiermedizinerinnen, Tiermediziner oder Menschen, die sich mit der Tierernährung beschäftigen, die das sehr, sehr umstritten diskutieren. Es gibt tatsächlich sogar Firmen, die jetzt vegetarisch ist. Es gibt sogar Firmen, die rein veganes Hundefutter anbieten. Ich vermag das jetzt aus Tierernährung sich nicht abschließen zu beurteilen. Meine Meinung ist aber jetzt die, dass ein Hund, auch wenn er domestiziert ist, immer noch ein Raubtier darstellt, nämlich vom Verdauungstrakt betrachtet, ein Fleischfresser ist und eine artgerechte Ernährung von Hunden beinhaltet nach meiner Dafürhaltung. Zumindest immer auch Fleisch. Manche Leute gehen sogar so weit, dass sie sagen, eine vegane Hund Ernährung ist Tierquälerei. Ob das jetzt wirklich so ist, das mag ich jetzt hier nicht beurteilen. Das überlassen wir tatsächlich dann den Expertinnen und Experten.
Peer Kittel: Vielleicht kommen wir nochmal auf das Thema Getreide und Milch auch zurück. Das verbindet man ja sozio-kulturell dann mit Landwirtschaft und auch mit dem Ackerbauer, also Vierhaltung etc. Pp. Unsere steinzeitlichen Vorfahren waren ja Jäger und Sammler. Wann hat es dann da diesen Shift gegeben? Also wann hat sich da was geändert?
Thomas Henle: Also man vermute, dass diese Umstellung vom Jagen und Sammeln auf Ackerbau und Viehzucht und damit auch die Sesshaftwerdung des Menschen, dass das vor so etwa 12.000 Jahren begann. Man bezeichnet das als sogenannte neolithische Revolution. Das Neolithikum ist in der Archäologie die Zeitepoche der Jung-Stein-Zeit. Das fiel zusammen mit der letzten Eiszeit und dem Beginn unseres aktuellen erdgeschichtlichen Zeitalters, dem sogenannten Holozän. So und der Begriff Revolution soll es zum Ausdruck bringen. Das ist ein ganz entscheidender, ganz einschneidender Umbruch, wenn man so will, in der menschlichen Geschichte war. Letztlich also der Weg in unsere moderne Gesellschaft begann. Da gibt es die ersten Belege dafür, im damaligen Mesopotamien, in der Gegend des sogenannten fruchtbaren Halbmonds im mittleren Osten, dort und dann auch in vielen anderen Regionen begann dann der ganz gezielte Anbau von Getreide, auch von proteinhaltigen Pflanzen wie Erbsen oder Linsen. Das führte dann beim Weizen zu einer fortschreitenden Domestizierung, einer Auslesezüchtung hinzusuchten mit höherem Ertrag. Im Parallel dazu verlief dann auch die sogenannte Domestizierung von Milchliefernden Tieren. Das begann wahrscheinlich mit Schafen und Ziegen. Das hat man so in den ungefähr zwölftausend Jahren die ersten Ziegenherden in Anatolien gehalten. Ja und diese Viehzucht liefert dann Milch und Fleisch und damit zusätzliche Nahrung für eine immer stabilere Ansiedlung und damit auch für eine zunehmende Sesshaftwerdung der Menschen.
Peer Kittel: Ja und die Sesshaftwerdung geht ja dann wieder einher mit weiteren kulturellen Entwicklungen. Spiegelt sich das dann auch in unseren Genen wieder, also beeinflusst die Kultur dann irgendwie auch das Genom?
Thomas Henle: Ja absolut, das ist jetzt wirklich sehr, sehr interessante. Das wäre ja wenn wir jetzt mal hunderttausende von Jahren zurückrechnen, dann waren es immer, ich sage mal, zufällige Mutationen. Jetzt ist es tatsächlich ein gutes Beispiel für eine Genkulturkoevolution, wenn man das bezeichnet. Das heißt, normalerweise haben wir ja gerade gesagt, gibt sie Laktose nur in der Muttermilch. Beim Neugeborenen ist auch das entsprechende Enzym aktiv, die sogenannte Laktase, die dann den Milchzucker in die Bausteine zerlegen kann, nämlich Glucose und Galactose. Das passiert im Dünndarm und dort werden dann die Monosacharide aufgenommen und können für Stoffwechsel werden. Das funktioniert aber, funktioniert also früher, wenn wir so sagen, noch vor der Sesshaftwerdung des Menschen, nur so bis zum dritten, vierten Lebensjahr, also maximal so lange, wie man vielleicht Muttermilch trinken könnte. Und dann wurde die Laktase gewissermaßen abgeschaltet im Körper, man brauchte sie ja nicht mehr und das entsprechende Gen wurde herunter geregelt. Wenn man so will, waren also damit alle unsere Vorfahren bis vor vielleicht so fünf bis zehntausend Jahren Laktose intolerant, konnten also den Milchzucker nicht verstoffwechseln, weil sie ihn auch nicht verstoffwechseln mussten. So und jetzt kam es dann tatsächlich einhergehend mit der Vierhaltung, mit der Produktion von Milch zu Mutationen. Allerdings waren die nicht im Laktasegen selbst, aus biochemischer Sicht waren die etwas daneben sozusagen, in den wir Nachbarten gehen. Wenn man es zusammenfasst, führten dann diese Mutationen, die sind in verschiedenen Stellen aufgetreten, da gibt es auch verschiedene solcher Punktmutationen die führten dann dazu, dass das Laktasegen nicht mehr abgeschaltet wird, also aktiv bleibt auch nach dem Stillen. Von diesen Mutationen kann man auf der ganzen Welt ganze Reihe verschiedener Nachweisen, die immer korrelierten mit der Milchviehhaltung. Und diese Mutationen führten dann dazu, dass die Laktase das Leben lang aktiv bleibt, im Dünndarm also auch immer erwachsenen Alter, die Laktose verstoffwechseln werden konnte und so kam es dann zu dem, was man heute als Laktose, Entschuldigung, als Laktase Persistenz bezeichnet. Und diese Mutation hat sich dann sehr schnell durchgesetzt, letztlich als Folge der kulturellen Errungenschaft der Landwirtschaft.
Jule Wäntig: Als ich in dem Museum war, in Südtirol, wo diese Eismumie Ötzi ausgestellt ist, habe ich dort erfahren, dass er tatsächlich auch Laktose intolerant war. Der ist so vor rund 5000 Jahren gestorben. Wovon hing es denn ab? Wer diese Mutation hatte und wer nicht?
Thomas Henle: Ja, das stimmt. Man hat tatsächlich nachgewiesen durch Genanalysen, dass dieser Ötzi Laktose intolerant war, also diese Mutation noch nicht hatte. Tatsächlich war es genau zu dieser Zeit, so vor rund 5000 Jahren, als sich diese Laktase Persistenz in Europa ausgebreitet hat. Und es hing sicherlich davon, wo man aufgewachsen ist. Also von der Gegend, in der es mehr Landwirtschaft betrieben wurde, da hat sich dann diese Laktase Persistenz schneller ausgebreitet und in Gegenden, wo vielleicht wenig Landwirtschaft betrieben wurde, wo man vielleicht doch noch mehr als Jäger und Sammeln unterwegs war. Da hat es dann in der entsprechenden Zeit gedauert. Und darum hat Ötzi gewissermaßen doch Laktose intolerant. Da gibt es Modellierungsstudien, die zeigen, dass es nur ganz wenige hundert Generationen gebraucht hat, bis sich so eine Laktase Persistenz dann durchgesetzt hat. Das ging in Mitteleuropa und in manchen Gebirgsregionen dann vielleicht ein bisschen langsamer. Heute sind in Europa fast alle Menschen Laktose tolerant. Wir sind also alles, wenn man jetzt so sagen darf, Mutanten. Wir alle haben diese Mutation in der Nähe des Laktasegens und können eben die Laktose unser ganzes Leben lang verstoffwechseln. Da sind einige Regionen der Welt ganz anders, zum Beispiel vor allen Dingen natürlich in Asien, wo der größte Teil der Bevölkerung Laktose intolerant ist. Vermutlich deshalb, weil dort die Milchviehhaltung und die Milcherzeugung wesentlich später begannen, als beispielsweise in Europa.
Peer Kittel: Jetzt sind ja die Laktose-freien Milchprodukte trotzdem sehr gefragt gerade. Was steckt in da Lebensmittelchemisch überhaupt dahinter?
Thomas Henle: Ja, das stimmt. Solche Laktose-freien Milchprodukte sind in der Tat wirtschaftlich von ganz großer Bedeutung, aber sie kontinuierlich den Anstieg im Umsatz. Kommerziell am wichtigsten ist da die Laktose-freien Milch. Da findet man tatsächlich dann diese Auslobung laktosefrei drauf und die finden wir aber auch noch bei vielen anderen Produkten, bei zum Beispiel Joghurt oder Buttermilch, auch bei Käse, bei Käseerzeugnissen und so weiter. Es gibt dann einen Grenzwert, wenn wir es jetzt ein bisschen lebensmittelchemisch diskutieren darf, es gibt dann den Grenzwert eingehalten werden muss, und zwar maximal 0,1 Gramm Laktose pro 100 Gramm. Dann dürfen diese Produkte, diese Molkerei-Produkte erst laktosefrei bezeichnet werden. Das sind nämlich dann die Menge an Laktose, die man auch mit einer Laktose-Intoleranz noch einigermaßen problemlos vertragen darf. Vertragen kann. Es gibt noch andere Produkte, da schreibt man auch mal mit drauf Laktosefrei, zum Beispiel Wurstwaren, Schokolade, auch Backwaren und so weiter. Da gilt diesen Grenzwert nicht, aber die Hersteller halten sich auch meistens noch dran. Ja, hergestellt werden diese Produkte so, vor allen Dingen jetzt ausgehend von der Milch, dass die Laktose mithilfe eines Enzyms gespalten wird. Dieses Enzym heißt Laktase, wird aber jetzt nicht aus dem Menschen gewonnen, sondern das Stammt von Schimmelpilzen, und dieses Enzym macht genau das Gleiche, was das Enzym auch im Menschen macht. Es spaltet die Laktose in die beiden Zucker, Glucose und Galaktose. Man gibt das Enzym einfach dazu zu Milch, lässt das eine Zeit lang stehen, dann reagiert diese Laktase, zerlegt die Laktose in die Monosacharide, dann wird erhitzt und das Enzym so inaktiviert. Zunehmend werden auch Produkte mit Laktosefrei gekennzeichnet, die von Natur aus keine Laktose enthalten. Das müssen wir jetzt aus lebensmittelchemicher Sicht so ein bisschen kritisch vielleicht anmerken, weil es natürlich eine Welle ist oder ein großer Bedarf besteht an solchen laktosefreien Produkten, da gibt es dann auch verschiedene Schinken oder Brot oder irgendwie sowas. So was ist dann, wenn man da jetzt dann draufschreiben würde, laktosefrei, sowas wäre dann eine Werbung mit Selbstverständlichkeiten, was eigentlich nicht erlaubt ist, aber wenn man es dann kleinst ein bisschen relativiert, so im Sinne von von Natur aus laktosefrei, dann darf man es wieder draufschreiben. Also hier ist die lebensmittelrechtliche Diskussion noch so ein bisschen im Gange, wie man mit solchen Produkten umgeht.
Jule Wäntig: Und wie ist das mit Milchalternativen?
Thomas Henle:Also Milchalternativen boomen natürlich auch. Ich glaube, da müssen wir auch wirklich mal eine extra Folge dazu machen, also solche pflanzlichen Milchersatzprodukte wie z.B. Hafer oder Mandeldrinks, die enthalten keine Laktose, sondern Sacharose, das sind die normalen Haushaltszucker oder Stärkeabbauprodukte, also Maltose oder irgendwie sowas, haben also keine Laktose, wenn man so will, von Natur aus, obwohl das natürlich keine reinen Naturprodukte sind, sondern auch industriell hergestellte Produkte sind. Aber wie gesagt, da machen wir eine extra Folge über diese Produkte. Sie sind auf jeden Fall für Menschen mit einer Laktoseintoleranz problemlos verträglich.
Jule Wäntig: Und wie erkennt man eine Laktose Unverträglichkeit und was kann man machen, wenn man trotzdem nicht auf Milch, Käse und auf Eis verzichten möchte?
Thomas Henle: Ja, das ist eine gute Frage, Jule, denn die Schätzungen, wie viele Menschen in Deutschland Laktoseintoleranz sind, die schwanken ziemlich. Manche sprechen vor 5%, manche sprechen von bis zu 20% der Bevölkerung. Also diese Zahlen muss man wirklich ein bisschen mit Vorsicht genießen, auch ohne dass wir jetzt zu sehr in die medizinische Bereiche abdriften. Es gibt auch verschiedene Formen der Laktoseintoleranz. Es gibt eine primäre Laktoseintoleranz, da kann man die Laktose von Geburt an nicht verwerten, die ist sehr, sehr selten. Es gibt eine sekundäre Laktoseintoleranz, da kann man dann die Laktose nicht mehr verwerten, aufgrund von Erkrankungen im Darm. Also auch das muss man so ein bisschen unterscheiden. Und dazu kommt halt, dass viele Menschen im Alter, das geht so mit 50, 60 Jahren los, die Laktose ebenfalls immer schlechter verwerten können. Es liegt daran, dass dieses Laktasegen eben nicht mehr mit 3 oder 4 Jahren abgeschalten wird, sondern etwas später im Alter. Das ist etwas, was man seit immer wusste und ältere Menschen früher, wenn ich so sagen darf, dann einfach aufgehört haben, Milch zu trinken oder weniger Milch zu trinken. Und heute besteht halt so ein Leidensdruck, der aus verschiedenen Gründen vielleicht erklärbar ist, natürlich nicht zuletzt auch durch die öffentliche Berichterstattung, durch Werbemaßnahmen der Industrie. Ich möchte gar nicht unter den Teppich kehren und dadurch entsteht natürlich so ein gewisser Druck und es werden dann entsprechende Symptome in der Laktoseintoleranz vielleicht stärker wahrgenommen als früher. Es besteht so eine generelle Angst vor Lebens- und Unverträglichkeiten. Es gibt eine erhebliche psychosomatische Komponente. Es ist ein sehr komplexes Thema, was dazu führt, um es auf den Punkt zu bringen, dass sehr viele Menschen dann die Symptome vielleicht ernster wahrnehmen, als sie vielleicht wirklich sind. So die Symptome beruhen jetzt darauf, dass die Laktose im Dünndarm nicht gespalten wird, wie wir gerade gesagt haben, in den Dickdarm gelangen und dort dann von den Bakterien verstoffwechselt werden. Jetzt kommen wir zu zwei Sachen zusammen. Einmal ganz wie Zucker im Dickdarm, unserem anderen die Aktivität der Bakterien, die produzieren Kohlendioxid und Methan und es führt dann dazu, dass Wasser zusätzlich in den Dickdarm hineinströmt, man bekommt Blähungen, ein Völlegefühl, Durchfall und ähnliche Symptome. Das hört dann in der Regel nach relativ kurzer Zeit wieder auf und alles ist gut und früher hätte man dann gesagt, er hat dann trink halt keine Milch mehr. Ja und heute, wie oben beschrieben, ich überspitze jetzt so ein bisschen, möchte man halt eine medizinische Diagnose dafür. Man muss natürlich immer abklären, das muss man bei der Gelegenheit schon betonen, dass man auch klären muss, ob eine ernsthafte Grunderkrankung dahinter steckt, was vielleicht jetzt die Laktose intolerant nur zu einem Symptom gewissermaßen macht. Aber generell muss man, man kann das auch analysieren beispielsweise dann durch Atemanalysen und ähnlichen, also man muss tatsächlich dann das schon ernst nehmen, aber möglicherweise auch so ein bisschen Leben zu lernen mit den entsprechenden Symptomen.
Jule Wäntig: Und gibt es da jetzt Medikamente dagegen?
Thomas Henle: Ja, das gibt es, es gibt Laktasepräparate, also quasi das Enzymen, was man dann vor dem Essen oder vor dem Trinken von Milch oder Milchprodukten nehmen soll einige Zeit vorher und was dann im Dünndarm die Laktose abbauen soll. Die Wirksamkeit dieser Präparate ist aber wirklich sehr, sehr umstritten.
Peer Kittel: Ja Thomas, in unserer heutigen Ernährung spielen Milchprodukte und vor allem ja auch kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Nudeln oder Brot eine große Rolle. Diese Lebensmittel kannten unsere Vorfahren in der Steinzeit ja noch nicht. Nun hört man immer mal wieder, dass diese modernen Lebensmittel für uns auf Dauer eigentlich nicht so gesund sein sollen, weil wir genetisch gewissermaßen ja noch Steinzeit Menschen sind und damit dann eben gar nicht so gut angepasst sind an die heutige Nahrungsversorgung. Damit werden ja dann auch zahlreiche ernährungsbedingte Probleme, also vor allem Adipositas und damit verbundene Folgeerkrankungen erklärt. Ist das wissenschaftlich korrekt und direkt gefragt, wäre ein Essen wie in der Steinzeit dann die Lösung für die heutigen Ernährungsprobleme?
Thomas Henle: Also vielleicht zur einleitenden Frage ist in der Tat so, dass wir einen sehr hohen Anteil an Kohlenhydraten in unserer Ernährung haben. Allerdings macht es die Menge und nicht die Art der Lebensmittel aus. Ich denke, das ist immer das Entscheidende, wenn man so den Aspekt Nahrungszufuhr diskutiert. Wenn man jetzt tatsächlich auf diese Paleo Ernährung, also dieses Essen wie in der Steinzeit, fokussiert, dann hat man tatsächlich seit einigen Jahren oder mittlerweile schon fast Jahrzehnten diskutiert, ob es vielleicht sinnvoll wäre, sich so zu ernähren wie zu Zeiten des Paläolithikums, also wie in der Altsteinzeit. Und das geht dann zurück auf einige Studien, die so in den 1950er Jahren bereits bzw. Hypothesen in den 1950er Jahren bereits aufgestellt wurden. Und die Grundidee der Anhänger dieser Paleo Ernährung ist dann, dass sich ja die Gene des Menschen an die Ernährung der Steinzeit angepasst haben und damit seit Jahrtausend oder seit Jahrzehntausend unverändert sind und dass diese heutige Ernährung praktisch nicht zu unseren Genen passt. Also vor allen Dingen der hohe Anteil an Kohlenhydraten, an Getreide, an Hülsenfrüchten, Zucker oder Milch oder Milchprodukten, also alles das, was es in der Steinzeit nicht gegeben hat, das wird dann argumentiert, dass man heute eher das wieder essen soll, was es in der Steinzeit gegeben hat, also vor allen Dingen Fleisch und Fisch, Meeresfrüchte, Gemüse, Obst und Nüsse und auf alle anderen Lebensmittel soll verzichtet werden. So, da gibt es durchaus Studien, die dann nachweisen wollten, ob so eine doch sehr radikale Ernährungsform sich positiv auswirkt und tatsächlich fand man gewisse positive Effekte, die in der Regel dann mit einem anfänglichen Gewichtsverlust zusammenhängen. Also wenn man tatsächlich seine Ernährung auf sowas umstellt, dann wird man am Anfang vermutlich etwas Gewicht verlieren und damit natürlich dann unter Umständen gewisse positive Effekte nach sich ziehen. Tatsächlich hat sich das aber dann auch das Gewicht nach einer Zeit wieder eingeregelt. Man findet auf der Seite, auf den Seiten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung eine sehr, sehr gute Diskussion. Wir werden da auch den Link auf die Homepage setzen, wo man dann sehr gut sich informieren kann über diese Paleo Ernährung und das Fazit ist, wenn man es auf den Punkt bringt, dass die deutsche Gesellschaft für Ernährung sagt und das ist sicherlich auch richtig, dass der mit dieser Paleo Ernährung einhergehende hohe Verzehren tierischen Lebenswillen, also vor allen Dingen von Fleisch und von Fisch, sowohl aus Gesundheit als auch aus Nachhaltigkeitsaspekt natürlich kritisch ist und vor allen Dingen der vollständige Verzicht auf Lebensmittel, wie Getreide oder von Hülsenfrüchten, dann auch zu gewissermaßen Nährstoffproblemen führen könnte, zu wenig Ballaststoffe, zu wenig B-Vitamine, Milchprodukte, so man ja auch meiden bei der Paleo Ernährung. Die sind aber eine wichtige Kette für Calcium, für Riboflavin, für Jod. Also unter Umständen kann dann damit eine Paleo Ernährung auch zu einem Nährstoffmangel führen, die aber wichtigste Kritik für mich jetzt aus lebensmittelwissenschaftlicher und vielleicht so aus Evolutionssicht ist, es gibt eigentlich nicht die Steinzeiternährung. Tatsächlich, wenn man heutige Jäger-Sammlerkulturen anguckt, da gibt es noch einige ganz wenige Völker gewissermaßen, die sich ernähren, wenn man so will fast wie in der Steinzeit, dann sieht man, dass es da Bevölkerungsgruppen gibt, die fast nur Fleisch essen und es gibt auf der anderen Seite Bevölkerungsgruppen, die fast nur pflanzliche Ernährung zu sich nehmen. Also die Steinzeiternährung gibt es nicht und zudem, und das haben wir ja versucht darzustellen, ist die genetische Ausstattung des Menschen keineswegs unverändert seit der Steinzeit.
Peer Kittel: Das heißt, um das kurz und knapp zu fassen, das fasst schon ein bisschen ärgerlich, weil sich das so durch die ersten Folgen auch das Podcast durchzieht, hat dann doch wieder eher was mit der Menge zu tun und vielleicht auch so ein bisschen mit den konkreten Voraussetzungen, die da biologisch da sind und nicht so sehr mit der Zusammensetzung unserer Nahrung.
Thomas Henle: Ja, ganz genau. Das Erfolgsmodell Mensch, wenn man es mir so aus evolutionsbiologischer Sicht diskutieren kann oder darstellen kann, ist, dass die Menschen keine Nahrungsspezialisten sind, sondern Nahrungsgeneralisten. Das heißt, wir brauchen eigentlich keine speziell zusammengesetzte Diät. Der große Überlebensvorteil von unseren Vorfahren bestand vielmehr darin, dass wir immer alles das gegessen haben und auch essen konnten, was wir in unserer Umgebung vorgefunden haben. Genau deshalb konnte sich Homo Sapiens ja praktisch über die ganze Welt ausbreiten. Das heißt, wir sind die einzige Tierart, die es auf der ganzen Welt gibt und zwar deshalb, weil wir uns permanent an die große Zahl der unterschiedlichsten Ernährungsformen anpassen konnten, soweit natürlich ein gewisser Bedarf an Grundnährstoffen gedeckt war. Woran wir uns aber tatsächlich angepasst haben, das sind Hungerphasen. Das heißt, unsere Gene, das kann man vielleicht schon so ein bisschen auf den Punkt bringen, unsere Gene sind eigentlich so gestaltet, dass wir früher einen sehr hohen Kalorienverbrauch hatten, aufgrund unserer körperlichen Betätigung. Unser Körper dann so konstruiert ist, dass er in Zeiten, in denen wir viel zu essen haben, dieses Essen sehr gut abspeichert. Eben für die nächsten Hungerphasen, weil die ja letztlich immer und immer wieder kamen. Das heißt, wir lagern sehr leicht Fettreserven an für die nächste Mangelzeit. Und das zeichnet auch das Erfolgsmodell Mensch eben aus, dass er in der Lage ist, sehr gut solche Hungerphasen zu überstehen. Heute ist aber Essen halt immer und glücklicherweise natürlich permanent verfügbar. Das ist das einzige, was unsere Gene vielleicht damit dann definieren, ist, dass wir heute leider oft zu viel essen. Und das ist vielleicht das zentrale Problem, aber ich glaube, das diskutieren wir mal in einer anderen Folge.
Jule Wäntig: Na dann jetzt zum Abschluss konkret. Was sollten wir denn essen oder wie sollten wir uns ernähren?
Thomas Henle: Oh Jule, da müssen wir noch mal wirklich zwei Stunden drüber reden. Können wir auch gerne, aber ich glaube, da machen wir wirklich mal eine extra Folge über diese Frage. Was ist denn jetzt gesunde Ernährung oder gibt es überhaupt eine gesunde Ernährung? Ich würde vielleicht so im Plan ein bisschen provokativ, wenn ich darf, gerade vor dieser Diskussion, die wir jetzt zum Thema Evolution und Ernährung hatten, behaupten, dass es die gesunde Ernährung überhaupt nicht gibt. Wir Menschen sind Nahrungsgeneralisten und in einem übertragenen Sinne kann man daraus ableiten, dass wir eigentlich alles essen können, was uns schmeckt, solange wir auf der einen Seite unseren Energie-, unseren Nährstoffbedarf abdecken und auf der anderen Seite halt nicht zu viel essen. Mit anderen Worten, solange es uns gut geht, solange wir uns gut fühlen, solange wir uns mit anderen austauschen und idealerweise vor dem Essen keine Angst haben, können wir eigentlich essen, was wir wollen. Es gibt nämlich keine gesunden oder ungesunden Lebensmittel. Das lehrt uns letztlich die Evolution und wir haben es damit vielleicht unseren Vorfahren zu verdanken, dass wir uns jetzt heute das Essen viel mehr sein kann als nur ernähren.
Peer Kittel: Lieber Thomas, lieber Jule, wie immer. Vielen Dank. Wir haben heute erfahren, dass wir Menschen einen Überlebensvorteil besitzen, weil wir an keine spezifische Ernährung angepasst sind und dass Kulturtechniken wie Ackerbau und Viehzucht und die daraus resultierende Ernährung die Evolution des Menschen maßgeblich beeinflusst haben. Essen ist viel mehr als Nährstoffaufnahme und ein gesundes Essen ist mehr als ein bloßes Abdecken der Nährstoffbedürfnisse. Ob es wirklich die absolut gesunde Ernährung gibt, wird derzeit heiß in der Fachwelt diskutiert und Thomas hat es ja schon angesprochen. Da werden wir vielleicht in der einen und anderen Folge noch mal ein bisschen näher darauf eingehen. Ja und wenn auch Sie Ihren Wissensbedarf mit unserem Podcast abdecken möchten, hören Sie auch unsere weiteren Folgen. Food Facts gibt es immer am 24. jedes Monats auf der Webseite der TU Dresden und überall da wo es Podcasts gibt. Wenn Sie Themenwünsche rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie und Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de. Das war Food Facts, der Lebensmittelchemie Podcast der TU Dresden. Bis zum nächsten Mal.
- Getreideanbau, Stärke und Evolution der Amylase
- Janiak E.C. Evolution: Of starch and spit. eLife, 2019,
- Perry G.H. et al., Diet and the evolution of human amylase gene copy number variation. Nature Genetics, 2007, 39, 1256–1260.
- Axelsson E. et al., The genomic signature of dog domestication reveals adaptation to a starch-rich diet. Nature, 2013, 495, 360–364.
- Höffeler F., Geschichte und Evolution der Lactose(in)toleranz. Das Erbe der frühen Viehzüchter. Biol. Unserer Zeit 2009, 39, 378-387,
- Itan, Y. et al., The Origins of Lactase Persistence in PLoS Comput. Biol. 2009, 5, e1000491.
- Deutsche Gesellschaft für Ernährung zur “Steinzeiternährung“
Folge 7: Ernährung und Evolution, Teil 1: Hat uns das Kochen zum modernen Menschen gemacht?
Welche Rolle spielt Ernährung auf die menschliche Evolution? Einfache Antwort: eine äußerst große! Daher haben wir der Beantwortung dieser Frage auch zwei Folgen unseres Podcasts gewidmet. Die erste Folge handelt von dem entscheidenden Überlebensvorteil, den unsere frühen Vorfahren durch die Kontrolle des Feuers und das anschließende Erhitzen von Lebensmitteln erlangten. Wer hätte gedacht, dass erhitzte Lebensmittel die Grundlage für das Wachstum des menschlichen Gehirns waren? Diesen und viele weitere evolutionäre Entwicklungsschritte, die durch die Ernährung ausgelöst wurden, diskutieren Moderator Peer Kittel und Studentin Jule Wäntig mit unserem Experten, dem Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle.
Intro Musik
Peer Kittel: Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden, Essen und Evolution. In unserer heutigen Folge klären wir die Frage, ob das Kochen einen maßgeblichen Einfluss auf die menschliche Entwicklung hatte.
Intro Musik
Peer Kittel: Ja Herzlich Willkommen!
Sicher machen Sie sich manchmal auch Gedanken darüber, inwiefern uns unsere Ernährung beeinflusst, Gesundheit, Wohlbefinden und ein langes Leben.
All das wird uns durch eine ausgewogene Ernährung versprochen.
Aber war das schon immer so und welche Rolle spielt Ernährung in der menschlichen Evolution? In den nächsten zwei Folgen unseres Podcasts wollen wir uns diesem Themenkomplex widmen und fangen heute sozusagen fast bei der Ur-Suppe an.
Unser Experte Thomas Henle von der TU Dresden wird uns erzählen, welche besondere Rolle Feuer dabei einnimmt und die Frage klären, ob Kochen einen maßgeblichen Einfluss auf die menschliche Entwicklung hatte.
Mit dabei ist wie immer Studentin Jule Wäntig und ich Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Insofern, ihr kennt es schon, hallo Jule, hallo Thomas.
Thomas Henle: Hallo Peer, Hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo.
Peer Kittel: Thomas, fangen wir mal ganz grundlegend an. Was bedeutet denn eigentlich der große Begriff Evolution und inwiefern können da Lebensmittel eine Rolle spielen?
Thomas Henle: Also dieses für die Biologie ganz fundamentale Prinzip der Evolution, es geht zurück auf die britischen Naturforscher Charles Darwin, den jeder kennt natürlich und Alfred Wallis, den man vielleicht nicht so kennt. Evolution ist letztlich die allmähliche Veränderung von Organismen, genauer von bestimmten Merkmalen
oder Eigenschaften dieser Organismen von Generation zu Generation.
Das heißt, es wird etwas vererbt und solche Veränderungen passieren dann letztlich immer wieder, mehr oder weniger aus Zufall und ganz entscheidend ist jetzt, ob es bestimmte Merkmale gibt, die zu einer besseren Amtpassung an die Umwelt führen und damit zu einer besseren Fortpflanzungsfähigkeit und damit zu einer besseren Überlebensfähigkeit der Spezies. Und wenn sich dann sowas im Laufe der Zeit durchsetzt, dann spricht man eben von Evolution. Entscheidend ist dann noch die Selektion, ein ganz wichtiges Prinzip in diesem Evolutionsgeschehen. Selektion, was man als natürliche Auslese übersetzen kann. Das hat Darwin bezugnehmend auf den Philosophen namens Herbert Spencer als Survival of the fittest bezeichnet. Wohlgemerkt aber jetzt nicht überlebendes Stärkeren, sondern das Fitteren, also das besser an die Umwelt angepassten.
So und Lebensmittel, Nahrung ist natürlich jetzt auch ein wichtiger Umweltfaktor und
damit spielt die Verfügbarkeit von Nahrung, die Zusammensetzung von Lebensmitteln natürlich ganz entscheidend auch eine Rolle als Einflussfaktor für die Evolution.
Jule Wäntig: Aber jetzt am Anfang noch mal ganz konkret nachgefragt, wie also in welchem Zeitraum und voraus hat sich der Mensch denn entwickelt?
Thomas Henle: Die Menschen, also die Art Homo sapiens gehört zur Familie der Menschenaffen, die bezeichnet man auf latinisch Hominidae und da gibt es noch eine Unterfamilie und da gehört, da können dann die Menschen zusammen mit den Gorillas und den Schimpansen zu den Hominidä.
So, jetzt haben wir es richtig eingeordnet, die nächsten Verwandten von den Menschen
sind also die Schimpansen und letztlich hat Mensch und Schimpanse damit gemeinsame Vorfahren. Die lebten so bis vor circa 6 Millionen Jahren und dann kam es evolutionär zu einer Trennung der Acht. Eben einmal in die Linie der Schimpansen, dann in der Entwicklungslinie der Menschen. Also man kann sagen, die Menschheitsentwicklung begann vor rund 6 Millionen Jahren und ging dann über verschiedene Bezeichnisse tatsächlich in der Biologie so als Ur-Menschen und dann als Frühmenschen zum heutigen anatomisch modernen Menschen, also Homo sapiens. Homo sapiens entstand, wenn man so den Theorien folgt, so vor rund 200 bis 300 Tausend Jahren und vermutet den Ursprung in Afrika, an verschiedenen Stellen in Afrika ist es passiert und was dann super spannend ist, wie ich zumindest finde, ist, dass dann von Afrika ausgehend vor rund 100.000 Jahren der Mensch ganz die ganze Welt besiedelt hat, die Paleoantopologie
spricht da von der Out-of-Afrika-Hypothese, also die Besiedelung ging dann relativ schnell,
es dauerte dann vielleicht so rund 50.000 Jahre und seit etwa 40 bis 50.000 Jahren lebt
im Homo sapiens praktisch überall auf der Welt.
Was ich an dieser Out-of-Afrika, an dieser biologischen Tatsache so spannend finde, ist,
dass gerade in der heutigen Zeit, wo eben so ganz viele auch politische Kreise, wie also
von ganz absurden völkischen Theorien oder rassistischen Quatsch, schwarfeln, da können wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlerinnen immer sagen, es gibt nur eine Art Mensch und wir alle stammen aus Afrika.
Peer Kittel: Vielleicht nochmal zurück auf den Schimpansen und die Nähe zum Menschen, die soll ja dann doch relativ eng sein, tatsächlich reden wir sogar über 98% der Gene, die da übereinstimmen. Kann man da jetzt durch den Vergleich von Schimpansen und Mensch Unterschiede erkennen, die direkt mit dem Essen zu tun haben, also was essen denn Schimpansen und ist das dann grundsätzlich anders als beim Menschen, also genauer natürlich beim Menschen von vor 100.000 Jahren?
Thomas Henle: Ja, da gibt es in der Tat recht viel eindeutig mit der ernährungsweise zusammenhängendeanatomische Unterschiede zwischen Mensch und Schimpanse.
Es beginnt gewissermaßen schon mit der Nahrungsaufnahme, also mit den Zähnen und dem Kiefergelenk.
Schimpansen haben ein deutlich kräftigeres Gebiss, die haben größere Zähne, stärkere
Kiefermuskeln, was schon darauf hindeutet, dass die Nahrung der Schimpansen deutlich
fester und härter war, während beim Menschen eben die Nahrungsmittel weicher, leichter kaubar waren. Interessant wird es dann beim Verdauungstrakt.
Menschen haben insgesamt einen deutlich kleineren gastrointestinal Trakt als die Schimpansen, das ist so rund nur etwa die Hälfte groß.
Der menschliche gastrointestinal Trakt ist dann auch anders aufgebaut, der Magen ist noch in etwa so groß wie beim Schimpansen, aber der große Unterschied ist dann der Dünndarm, der ist relativ gesehen deutlich größer beim Menschen und dafür ist dann der Dickdarm viel viel kleiner als bei den Schimpansen.
Der Blinddarm ist dann praktisch gar nicht mehr vorhanden und es zeigt dann ganz eindeutig, dass bei den Schimpansen der große Dickdarm vor allen Dingen für die Verwertung von Pflanzenfasern zuständig ist, durch die dort lebenden Bakterien und es beweist auch wieder eindeutig, dass die Menschen, keine reinen Pflanzenesser
sind, sondern alles essen, omnivoren, also ganz maßgeblich auch auf tierische proteinreiche Nahrung angewiesen sind, während sich Schimpansen überwiegend von pflanzlicher Nahrung ernähren, so im Verlauf der Evolution kann man dann so sagen, ist der Verdauungstrakt des Menschen deutlich kleiner geworden, eben weil die Nahrung inhaltstoffreicher wurde, also keinen großen Verdauungsdarkt mehr braucht und parallel dazu ist dann das Gehirn gewachsen, also weil der Verdauungstrakt geschrumpft ist, konnte das Gehirn wachsen.
Jule Wäntig: Aber das Gehirn macht doch nur so anderthalb Kilo vom gesamten Körpergewicht aus, wieso muss denn da so ein großes Organ wie der Darm schrumpfen, damit das Gehirn wachsen kann?
Thomas Henle: Ja, das Gehirn ist in der Tat mengenmäßig gar nicht so groß, es wiegt beim Menschen so rund eineinhalb Kilogramm, es braucht aber wahnsinnig viel Energie, es ist ein sehr energiehungriges Organ, also es macht rund zwei Prozent der Körpermasse aus, braucht aber rund ein Fünftel bis ein Sechstel der gesamten Energie und der Mensch hat, wenn man dann Vergleiche anstellt im Vergleich zu allen Säugetieren, bezogen auf die Körpergröße des größte Gehirn.
Beim Schimpansen wiegt das Gehirn, obwohl Schimpansen ungefähr ja fast so groß sind
wie Menschen, wiegt das Gehirn bei Schimpansen da rund 400 Gramm.
Interessant ist da jetzt eine Hypothese, die aufgestellt wurde, so Ende 1999 Jahre, das
waren zwei Wissenschaftlerinnen namens Aiello und Rila von der Universität of Chicago
und hier haben wir eine sogenannte Expensive Tissue Hypothesis entwickelt. Auf Deutsch heißt das sowas wie die Hypothese der aufwendigen Körpergewebe und die haben
ihm erläutert und auch sehr gut beweisen können, dass in der Evolution, wenn der Energieverbrauch gleich bleibt, dann kann ein Gehirnwachs nur dann stattfinden und auf der anderen Seite andere Energie auf wenige Organe schrumpfen und das war eben der Verdauungstrakt, also wenn die gesamte Energie zuvor gleich bleibt und das Gehirn wachsen muss, dann muss der Verdauungstrakt schrumpfen und jetzt kommt der Bezug zu den Lebensmitteln, es braucht dann bessere, hochwertigere, besser ausnutzbare Nahrung.
Peer Kittel: Genau aus der Perspektive kann man ja dann also schon feststellen, dass der Mensch sich durch das Thema Nahrung auch verändert hat, sich da angepasst hat.
Wie ging es denn dann evolutionsgeschichtlich weiter?
Thomas Henle: Also bezugbar auf die Ernährung gab es zwei so ganz entscheidende Ereignisse oder mal vielleicht Errungenschaften in der Evolution des Menschen und zwar doch das eine, das Essen von Fleisch, unsere frühen Vorfahren, die waren also ganz frühen Vorfahren, die waren eben so wie heute die Schimpansen reine oder durch weitgehende Pflanzenesser, also Wurzeln, Früchte, Nüsse und sowas und man geht jetzt heute davon aus, dass die frühen Menschen Arten so vor rund zweieinhalb Millionen Jahren begonnen haben, zusätzlich Fleisch zu essen.
Das konnte man anhand von Knochenfunden, von Steinwerkzeugen und auch durch die Analyse von Zähnen nachweisen. Fleisch ist jetzt sehr proteinreich, sehr fettreich, hat eine hohe Nährstoffdichte, hochwertiges Eiweiß, viele essenzieller Minusäuren, auch viel Eisen, viel Vitamin B12 und so weiter und das war natürlich jetzt diese hochwertige Nahrungszufuhr, ein ganz zentraler Vorteil gegenüber dem rein pflanzlichen Essen.
So, man hat diese Errungenschaft dann ganz lange, viele Jahre als ganz zentralen Entwicklungsschritt in der Rumanevolution bewertet und muss dazu sagen, dass es in jüngerer Zeit so ein bisschen eine Diskussion ist, aber nach wie vor sicherlich sehr viele Belege dafür sprechen. Noch viel wichtiger für die Menschheitswerdung war dann die Entdeckung des Feuers und war die Kontrolle des Feuers.
Vermutlich waren es direkte Vorfahren von uns, die hießen Homo erectus und die waren, so gibt es zumindest wissenschaftliche Befunde dafür, bereits so vor rund 1,5 bis 1,9 Millionen Jahre in der Lage, die Feuer zu kontrollieren und natürlich damit auch Lebensmittel zu erhitzen. Also das gejagte Wild, wenn man so will zu braten, auch deshalb man durch Knochenfunde in so alten Feuerstellen nachweisen können.
Also die Kontrolle des Feuers ging vermutlich damit unmittelbar einher mit der Entdeckung des Kochens und des Bratens von Lebensmitteln.
Peer Kittel: Vielleicht vertief man das noch ein bisschen, welche direkten Konsequenzen hatte denn dann das Erhitzen von Lebensmitteln.
Also gab es da direkte Auswirkungen zum Beispiel bezüglich der Physiologie im Menschen und damit ja dann letztlich auch für die Evolution?
Thomas Henle: Also da gibt es in der Tat eine weitere spannende Hypothese, die Cooking Hypothesis, die Koch-Hypothese, die wurde von einem britischen Anthropologen namens Richard Vranham Anfang der 2000er Jahre formuliert und zwar sagt er das von besonderer Bedeutung aus Lebensmittelwissenschaftlichersicht zunächst ist, dass erhitzte Lebensmittel eine höhere Energiedichte haben. Die sind besser verdaubar, der Körper kann die besser verwerten, das kennt jeder aus eigener Erfahrung, wenn man zum Beispiel einen Rinderbraten denkt und auf der anderen Seite ist rohe Fleisch
oder gekochte Kartoffeln oder rohe Kartoffeln sind durch die gekochten Lebensmittel immer besser aufnehmbar, besser kaubar, besser dann auch energetisch verfügbar.
Durch die Denaturierung der Proteine, durch die Denaturierung der Stärke werden Inhaltsstoffe leicht abbaubar und es führt dann dem Körper bei gleicher Menge an Lebensmittel mehr Energie zu. Und das wiederum hat zur Folge, dass die eigentliche Verdauung, die ja wie wir vorhin gesagt haben, sehr viel Energie braucht, erheblich erleichtert wird, beschleunigt wird und unser Darm kann damit kleiner werden.
Super spannend wird es dann, wenn man das noch weiter diskutiert, diese gekochten Lebensmittel sind wirklich weicher, man braucht also keine so großen Zähne oder vielleicht gar keine Zähne mehr, das heißt man konnte dann auch im hohen Alter vielleicht sogar ohne Zähne noch was essen, was wiederum die Überlebensfähigkeit verbessert hat und dann führt natürlich das Kochen auch dazu, dass Giftstoffe abgetötet werden, dass Bakterien abgetötet werden, dass bestimmte Giftstoffe inaktiviert werden, man kann die Länge aufbewahren und auch das ist ein entscheidender Überlebensfaktor und die vielleicht faszinierende Überlegung dabei ist, dass man dann, wenn man dann, wenn eben nicht mehr so viel Zeit zum Kaun braucht, viel Zeit für was anderes hat.
Schimpansen zum Beispiel, Kaun pro Tag acht Stunden an ihren Blättern und an den Nüssen und so weiter und die Menschen kaun vielleicht nur noch mehr überhaupt, das ist das eigene Erfahrung eine Stunde, maximal vielleicht mehr zwei Stunden am Tag und das heißt jetzt, dass unsere Vorfahren sehr viel Zeit gewonnen haben, die sie nicht mehr für die Nahrungsbeschaffung brauchten, sondern anderweitig nutzen konnten für das soziale Miteinander, für kulturelle Entwicklungen, für Erfindungen und so weiter. Also wenn man so will, war das Kochen damit sowohl aus evolutionärer wie auch aus kultureller Sicht der Startschuss für die Entwicklung der heutigen modernen Menschheit.
Jule Wäntig: Da ich gerade mit im Umzug bin und keine Küche habe, wird es mich schon interessieren, ob es experimentelle Belege dafür gibt, dass gekochtes Essen im Vergleich zur Rohkost gesünder oder vorteilhafter für den Menschen ist.
Thomas Henle: Also solche Belege gab es schon längere Zeit, es kam auch im
Labor relativ einfach Untersuchungen, indem man zum Beispiel Stärke nimmt und eine erhitzt und eine unerhitzt, dann untersucht hinsichtlich des Abbaus durch bestimmte Enzyme. Da wusste man das schon sehr lange, dass solche denaturierte Stärke leichter abbaubau ist, man weiß es auch von Milch zum Beispiel, dass in der H-Milch die Proteine etwas besser abbaubau sind als aus der Rohmilch zum Beispiel, aber ganz konkrete Belege und wie ich wiederum finde, sehr, sehr eindrucksvolle Bestätigung dieser Kochhypothese. Die hat man dann aus lebensmittelwissenschaftlicher Sicht gewonnen
in der sogenannten Gießener Rohkoststudie. Das ist bei den Lebensbild- und Ernährungswissenschaften eine ganz wichtige Studie, die man in den 1990er Jahren durchgeführt hat, 1996 genau. Das hat man hier rund 200 Leute, die sich ausschließlich über Rohkost ernährten, ein Jahr lang untersucht, und zwar bezüglich Ernährungsverhalten, Gesundheitsstatus. Man hat ab und zu mehr Blutuntersuchungen gemacht, um die Nährstoffversorgung zu beurteilen usw. Und die Ergebnisse waren
dann ganz eindeutig. Diese Rohköstler waren insbesondere bei bestimmten Nährstoffen wie zum Beispiel Calcium, bei Vitamin D, bei Eisen, bei Vitamin B12 usw. deutlich unterversorgt und insbesondere durch den Eisenmangel litt dann ein ganz großer Teil der untersuchten Personen an einer Anämie, an der Blutarmut. Und was jetzt aus evolutionärer Sicht, wenn man so will, direkt relevant ist, dass ein Drittel der Frauen, der sich mit Rohkost ernährenden Frauen unter 45 Jahren keine Menstruation mehr hatten, also eine aménoröhe hatten. Und die Studienleiter folgten dann daraus ganz direkt, dass eine fast ausschließlich Rohkost Ernährung als gesundheitlicher Sicht definitiv nicht zu empfehlen ist. Und man findet natürlich jetzt damit auch in den direkten Bezug zur Evolutionen eben, wenn man so will, eine Verringerung der Fortpflanzungsfähigkeit. Und
es hat natürlich eine direkte evolutionäre Konsequenz.
Jule Wäntig: Ich habe vor kurzem auch eine Studie gelesen, dass auch die Primaten gekochtes Essen bevorzugen. Kannst du dazu was sagen? Also spielt auch der Geschmack vom gekochten Essen eine Rolle?
Thomas Henle: Der Geschmack spielt eine entscheidende Rolle und vor allen Dingen die Kauberkeit. Da gibt es in der Tat eine Studie, die der Originaltitel war Great Apes, Prefer, Cooked Foods, also Menschenaffen bevorzugenes gekochte Essen. Auch das ist aus dem
Team von Richard Rangham, die Studie ist von 2008. Und was die gemacht haben ist, sie haben Menschenaffen, Chimpansen, Orang-Utahans, Gorillas verschiedene Lebensmittel angeboten und zwar einem immer die Rohne und dann die gekochten im Vergleich. Und sie konnten also feststellen, dass fast alle gekochten Lebensmittel gegenüber den Rohne Lebensmitteln bevorzugt wurden. Und das interpretieren die dann tatsächlich als sowas wie eine, sagen wir mal innere Veranlagung oder eine innere Vorliebe bereits
der Menschenaffen für leicht zu kauende Lebensmittel. Also vor allem das kauende,
das leichtere Kauen haben die dann sehr schnell als sehr bequem empfunden und dann eben die gekochten Lebensmittel, den rohen Lebensmitteln vorgezogen. Ob der Geschmack da auch eine Rolle spielt, da waren sie sich ein bisschen unsicher, denn einige rohe Lebensmittel wurden dann gegenüber den gekochten doch wieder bevorzugt. Aber insgesamt kann man davon ausgehen, dass vor allen Dingen dann dieses Kochen von Lebensmitteln auf die Struktur sich auswirkt und es dann die entscheidende Bevorzugung nach sich zog.
Peer Kittel: Nun ist ja umgekehrt auch bekannt, dass beim Erhitzen von Lebensmitteln
durchaus auch schädliche Verbindungen entstehen können, zum Beispiel das Acrylamid. Deswegen sollte man ja zum Beispiel beim Grillen jetzt das Fleisch nicht zu dunkel werden lassen. Auch durch den Rauch stehen ja krebserregende Stoffe. Sprecht dieser negativen Aspekte nicht eigentlich irgendwie auch gegen einen evolutionären Vorteil des Kochen für die Menschheitsentwicklung?
Thomas Henle: Ja, das ist natürlich richtig. Also es ist in der Tat so, dass beim Braten, beim starken erhitzen von Lebensmitteln potentielle Giftstoffe entstehen, auch der Rauch selbst natürlich Giftstoffe enthält. Aber es ist immer so und wenn man so will, auch die Evolution macht so was wie eine Kosten-Nutzen-Rechnung, also eine Risk-Benefit-Abwägung und um es auf den Punkt zu bringen, der positive Effekt überwiegt vermutlich die Risiken. So ist es zum Beispiel so, dass man bislang noch keine eindeutigen Zusammenhänge hat zwischen Aquilamid und bestimmten Krebserkrankungen.
Man muss natürlich trotzdem die Verbindung so gering wie möglich halten, so minimieren wie möglich. Was aber super spannend ist wiederum ist, dass es Hinweise gibt, dass sich die Menschen auch tatsächlich molekularer an den Rauch angepasst haben. Es ist eine Studie, die 2016 publiziert wurde und da haben die Vorschriften eine Mutation identifiziert, die man nur bei modernen Menschen findet und nicht bei Neandertalern zum Beispiel, und zwar in einem bestimmten Rezeptor, ein Rezeptor der bestimmte Giftstoffe aus dem Rauch, sogenannte polyzyklische, traumatische Kohlenwasserstoffe, PAKs, so modifiziert, dass sie giftig werden. So und diese PAKs entstehen jetzt bei Verbrennungsprozessen, beim Grill und so weiter und der spannende Aspekt war jetzt
der, dass diese Mutation beim Menschen dazu führte, dass diese Giftstoffe in geringerem Umfang entstanden, also sprich sich damit vielleicht Homo sapiens durch diese Mutation im Vergleich zum Neandertaler etwas weniger empfindlich wurde gegenüber bestimmten Toxinen im Rauch. Aus evolutionärer Sicht hätten also damit dann zum Beispiel Menschen im Vergleich zu Neandertalern weniger Atemwegsprobleme durch die verbesserte Gesundheit, wieder eine verbesserte Fortpflanzungsfähigkeit und so weiter. Diese Forscher spekulieren dann sogar soweit, dass dieser beim Menschen mutierte
Rezeptor eine bessere Toleranz gegenüber Zigarettenrauch nach sich zog, was dann den Menschen zwar das Rauchung ermöglichte, sie aber damit natürlich auch dem Risiko von Krebs und anderen chronischen Krankheiten aussetzte.
Peer Kittel: Jetzt gibt es ja durchaus noch andere Gifte in Lebensmitteln und eines davon
erzeugte Mensch ja selbst, nämlich den Alkohol. Seit wann produziert der Mensch den Alkohol und haben wir uns daran dann auch angepasst?
Thomas Henle: Also die gezielte Herstellung von Wein und Bier,
also das Fermentieren von Traubensaft oder von Getreide, das hat man vermutlich so vor rund 8.000
Jahren erfunden, der Wein stammt aus der Gegend des heutigen Georgiens, des Bier aus Mesopotamien,
möglicherweise sind sie noch älter, gerade das Bierbrauen ist vielleicht noch älter, man spekuliert,
dass es vielleicht sogar bis auf 14.000 Jahre zurückgeht. Aus evolutionsbiologischer Sicht sind
natürlich da wesentlich längere Zeiträume relevant und man vermutet, dass die Verwertung oder die
Anpassung an die Verwertung von Alkohol, also von Ethanol, beim Menschen schon viel früher sich
entwickelt hat, und zwar vor rund 10 Millionen Jahren, also lange bevor Mensch und Schimpanze
sich quasi getrennt haben und tatsächlich verfügen ganz viele Tiere, Säugetiere, Vögel ja sogar
Insekten über Abbaumechanismen für Alkohol. Das ist das Enzymsystem der Alkohol, die Hydrogenasen.
Durch dieses System wird der Alkohol letztlich vom im Körper nicht nur entgiftet, sondern auch als
Energielieferant bereitgestellt. Alkohol ist also nicht nur ein Giftstoff, sondern wenn man so will,
auch ein Nährstoff. Und es liegt daran, dass Alkohol in der Natur eigentlich völlig ohne Zutun des
Menschen entsteht und zwar immer dann, wenn Obst überreif wird, verfault, da laufen Gärungsprozesse
ab, durch wilde Hefen und so weiter, also entstehen dann zum Teil ganz erstaunlich hohe Alkoholmengen,
Fruchtfliegen zum Beispiel, werden dadurch angezogen, auch Tiere in der Savanne, die werden
dann angezogen, durch diese überreifen Früchte, fressen die und ja, berauschen sich gezielt,
wenn man so will. Es gibt jetzt eine, die ist natürlich sehr, sehr umstritten, die Hypothese,
aber ganz interessant vielleicht, wonach Alkohol auch einen maßgeblichen Einfluss auf die
Evolution des Menschen gehabt haben soll. Man nennt es die Drunken Monkey Hypothesis, also die Hypothese
des besoffenen Affen, wenn man so will. Und zwar sagt die aus, dass die Anziehungskraft des
Menschen für Alkohol letztlich auf die Abhängigkeit unserer Primaten von Reifen und von gährenden
Obst zurückgeht. Die wussten, dass Reifes Obst eine tolle Nahrungsquelle ist, dass da sehr viel
Zucker drin ist, dass das sehr viel Energie liefert und dadurch fühlten sie sich durch Alkohol,
den man von Weitem schon riechen kann, gewissermaßen angezogen. Und die Hypothese sagt also jetzt,
dass diese einstige Anziehungskraft für diese vergorenen Früchte und der Konsum von Alkohol
dann in niedrigen Ursachen, heute und dann auch die Ursache für den hohen Alkoholkonsum
beim Menschen natürlich auch für den Alkoholmissbrauch beim Menschen sein könnte.
Jule Wäntig: Lass uns mal wieder zum Thema Kochen kommen. Thomas, in eurer Arbeitsgruppe forscht ihr ja richtig an der Frage, inwiefern der Mensch an der Aufnahme gekochter Lebensmittel angepasst ist. Kannst du kurz beschreiben, was ihr da genau untersucht habt und eventuell was ihr da schon herausbekommen habt?
Thomas Henle: Also wir forschen ja seit viel, vielen Jahren vor allen Dingen an Reaktionen, die bei der Verarbeitung von Lebensmitteln auftreten und interessieren uns dann vor allen Dingen Reaktionen zwischen Proteinen und Kohlenhydraten oder zwischen Proteinen und Fetten. Und dabei entstehen jetzt zahlreiche Verbindungen, die wir mit der Nahrung aufnehmen, relativ große Mengen von verschiedenen Aminoserverderivaten beispielsweise oder von Zuckerabbauprodukten. Wir aber noch nicht wissen,
wie wir tatsächlich dann biochemisch damit umgehen, also wie wir sie aufnehmen, wie wir sie metabolisieren und wieder ausscheiden. Wir verfolgen jetzt gerade so ein bisschen vor dem Hintergrund der Evolutionsüberlegungen auch zwei Zielrichtungen. Zum einen vermuten wir, dass wir bestimmte Hitze induzierte Reaktionsprodukte, das sind vor allen Dingen sogenannte Karbonylverbindungen, also Zucker- oder Fettabbauprodukte. Diese Karbonylverbindungen sind sehr, sehr reaktiv, da können wir Proteinen reagieren, sind möglicherweise dadurch schädlich. Und wir vermuten jetzt, dass sich der menschliche Körpermechanismen entwickelt hat, die diese Karbonylverbindungen direkt abbauen können. Das kennt man auch von anderen Lebewesen. Das sind sogenannte
Reduktasen oder die Hydrogenasen, also bestimmte Enzyme, die diese Karbonylverbindungen sozusagen unschädlich machen können. Und wir vermuten nun, dass es bei Menschen dadurch, dass Menschen sehr viel dieser aus der erhitzten Nahrung stammende Karbonylverbindungen aufnehmen, dass wir dabei
Menschen diese Enzymesysteme besonders effektiv haben, also quasi als evolutionäre Errungenschaft als Reaktion auf das Kochen. Das ist die eine Zielrichtung. In der andere Zielrichtung betrifft die Rolle der Mikrobiota im Darm, also der Mikroorganism in dem Darm. Früher hat man gesagt, die Darmflora. Und hier konnte man nun tatsächlich vor Kurzem erst publizieren, dass es das bestimmte Reaktionsprodukte, die in Lebensmittel entstehen, das sind sogenannte Amadori Verbindungen, heißen
die, die entstehen aus einem Aminosäure und dem Zucker, dass diese Amadori Verbindungen vom Menschen nicht verwertet werden können, die gehen also komplett in den Dickdarm und man hat gedacht, ja gut, dann werden die halt da wieder ausgeschieden. Wir sehen aber jetzt, dass es dort bestimmte Bakterien gibt, die diese Amadori Verbindungen verwerten können, zur Energiegewindung nutzen können, zur Milchsäuregierung beispielsweise. Und das ist nun hochinteressant, wie wir finden,
wenn man damit eben sagen kann, dass sich quasi unsere Darmbakterien an unsere Ernährung, an unsere Ernährung mit gekochten Essen angepasst haben, und wir damit so eine Art Symbiose damit befördern, indem wir eben das gekochte Essen. Ich bin absolut überzeugt davon, dass wir und da gibt es noch andere Teams, die sich in dieser Richtung beschäftigen, dass wir dann noch eine ganze Reihe weiterer Belege für eine evolutionäre Anpassung des Menschen an das gekochte Essen finden werden.
Peer Kittel: Lieber Thomas, lieber Jule, wie immer, vielen Dank für das interessante Gespräch.
Ich denke, wir konnten die Eingangsfrage mit einem sehr eindeutigen Jahr beantworten. Das Kochen hat die menschliche Entwicklung maßgeblich beeinflusst und angefangen hat alles mit der Kontrolle des Feuers. Doch wie ging es in den nächsten Jahrtausenden weiter? Gab es weitere entscheidende Einflüsse der Ernährung auf die Evolution des Menschen? In unserer nächsten Folge werden wir die jüngeren genetischen Veränderungen bezogen auf die Ernährung und die damit zusammenhängenden
Kulturen Veränderungen besprechen. Hier wird es für mich dann als Soziologe auch ganz besonders spannend. Insofern freue ich mich da sehr auf das nächste Mal. Und wenn wir bei Ihnen jetzt auch ein gewisses Feuer für die nächste Folge erzeugt haben, dann seien Sie gerne wieder mit dabei. Unseren Podcast gibt es immer am 24. Jede Monat auf der Webseite der TU Dresden und überall da, wo es Podcasts gibt. Wenn Sie Themenwünsche rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie und Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de. Das
war Food Facts der Lebensmittelchemie Podcast der TU Dresden. Bis zum nächsten Mal.
Outro Musik
- Die Hypothese der teuren Gewebe: Warum der Darm schrumpfte und das Gehirn wuchs
L. Aiello, P. Wheeler, Curr. Anthropol. 1995, 36, 199–221 - Ist der Mensch ein kochender Affe?
- R. Wrangham, N. Conklin-Comp Biochem Physiol A Mol Integr Physiol. 2003, 136, 35-46
-
Evolutionäre „Anpassung“ des modernen Menschen an Giftstoffe im Rauch?
T. D. Hubbard et al., Mol. Biol. Evol. 2016, 33, 2648–2658. (open access)
-
Die „Drunken Monkey Hypothesis“. Warum der Mensch gerne Alkohol trinkt
R. Dudley, A. Maro, Nutrients 2021, 13, 2419
Folge 6: Aspartam, Allulose, Agavensirup: Wie empfehlenswert sind Zuckeralternativen?
Süß, süßer, am süßesten: Wir Menschen bevorzugen schon seit Urzeiten süße Nahrung. Süßes schmeckt, gibt uns Energie und macht uns glücklich. Doch eins steht fest: zu viel Zucker kann auch schaden. Wir diskutieren mit unserem Lebensmittelchemie-Experten Prof. Thomas Henle, was Zucker eigentlich ist, warum wir ohne Zucker nicht leben können, was die Politik gegen zu viel Zucker im Essen macht und wie sinnvoll (und gesund) dabei die süßen Alternativen als Zuckerersatz wirklich sind.
Intro Musik
Peer Kittel: Food Facts, der Lebensmittel Chemie Podcast der TU Dresden. Unsere heutige Folge wird süß, richtig süß, denn heute sprechen wir über Zucker und Zuckeralternativen.
Intro Musik
Peer Kittel: Zu viel, zu viel Fertigprodukte mit zu viel Fett, zu viel Salz und zu viel Zucker. Ein großer Teil der deutschen Bevölkerung ernährt sich unausgewogen. Um diese Entwicklung entgegenzuwirken, wurde im Jahr 2019 die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie der Bundesregierung kurz NRI beschlossen. Ziel ist es, die Gehalte an Zucker, Fetten und Salz in industriell hergestellten Lebensmitteln zu verringern. Wir wollen uns heute insbesondere dem Thema Zucker widmen. Um den Geschmack zu halten, geht mit dem Wort reduziert oftmals ein Ersetzt einher. Mit unserem Lebensmittelchemie Experten Prof. Thomas Henle von der TU Dresden diskutieren wir heute, welche Zuckeralternativen es gibt und ob diese wirklich alle sinnvoll und gesünder als herkömmlicher Zucker sind. Wir, das sind wie immer Studenten Jule Wäntg und ich, Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Insofern, wie gehabt, hallo Thomas, hallo Jule.
Thomas Henle: Hallo Peer, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo.
Peer Kittel: Zunächst, Thomas, wie immer, die Basics und damit auch ein bisschen zum Hintergrund. Was ist denn die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie eigentlich?
Thomas Henle: Also Hintergrund für diese NRI waren vor allem Berichte aus dem Gesundheitsmonitoring für Deutschland. So was macht beispielsweise das Robert-Koch-Institut oder die Bundesanstalt für Ernährung. Und all diese Studien zur Gesundheit und zur Ernährung, die gehen davon aus, dass es in Deutschland einen hohen Anteil an Menschen gibt, die schweres Übergewicht haben und das daraus dann gewisse Kosten, erhebliche Kosten für das Gesundheitssystem resultieren. Unter anderem, weil Übergewicht häufig assoziiert ist mit Diabetes Typ 2, mit Bluthochdruck und anderen Sachen. Und als Hauptverantwortlicher dafür hat man jetzt eine unausgewogen Ernährung gemacht. Und zwar vor allen Dingen ein zu viel an Zucker, an gesättigten Fett und an Salz. Und deshalb hat die Bundesregierung besser gesagt federführend die damalige Ernährungs- und Landwirtschaftsministerin Klöckner sich das Ziel gesetzt, als Ernährungsverhalten in Deutschland zu ändern. Oder zumindest so zu steuern, dass man eben etwas weniger an Zucker, Fett und Salz ist. Und vor allen Dingen jetzt über industriell hergestellte Lebensmittel. Und das geht es nicht so einfach über Gesetz. Man kann der Industrie nicht vorschreiben ohne weiteres, was sie in ihre Lebensmittel reinmacht. Man hat versucht, durch Absprachen mit der Lebensindustrie Reduktionsziele zu definieren. Zunächst für verschiedene Produktgruppen, vor allen Dingen zum Beispiel Erfrischungsgetränke und für Kinderangebotene Lebensmittel. Und da sollte dann die Industrie jetzt in so einer freiwilligen Selbstverpflichtung, bis zu einem bestimmten Stichtag, die Gehalte an Zucker reduzieren. Und herausgekommen ist dann so eine Selbstverpflichtung der Industrie. Also da muss man sowieso eine Art Versprechen, die genannten Anteile an Zucker zu verringern. Das sollte dann bis 2025 dauern. Und durch ein regelmäßiges Monitoring, also eine Art Analyse der industriell hergestellten Lebensmittel, sollte geprüft werden, ob sich dann die Zusammensetzung wirklich ändert in den Lebensmitteln. Und ob also diese NRI einen Erfolg hat.
Jule Wäntig: Wir wollen uns hier heute vor allen Dingen auf den Zucker konzentrieren. Was ist Zucker denn eigentlich? Also außer süß und ziemlich lecker.
Thomas Henle: Also im allgemeinen Sprachgebrauch, wenn ich so sagen darf, Küchentechnisch, meint man mit dem Zucker mit den Haushaltszucker. Chemisch ist das die Saccharose, bei uns wird die Gewöhnlich aus der Zuckerrübe. In der Sprache der Chemie nutzt man diesen Begriff Zucker gerne auch mal ganz allgemein für Kohlenhydrate. Da spricht man dann von einfach, mehrfachen Zucker und so weiter. Wenn wir es jetzt korrekt sagen wollten, dann würde man die Bezeichnung Saccharide nutzen. Der Oberbegriff Kohlenhydrat umfasst dann die sogenannten Monosaccharide, die Disaccharide, Oligo- und Polysaccharide . Je nachdem, aus wie viele Bausteinen das betreffende Kohlenhydrat zusammengesetzt ist.
Jule Wäntig: Stimmt, Zucker steht ja in der Nährwerttabelle auch immer unter Kohlenhydraten. Also ‚Kohlenhydrate‘ und dann darunter ‚davon Zucker‘.
Thomas Henle: Ja ganz genau, das haben wir ja in einer unserer letzten Folgen thematisiert. Da ist jetzt eine lebensmittelrechtliche Definition. Das Lebensmittelrecht schreibt hier vor, was auf den Lebensmitteln draufstehen muss. Und wenn es in der Zutatenliste Zucker steht, also in der Zutatenliste, dann ist es immer Haushaltszucker. Für den Nährwert relevant ist dann die Nährwert-Kennzeichnung. Das sind dann diese Tabellen, die wir ja auch schon mal besprochen haben. Und da unterscheidet man dann zwischen dem Gesamtgehalt an Kohlenhydraten und dem Gehalt an Zucker davon sozusagen. Und es steht dann eben drauf beispielsweise Kohlenhydrate 50 Gramm pro 100 Gramm und davon Zucker 10 Gramm pro 100 Gramm. Zu den Kohlenhydraten, da meint man jetzt alles aus chemischer Sicht, also Polysaccharide wie Stärke, Maltodextrin, Mono und Disaccharide . Und davon Zucker heißt dann, das sind die Mono- und die Disaccharide. Also Fruchtzucker, Traubenzucker, die Sacharose, der Milchzucker, Laktose, der Malzzucker, Maltose. Und dabei ist es dann egal, ob diese Zucker zugesetzt wurden, zum Süßen oder um die Struktur des Lebensmittels zu beeinflussen oder ob die von Natur aus drin sind.
Peer Kittel: Jetzt gibt es also ganz viele Zucker. Was meint denn dann aber das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, wenn es den Zuckeranteil reduzieren will? Thomas Henle: Also hier geht es tatsächlich primär um den, ich sage mir in Anführungszeichen eigentlichen Zucker, also primär die Verringerung der Energiedichte. Die Idee ist dabei jetzt letztlich, die Rezepturen industriell hergestellter Lebensmittel so, um zu formulieren, dass man den energiereichen Zucker verringert oder durch energieärmere Varianten ersetzt. Bei den Lebensmitteln, die jetzt einen sehr hohen Zucker gehalten haben, also zum Beispiel Erfrischungsgetränke oder gesüßte Milchprodukte, da kommt es ja hauptsächlich auf den Süßgeschmack an für die Verbraucherinnen und Verbraucher. Und da ist es dann aus lebensmittelchemischer Sicht wichtig, den süßen Haushaltszucker zu reduzieren und eventuell andere möglichst kalorienarme Süßungsmittel einzusetzen.
Jule Wäntig: Ich habe gelesen, dass wir von klein auf sozusagen vorprogrammiert sind, Zucker zu mögen und diesen süßen Geschmack zu mögen, ist diese Vorliebe angeboren und wozu braucht der Mensch eigentlich Zucker?
Thomas Henle: Also diese Vorliebe ist in der Tat angeboren. Der Mensch braucht den Zucker in allererster Linie zur Energiegewinnung, hier vor allen Dingen die Glucose. Und diese Glucose wird dann im Körper, im sogenannten Energiestoffwechsel verbrannt, wie man so zusagen pflegt, und die dabei entstehen die Energien, die wird dann für den Metabolismus der Körperzellen genutzt, also für die Gehirntätigkeit beispielsweise, für die Muskeltätigkeit und so weiter. Statt der Glucose, also statt dem Traubenzucker, kann der Körper auch den Fruchtzucker, die Fructose und auch andere Monosaccharide verwerten. Und deshalb hat dann zum Beispiel, wie wir vielleicht ja heute auch noch diskutieren werden, die Fructose oder andere Monosaccharide eigentlich genau den gleichen Brennwert, die gleichen Kalorien wie die Glucose. So, und weil der Zucker für die Funktion des Körpers damit so überaus wichtig ist, hat sich im Laufe der Evaluation gewissermaßen so eine Art Biosensor in unserem Mund entwickelt, also ein Rezeptor, der den Süßgeschmack erkennt und an dem Gehirn signalisiert, ist das jetzt, das schmeckt süß und hat deshalb Kalorien. Und unsere Vorfahren, die konnten dann zum Beispiel unreife Früchte von Reifen unterscheiden, die haben dann nur die Süßen gegessen, weil die ihnen A besser schmecken und weil halt damit dann diese Reifenfrüchte viel Zucker und Energie enthielten. Und damit ist diese Prägung auf den Süßgeschmack quasi evolutionär kodiert. Man kann sagen, wer süß schmecken konnte, der war ein Vorteil, weil derjenige wusste, in welchem Essen Zucker und damit Energie ist. Es ist uns also in der Tat angeboren und nicht nur uns, sondern ganz, ganz vielen Tieren, weil ja der Metabolismus viele Tiere ebenfalls auf den Zucker gehalten oder besser auf die Glucose aufbaut. Interessant vielleicht in dem Zusammenhang ist, dass man relativ viel Zucker braucht, damit es süß schmeckt. Es hängt so ein bisschen vom Alter ab, aber das liegt tatsächlich in so Bereichen von so 4 bis 10 Gramm pro Liter. Das ist schon die ganze Menge. Das heißt, man braucht relativ viel Zucker, um den Geschmack süß zu erkennen und um das dann auch zu essen, und zwar deshalb, weil erst ab einer bestimmten Menge eine wirklich vernünftige Menge von Energie im Lebensmittel enthalten ist.
Peer Kittel: Ja, wenn der Süßgeschmack sozusagen so wichtig ist für uns, auch evolutionär und biologisch, dann heißt das ja im Umkehrschluss für die Suche nach Alternativen, für Zucker auch, dass die dann eben auch süß schmecken müssen, also irgendwie das herkömmliche Produkt schmecken müssen. Wie macht man das denn? Kann man die Süßkraft dann irgendwie messen, objektiv messen?
Thomas Henle: Ja, das ist in der Tat keine einfache Aufgabe, denn die objektive Messung von Geschmack und auch von Geruch ganz nebenbei ist eine der, ich sage mal, zentralen Herausforderungen, der sogenannten Sensorik, also des Teilgebiets der Lebensmittelchemie, die quasi das objektive Riechen und Schmecken lehrt und praktiziert. Das ist auch Teil unserer Ausbildung für die Studierenden. Und tatsächlich ist das Geschmacksempfinden von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Es hängt vom Alter, von der Tageszeit, von der Tagesform ab. Es hängt davon ab, ob man Raucher Raucherin ist oder nicht. Man kann aber das schmecken und auch das Riechen in gewissen Umfang trainieren und auch standardisieren. So, und wir haben jetzt ums Süße reden. Dann gibt es da zwei wichtige Parameter, mit der Hilfe, die Süße objektivieren kann und zwar den sogenannten Erkennungsschwellenwert und die Süßkraft. Der Erkennungsschwellenwert ist der Wert, der was darüber aussagt, ab wann, das heißt, ab welcher Konzentration eine Substanz gelöst, in was der Süß schmeckt. Bei Saccharose ist es, wie man gerade gesagt haben, im Bereich von mehreren Gramm pro Litern, bei Süßstoffen wie Sacharin, Aspartam, ist mehr Milligramm pro Litern, also tausendmal weniger oder so. Wichtiger für die Anwendung in Lebensmitteln ist jetzt ein weiterer Parameter. Das ist die sogenannte Süßkraft. Und die geht jetzt darauf zurück, dass der Süßgeschmack nicht linear von der Konzentration abhängt, sondern dass man mit einer steigenden Menge an Zucker immer mehr braucht, um tatsächlich auch in der Erhöhung des Süßeindrucks zu erreichen. Und darum nimmt man die Saccharose als Referenz, zum Beispiel in die vierprozentige Lösung und vergleicht jetzt dann die Mit Lösungen anderer Süßungsmittel. Und dann macht man von diesen anderen Süßungsmitteln so lange unterschiedlich konzentrierte Lösungen, bis sie man sagt, isosüß schmecken. Also bis man quasi das Gefühl hat, dass die vierprozentige Zuckerlösung genauso süß schmeckt, wie die entsprechende Lösung des Süßungsmittels. Und das vergleicht man dann, vergleicht dann die Konzentrationen. Und wenn man jetzt, ich sage mal in der Zahl, von dem Süßungsmittel doppelt so viel braucht, um den gleichen Süßgeschmack zu erreichen, dann hat eben dieses Süßungsmittel nur die Hälfte an Süßkraft. Man spricht dann eben von einer Süßkraft von 50 im Bezug auf die Süßkraft von Zucker, die dann per Definition immer runter ist.
Peer Kittel: Jetzt ist der süße Geschmack natürlich das Erste, woran man denkt, wenn man von Zucker spricht. Aber Zucker hat ja auch andere Funktionen in Lebensmitteln. Ich denke da zum Beispiel an die Haltbarmachung. Das müsste man ja dann auch ersetzen, wenn man den Zuckergehalt reduzieren will, oder?
Thomas Henle: Ja, ist das völlig richtig. Zucker hat in vielen Lebensmitteln noch ganz, ganz viele andere Aufgaben, Zucker dient zum Beispiel zur Haltbarmachung, wie du schon sagst. Das ist zum Beispiel Marmelade oder Konfitüre durch die Herabsetzung der Wasseraktivität. Zucker wird benötigt zur Wasserbindung als Feuchthaltemittel, zum Beispiel in Müsli-Riegeln oder sowas. Es ist relevant für die Struktur von Lebensmitteln. Die Krume von Keksen zum Beispiel hängt ganz, ganz stark von der Zuckermenge ab. Für bestimmte Lebensmittel zum Beispiel Bonbons oder Süßigkeiten ist natürlich Zucker ebenfalls für die Struktur wichtig. Man nimmt den Zucker für die Reifungsprozesse, beispielsweise bei Salami Ruhwürsten. Man braucht ihn für Gärungsprozesse. Also es gibt ganz, ganz viele unterschiedliche Funktionen. Und genau die können eben durch ganz, ganz viele Alternativen für Zucker, für andere Süßungsmittel eben nichts ohne Weiteres ersetzt werden.
Jule Wäntig: Thomas, kannst du uns einmal einen kurzen Überblick geben, was denn so gängige Zuckeralternativen sind?
Thomas Henle: Also man kann das ganz grob vielleicht in vier Gruppen einteilen. Das ist jetzt keine exakte chemische Einordnung, sondern so eine Einteilung in vielleicht Praxisrelevanz. Da gibt es zunächst die eine Gruppe, die auch lebensmittelrechtlich geregelt ist. Das sind die sogenannten Süßstoffe, wie zum Beispiel Sacharin, Aspartan. Da gibt es derzeit zwölf, die in der EU zugelassen sind. Die zweite Gruppe sind die Zuckeraustauschstoffe. Auch die haben wir ja schon mal ganz kurz besprochen in unserer Zusatzstofffolge. Das sind aktuell acht Verbindungen, die dazu gelassen sind. Zuckeralkohole, wie zum Beispiel so ein Bit, Xylid oder Mannit. Das sind also alles Zusatzstoffe. Per Definition haben die also E-Nummern, die mussten zugelassen werden, die müssen sich regelmäßigen Überprüfungen stellen. Und da gibt es eine dritte Gruppe an Zuckeralternativen. Das ist eine ganz, ganz neue wissenschaftliche Entwicklung. Das sind jetzt bestimmte Monosaccharide, die in der Natur vorkommen, allerdings sehr, sehr selten sind bzw. in manchen Lebensbildungen in ganz niedrigen Mengen vorkommen. Aber, und das ist jetzt das Spannende, eine ähnliche Süßeigenschaft haben wie die Saccharose. Aber nicht vom Körper verwertet werden also keine nur ganz wenige Kalorien haben. Da gibt es zwei Zucker, die ganz prominent sind derzeit. Das eine ist die sogenannte Taggartose. Das andere ist die Allulose. Die kann man heute durch fermentative Prozesse herstellen. Und die sind auch derzeit in der Diskussion. Die Taggartose beispielsweise schon zugelassen. Die Allulose ist derzeit in Überprüfung. Dann gibt es noch eine vierte Gruppe, eine weitere, die eigentlich bei so einem Anführungszeichen neue oder sagen wir vielleicht besser neu modische Süßungsmittel. Das ist dann sowas wie Agavensirup oder Kokosblütenzucker. Manche zählen da auch den sogenannten Birkenzucker noch mit dazu, obwohl das aus chemisch Sicht eigentlich ganz was anderes ist. Und das wäre so dann die vierte Gruppe an möglichen Süßungsmitteln.
Peer Kittel: Kannst du jetzt vielleicht ja zunächst noch diese Süßstoffe und Zuckeraustauschstoffe ein wenig einordnen? Also inwieweit diese Stoffe als Alternative dann für den Haushaltszucker insbesondere eben im Hinblick auch auf diese Reduktionsstrategie geeignet sind?
Thomas Henle: Wir fangen mal mit den Süßstoffen und den Zuckeraustauschstoffen an. Vielleicht kurz zur Terminologie. Die Süßstoffe sind Verbindungen, die der Körper nicht verwertet. Die sehr sehr süß schmecken, aber dem Körper keine Energie liefern. Bei den Zuckeraustauschstoffen ist es ein bisschen anders. Die sind bei Weitem nicht so süß. Die sind meistens sogar etwas weniger süß als der Haushaltszucker. Haben also eine niedrigere Süßkraft. Die liefern aber Energie. Das heißt, auch die haben gewissermaßen dann Kalorien, auch manchmal ein bisschen weniger. Das Interessante vielleicht ist, dass die Insulin unabhängig verstoffwechselt werden, damit für bestimmte Lebensmittel ganz interessant sind. So der Vorteil der Süßstoff ist diese hohe Süßkraft, damit die Tatsache, dass sie keine Kalorien liefern, aber sie sind oft hitzeempfindlich. Das heißt, die kann man nicht ohne Weiteres zum Backen einsetzen. Und dadurch, dass man so niedrige Konzentrationen braucht, sind sie natürlich auch wenig geeignet, um die Struktur für das Lebensmittel zu geben. Für verschiedene Erfrischungsgetränke die kennt jeder, Cola- oder Pepsi-Light oder wie auch immer, da können die natürlich durchaus eine interessante Funktion zur Reduktion des Zuckers bzw. der Kalorien liefern. Ein gewisser Nachteil der Süßstoffe ist dann auch, dass sie manchmal einen bitteren Nachgeschmack haben oder Stevia zum Beispiel, was das sehr, sehr prominent ist. Süßstoffe ist gerade in den letzten Jahren, wurde das sehr intensiv auch genutzt. Die Substanz hat so ein bisschen einen Lakritz artigen Nachgeschmack, sondern all dieses schränkt natürlich dann die Einsatzmöglichkeit ein. Bei den Zuckeraustauschstoffen, die haben geringere Süßkraft, wie gesagt, maximal vielleicht so wie der Haushaltszucker, die können tatsächlich den Haushaltszucker im gewissen Umfang ersetzen, zum Beispiel in Zerealien, in Müslimischungen, in Müsli-Riegeln oder so. Die werden etwas schlechter aufgenommen vom Körper, als der normale Zucker haben. Deshalb die etwas weniger an Kalorien. Man braucht dann etwas mehr von diesen Stoffen häufig im Lebensmittel als vom Zucker. Und da kommt dann ein gewisser Nachteil zum Tragen, der den Einsatz im Lebensmittel wieder etwas relativiert. Denn bei sehr hohen Aufnahmemengen können diese Zuckeraustauschstoffe abführend wirken. Eben weil sie nicht aufgenommen werden und in den Dickdarm transportiert werden und dort dann unter Umständen eben entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen. Und entsprechend gibt es dann Vorgaben. Es gibt ADI-Werte, erlaubte Tagesaufnahmen für diese Zuckeraustauschstoffe, die man nicht überschreiten soll. Und das schränkt natürlich dann die Anwendungsbereiche ziemlich ein.
Jule Wäntig: Also die meisten dieser Stoffe, die kennt man ja schon lange. Aber es sind halt auch so Zusatzstoffe und damit nicht für jedermanns Geschmack und auch bei bestimmten Lebensmitteln einfach nicht einsetzbar. Die Vision wäre natürlich und auch ein Traum. Zucker, Alternative, genau wie Zucker, nur eben ohne Kalorien. Geht aus.
Thomas Henle: Ja, das ist in der Tat eine Alternative oder sagen wir besser eine Vision, wenn der tatsächlich gearbeitet wird. Es gibt aus lebensmittelchemischer Sicht in der Tat Monosaccharide, die genauso süß schmecken wie die Saccharose, aber vom Körper eben nicht in einem geringen Teil verwertet werden. Also deutlich wenig oder vielleicht sogar gar keine Kalorien haben. Und es sind die eben schon erregenden beiden Monosaccharide, Tagatose und Allulose. Das sind aus chemischer Sicht, wenn wir das so sagen, auf Ketosen, die ähneln also strukturell dem Fruchtzucker, sind mit dem also strukturell verwandt. Und die kennt man schon lange. Die kommen in manchen Lebensmitteln vor, in manchen Früchten beispielsweise. Die Tagatose entsteht in ganz kleinen Konzentrationen beim Erhitzen von Milch. Da die aber in so geringen Mengen vorkommen in der Natur, hat sich es bisher einfach nicht rentiert, die zu isolieren oder zu nutzen. Jetzt gibt es aber seit einiger Zeit Verfahren, mit denen man diese Monosaccharide fermentativ, das heißt unter Verwendung von Mikroorganismen herstellen kann, auch einigermaßen kostengünstig. Und damit werden die vielleicht interessant als Rezeptur bestand. Die Tagatose zum Beispiel, die stellt man her aus dem Milchzucker, die Allulose aus dem Fruchtzucker. Und insofern werden diese, ich sage mir, seltenen Monosaccharide als potenzieller Saccharose-Ersatz interessant. Jetzt kann aber nicht jeder Hersteller einfach diese Zucker nehmen und so einfach reintun in die Lebensmittel, auch wenn sie natürlich vorkommen. Die Mussten bzw. die Allulose muss es noch ein Zulassungsverfahren durchlaufen. Die waren ja bislang nicht maßgeblich aber Bestandteil der Ernährung. Wir haben jetzt beabsichtig als Hersteller, sie in ähnlichen Mengen wie den Haus des Zuckers einzusetzen, dann muss es aus Gründen des Verbraucherschutzes entsprechende Risikobewertungen geben. Die Tagatose ist nun in der Tat als Süßungsmittel schon in Europa zugelassen. Man kann die auch kaufen bereits, als Mischung mit der Galaktose, als einem anderen Zucker, der aus dem Milchzucker entsteht. Und diese Mischung aus Tagathose und Galaktose, die sind nun nicht ganz kalorienfrei. Sie haben nur etwa geschätzte Hälfte der Kalorien von Haushaltszucker und sind zudem auch noch immer relativ teuer. Insofern haben sie die noch nicht so richtig durchgesetzt. Bei der Allulose, das wäre nun tatsächlich ein kalorienfreier Zuckerersatz, die gibt es schon zu kaufen und auch zugelassen in den Vereinigten Staaten beispielsweise, seit 2012. Da darf man die als Süßungsmittel für bestimmte Lebensmittel zusetzen. In Europa haben einige Firmen aktuell die Zulassung beantragt. Die werden gerade gewissermaßen, die Allulose wird gerade überprüft von der EFSA durch ein entsprechendes Tool im Rahmen eines entsprechenden Zulassungsverfahren. Und da könnte es also dann schon sein, dass diese Allulose ja vielleicht im nächsten Jahr oder so auch bei uns als Süßungsmittel genutzt werden kann.
Peer Kittel: Das klingt ja einigermaßen spannend. Also muss es ehrlich gestehen, von Allulose und Tagatose habe ich und vielleicht auch die eine oder andere Hörer:in bisher aber auch noch nie was gehört. Du sagst ja selber, wird dann vielleicht auch noch einige Zeit dauern, bis es sich durchsetzen kann. Vielleicht kann es sich auch gar nicht durchsetzen gegen Zucker. Jetzt gibt es aber viele Verbraucher:innen, die glauben, dass es gesunde Alternativen zum Haushaltszucker gibt. Da liest man zum Beispiel, die hattest du vorhin auch schon angesprochen, vom Agavensirup und Kokosblütenzucker. Und da dahinter, ist denn jetzt der Agavensirup wirklich gesünder als der Haushaltszucker?
Thomas Henle: Also der Agavendicksaft oder Agavensirup, der wird vor allem in Mexiko gewonnen, dort hat uns jetzt lange Zeit. So aus bestimmten Kakteen Arten, das ist vielleicht ganz interessant, wie der gewonnen wird. Man entfernt da das innere, den inneren Kern der Pflanze, den muss man ein bestimmtes Alter haben und dann produzieren die für einige Zeit so einen Saft, so einen süßen Saft, den kann man absaugen und dann eintrocknen. Und beim eintrocknen wird dann das Inulin, was da drinnen ist, das Inulin besteht aus Fructose, als Fruchtzucker, wird dann quasi in den Fruchtzucker umgewandelt. Also der Agavensirup ist damit letztlich nichts anderes als Fructose, als hochkonzentrierte Fructose und schmeckt zwar damit ein bisschen süßer wie der Haushaltszucker, hat aber an sich genauso viele Kalorien. Man liest dann einmal noch, dass dieser Agavensirup besonders viel Mineralstoffe, das Spurenelement oder Ballaststoffe enthält, das sind aber so winzige Mengen, dass sie ernährungsphysiologisch völlig irrelevant sind, nicht wie beim Honig, muss man da wahrscheinlich kiloreise Agavensirup konsumieren, um irgendwo einen Beitrag zur Versorgung mit zum Beispiel Mineralstoffen zu erreichen. Und damit ist Agavensirup und eine Frage zu beantworten Peer definitiv nicht gesünder, als normaler Zucker, hat genauso viele Kalorien und aufgrund des hohen Fructose Gehaltes kann eine hohe Aufnahme und Umstände sogar physiologisch bedenklich sein. Zudem kann man die Verwendung von Agavensirup auch aus Nachhaltigkeitsgründen so ein bisschen hinterfragen. Es braucht sehr sehr viel Energie, um diesen Saft einzudicken. In Mexiko gibt es mittlerweile große Monokulturen dieser Agaven, was dann wieder ähnliche Probleme auch für alle Monokulturen, also Bodenverarmung, Verringerung der Artenvielfalt, Rodung vom Urwald und so weiter. Ja und dann muss dieser Sirup noch über lange Transportwege zu uns gebracht werden, also insofern ist der Konsum von Agavendicksaft weder gesünder und definitiv auch nicht nachhaltiger, als der von Zucker. Und das Gleiche gilt leider auch für Kokosblütenzucker, denn gewinnt man aus den Blüten der Kokospalmen, da gibt es auch eine andere Palme, die man da nutzen kann, da spricht man aber vom Palmzucker, also aber chemisch genau das Gleiche. Gewonnen wird der vor allem in Südostasien, in Thailand, auch in Indien, Sri Lanka, Pakistan, Afrika, Südamerika, also letztlich überall, wo Palmen wachsen, mal Salop gesagt. Und zwar sammelt man dazu dann die, zur Gewinnung die Blüten der Palmen ein, man schneidet die an und dann läuft der Nektar raus. Und diesen Nektar, den muss man dann wiederum eintrocknen, den Zucker kristallisieren und durch diese Erhitzung wird das Produkt so ein bisschen bräunlich-Karamellig, was dann so ein bisschen auch im charakteristischen Geschmack erklärt. Kokosblütenzucker ist also jetzt aus chemischer Sicht eigentlich fast ausschließlich Sacharose, also chemisch nichts anderes als unser ganz normaler Zucker, außer dass er vielleicht ein bisschen Karamellig schmeckt hat, also damit genauso viele Kalorien, als damit auch nicht gesünder oder ungesünder, wie der ganz normale Zucker. Außer, dass er natürlich sehr, sehr teuer ist und damit natürlich jeder sich wirklich auch überlegen muss, ob das echt eine Alternative ist, für den Haushaltszucker aus Zuckerrüben.
Jule Wäntig: Und was ist jetzt mit Birkenzucker?
Thomas Henle: Also Birkenzucker ist das Begriff eigentlich irreführend, denn es ist kein durch Extraktion aus den Bäumen oder aus der Birke gewonnener Zucker, sondern es ist eine eigentlich alte Bezeichnung für Xylid. Xylid ist ein Zuckeralkohol, was wir ja vorhin schon besprochen haben. Der Zuckeralkohol Xylid wird also jetzt auch nicht durch direkte Extraktion aus der Birke oder so gewonnen, sondern durch ein chemisches Verfahren. Man nimmt da heute vor allen Dingen Holzabfälle, Maiskolbenreste, Getreidekleie oder so. Und dann wird durch eine Säurebehandlung, der in diesen Hölzern oder diesen Holzmaterialien vorkommende das Polysacharid gespalten. Dann folgt eine Fermentation mit Mikroorganismen und die produzieren dann aus diesen hydrolysierten Polysachariden des Xylid. Und damit ist Xylid oder Birkenzucker aus lebenswollrechtlicher Sicht ein Zusatzstoff. Er hat eine E-Nummer, nämlich E966. Die Süßkraft und der Geschmack von Xylid, die sind so ähnlich wie vom Haushaltszucker. Er hat nur die Hälfte der Kalorien, weil er vom Körper schlechter aufgenommen wird. Und es relativiert dann etwas den Einsatz als Süßungsmittel, weil eben in hohen Konzentrationen auch Birkenzucker abführend wirken kann. Also für Getränke zum Beispiel ist er weniger geeignet. Man kann ihn vielleicht nehmen für bestimmte Lebensmittel, z.B. Kaugummi oder so. Da werden für sich Süßwaren, da werden dann solche Zuckeralkohole eingesetzt. Aber so in der Küchentechnischen Anwendung muss man dann ein bisschen aufpassen eben wegen dieser potentiellen Nebenwirkungen. Zudem ist Xylid oder auch Birkenzucker relativ teuer.
Jule Wäntig: Ich habe am Wochenende vor etwas zu backen. Was soll ich deiner Meinung nach denn nehmen, um meine Backwaren zu süßen?
Thomas Henle: Also wenn du eine leckere Rezeptur hast, Jule, und weißt, dass die gut funktioniert und auf Nummer sicher gehen willst, dann passt es doch. Wenn es schmeckt, das ist eigentlich völlig egal, wie viel Zucker drin ist, Hauptsache es schmeckt. Wenn du jetzt ein bisschen experimentieren möchtest, in deinem Chemie-Labor z.B. oder auch in deiner Küche, dann kannst du einfach mal ausprobieren, den Zuckeranteil einfach zu reduzieren, einfach ein bisschen weniger Zucker zu nehmen, vielleicht dafür mehr Früchte und einmal ausprobieren, wie es schmeckt. Vielleicht schmecken die dann auch mit weniger Zucker. Wenn du mal andere Zucker ausprobieren möchtest, dann bietet sich da immer Honig an. Honig ist vom Kaloriengehalt auch nicht besser wie der normale Zucker und auch nicht gesünder. Aber Honig ist interessant fürs Backen, weil er vielleicht als ältestes Süßungsmittel der Welt gewisse chemische Reaktionen beim Backen nach sich zieht. Er karamellisiert etwas anders, er schmeckt vielleicht dann ganz anders, wenn man hinterher das Backprodukt fertig hat. Also insofern können das vielleicht ganz interessante Aromen produzieren. Dann kannst du sozusagen deine Küche dann zum Experimentier-Labor machen, Jule.
Peer Kittel: Jetzt sind wir ja durch die verschiedenen Zuckeralternativen durchgegangen, haben glaube ich schon ein bisschen viel von dir gelernt. Lass uns doch nochmal zurückkommen zur Ausgangsfrage. Wie kann denn jetzt die NRI vor diesem ganzen Hintergrund überhaupt funktionieren? Also wie beurteilst du das als Experte?
Thomas Henle: Das Marx-Ruben-Institut macht ein regelmäßiges Monitoring dieser nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie. Das heißt, analysiert in regelmäßigen Abständen eine Palette an Produkten und prüft, ob sich zum Beispiel jetzt der Zucker-Gehalt verringert. Da gab es so eine Erhebung im Jahr 2022. Da wurden 7000 Lebensmittel untersucht. Das kommen wir im Detail nachlesen. Wenn man das etwas zusammenfasst in aller Kürze, dann kann man sagen, dass sich schon etwas tut. Dass man also zum Beispiel bei Cola-Getränken, bei Limonaden, auch bei Lebensmitteln für Kindern eine gewisse Reduktion erreicht hat. Bei Kinder-Lebensmittel, wo die sogar explizit betont, dass man die Reduktionsziele erreicht hat. Bei manchen Lebensmitteln tut sich aber wohl nichts. Wenn eine Verringerung beobachtet wurde, dann war es meist eine tatsächliche Verringerung des Gehaltes, ohne dass man andere Süßungsmittel eingesetzt hat. Wenn man das jetzt im Wortlaut vielleicht zitiert, ich finde, das bringt es dann ganz gut auf den Punkt, dann schreibt das Max-Ruben-Institut, dass die Reduktionsbemühungen nicht ambitioniert genug sind und waren und dass das Ganze weitergehen muss. Und zwar indem man, ich zitiere, wissenschaftlich fundierte und auf Zielgruppen abgestimmte Reduktionsziele schaffen möchte. Das heißt, man muss das Ganze noch etwas detaillierter auf einzelne Produkte fokussieren, dessen Prozess ja gerade am Laufen ist.
Peer Kittel: Und das ist dann auch deine Meinung als Experte?
Thomas Henle: Ehrlich gesagt, per bin ich da doch ziemlich hin und hergerissen,wobei meine Meinung so eine Mischung ist, wenn ich das so sagen darf, aus fachlichen Überlegungen, also als wissenschaftlicher Sicht. Und die andere Hälfte ist so meine Sicht als Bürger in einem glücklicherweise freien Land. Und es kollidiert dann manchmal so ein bisschen mit der Politik, in der es ja schwerpunktmäßig darum geht, Kompromisse zu suchen, eine Vermittelbarkeit von Entscheidungen und so weiter zu erreichen. Also zunächst meine Meinung als Wissenschaftler. Und das war ja auch der Aufhänger für die heutige Folge, dass es in bestimmten Bereichen eine Fehlernährung gibt, eine Überernährung aufgrund von zu vieler Kalorien, dass Adipositats eine große Herausforderung für unser Gesundheitssystem dasteht. Da gibt es keine zwei Meinungen. Ich würde mir aber da aus wissenschaftlicher Sicht wünschen, dass man die Ursachen nicht nur so einseitig bei zu süßen Lebensmitteln oder dem Zucker oder der Industrie sucht. Ich würde mir so sagen, die Maßnahmen sind immer ganz gut gemeint. Es werden unglaubliche Aufwandbetrieben an der Formulierung von spezifischen Reduktionszielen. Es sind gefühlt aktuell, ich glaube, alle Lebens- und Ernährungswissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler beteiligt. Ich war das auch eine Zeit lang, zumindest am Anfang. Ich befürchte nur jetzt, dass der tatsächliche Effekt überschaubar sein wird. Und diese ganze Aktivität dann insgesamt eher sogar vielleicht wieder zu einer Verunsicherung der Konsumentin und Konsumenten beiträgt. So dieses Narrativ der guten und schlechten, der gesunden und ungesunden Lebensmittel eher weiter bekräftigt wird. Wir werden sehen, vielleicht bin ich da zu pessimistisch, ich weiß es nicht. Aus meiner Sicht bin ich jedenfalls der Meinung, oder ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass wir uns vielleicht auch in der Zukunft mit unserem Podcast mal mit der generellen Frage beschäftigen sollten, nämlich, was heißt eigentlich gesunde Ernährung? Oder direkt gefragt, gibt es eine gesunde Ernährung überhaupt oder ist es nicht vielleicht nur so ein Art Mythos und Wunschdenken? Ich glaube, diese Frage müssen wir auch mal behandeln.
Jule Wäntig: In Großbritannien gibt es ja seit einigen Jahren eine Zuckersteuer.Das wäre doch eine Möglichkeit für Deutschland, Zuckerkonsum zu reduzieren.
Thomas Henle: Also ganz allgemein, Jule, bin ich ganz ehrlich, ich sehe solche politischen Steuerungsmaßnahmen, in denen der Staat versucht zu beeinflussen, was wir essen, immer skeptisch. Steuern sind eine Einnahmequelle für den Staat und zum anderen eine Möglichkeit zu lenken und zu steuern. Also in diesem Falle quasi zu lenken, dass wir weniger Zucker essen, der als unerwünscht identifiziert wurde. Es wäre also eine Konsumsteuer, je wer wir konsumieren, umso mehr zahlen wir und gleichzeitig will der Staat eine unerwünschte Verhaltensweise korrigieren. Jetzt gibt es viele Länder, in denen der Zucker bereits besteuert wird, wobei das nicht immer der Zucker per See ist, in allen Lebensmitteln, sondern oft, oder meistens eigentlich nur die zuckerhaltigen Getränke, das ist dann von Land zu Land unterschiedlich ausgestattet. Alleine da drin steckt jetzt für mich das erste Problem, nämlich man unterscheidet, wenn man so will, den guten und den schlechten Zucker. Die guten Getränke mit 10 Prozent Zucker, die werden dann besteuert, Apfelsaft oder Orangensaft, die genauso viel Zucker enthalten als vermeintliche Naturprodukte, werden aber dann nicht besteuert. Das ist das erste für mich wissenschaftliche Problem. Und entscheidend ist dann vor allen Dingen, ob so eine Steuer wirklich was bringt im Sinne von gesundheitlichen Vorteilen. Da gibt es jetzt eine ganz aktuelle Berechnung einer Forschungsgruppe der TU München, die ging vor einigen Wochen ganz groß durch die Medien und demnach würde eine Zuckersteuer tatsächlich was bringen. Hinsichtlich der Profilachse von Diabeteserkrankungen, die rechnen sogar aus in der Studie, für Menschen weniger dann Diabetes bekommen. Das ist eine interessante Modellrechnung, aber Modelle sind halt immer ein Abbild oder in diesem Fall eine Vorschau auf die Wirklichkeit. Man könnte aber jetzt auch versuchen, die Wirklichkeit direkt zu bewerten. Es gibt nämlich ganz, ganz viele Studien, die untersucht haben, ob in den Ländern, wo es eine Zuckersteuer gibt, auch einen Effekt eingetreten ist. Und da muss man sagen, ist die Studienlage völlig unklar. Man hat da versucht, Effekte auf die Kalorienaufnahme auf das Körpergewicht zu messen, auch ob die Inzidenz für Diabetes singen und so weiter. Hierzu gibt es eine sehr, sehr gute Cochrane-Übersichtsarbeit. Die Cochrane Foundation bewertet den Übersichtsartikeln die wissenschaftliche Faktenlage. Und die fasst die Studienlage so zusammen und kommt zu dem doch recht ernüchternden Schluss. Und auch das möchte ich fast wieder wortwörtlich zitieren, dass es bislang keine ausreichende Evidenz dafür gibt, dass eine Besteuerung von unverarbeitetem Zucker oder von Lebensmitteln mit Zucker tatsächlich eine Wirkung auf die Prävention von Adipositas oder andere unerwünschte gesundheitliche Endpunkte haben. Also obwohl es viele Länder gibt, die eine Zuckersteuer haben, konnte also eine positive gesundheitliche Wirkung noch nicht nachgewiesen werden. Und damit ist offensichtlich der Mythos, gesunde Ernährung viel, viel komplexer und vielschichtiger, dass man allein das Finanzministerium damit beauftragen könnte.
Peer Kittel: Lieber Thomas, sehr passendes Schlusswort. Wir haben erfahren, dass es gar nicht so einfach ist, herkömmlichen Zucker durch gesündere Alternativen zu ersetzen und staatliche Steuerungsmaßnahmen dabei nur bedingt Abhilfe schaffen können. Sicher ist, dass unter den Menschen ein steigendes Gesundheitsbewusstsein zu beobachten ist und Unternehmen aus Eigeninteresse dazu angehalten sein sollten und sicher auch angehalten sind, gesündere Ernährungstrends zu verfolgen. Denn nur gesunde Verbraucherinnen und Verbraucher konsumieren solche Produkte ja dann auch weiterhin. Wenn unser Podcast ihren Geschmack getroffen hat, hören Sie gerne auch unsere weiteren Folgen. Food Facts gibt es immer am 24. des Monats auf der Webseite der TU Dresden und überall da, wo es Podcasts gibt. Wenn Sie Themenwünsche rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie und Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de. Das war Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden. Bis zum nächsten Mal.
Outro
Zucker: Gefährlich für die Gesundheit? 🍬 | Gute Frage über Diabetes, Zuckersteuer & Süßstoffe
Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie der Bundesregierung
https://www.bmel.de/DE/themen/ernaehrung/gesunde-ernaehrung/reduktionsstrategie/reduktionsstrategie-zucker-salz-fette.html
Wie sinnvoll ist eine Zuckersteuer?
https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD012333.pub2/full/de
Zuckeralternativen: Welche es gibt und wie gut sie sind
https://www.bzfe.de/lebensmittel/trendlebensmittel/suessende-lebensmittel-und-suessungsmittel/
Folge 5: Superfoods: Weniger super als gedacht?
Vitamine, Mineralien, Proteine, Antioxidantien – nehmen wir in unserer täglichen Ernährung zu wenig davon auf? Brauchen wir Nahrungsergänzung, um gesund und fit zu sein? Können wir mit Superfoods unserer Gesundheit etwas Gutes tun? Was steckt wirklich in Gojibeeren, Spirulina, Weizengras und Co.? Mit unserem Experten Prof. Thomas Henle klären wir in unserer neuen Folge diese und weitere Fragen rund um Superfoods und Nahrungsergänzungsmittel und erfahren, welche Rolle die Kartoffel dabei spielt.
Intro Musik
Peer Kittel: Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden. In unserer heutigen Folge sprechen wir über Superfoods. Super gehyped, aber sind sie auch wirklich super wichtig?
Intro Musik
Peer Kittel: Ob im Supermarkt, im Restaurant oder im Netz. Überall lesen wir den Begriff Superfoods und lernen, was diese uns Gutes tun. Neben zahlreichen Nährstoffen, die sie enthalten, sollen sie unter anderem auch gegen Gelenkschmerzen, Verdauungsprobleme, Müdigkeit und vielem anderen helfen. Von A wie Acai bis Z wie Zwiebel. Mittlerweile ist die Liste der möglichen Superfoods lang und unübersichtlich, was viele Verbraucherinnen und Verbraucher verunsichert. Mit unserem Lebensmittelchemie-Experten Professor Thomas Henle von der TU Dresden wollen wir heute etwas Licht in den Superfood-Dschungel bringen. Wir, das sind wie immer Studentin Jule Wäntig und ich, Per Kittel-Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Insofern, wie gehabt, Hallo Thomas, hallo Jule.
Thomas Henle: Hallo Per, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo.
Peer Kittel: Thomas, wir starten wie immer mit den Basics. Vielleicht schauen wir uns mal den Begriff Superfoods an. Was ist denn damit gemeint?
Thomas Henle: Also der Begriff ist ein reiner Marketingbegriff. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Bezeichnung Superfood nicht definiert und auch nicht akzeptiert. Man wird in der Wissenschaftenliteratur keine seriöse Publikation finden, die diesen Begriff verwendet. Er wird also primär verwendet von Unternehmen rein aus Werbegründen, in den Medien, im Internet, in Zeitschriften, um auf bestimmte Eigenschaften von Lebensmitteln hinzuweisen, meistens auf völlig unwissenschaftliche Art und Weise. Da wird dann eben zum Beispiel betont, dass diese neuen exotisch liegenden Lebensmittel besonders viel Vitamine, besonders viel Mineralstoffe, besonders viel Antioxidantien und so weiter enthalten sollen und damit vor allen möglichen Krankheiten schützen sollen. Und allgemein wird also dann suggeriert, dass diese sogenannten Superfoods besonders wertvoll für die Ernährung sind, besonders gesundheitsfördernd sein sollen.
Peer Kittel: An sich hört sich das doch aber im Prinzip ganz gut an, eigentlich sogar super an, wenn Lebensmittel ja wichtige Inhaltsstoffe haben sollen. Also welche Probleme hat denn die Wissenschaft dann ganz genau mit diesem Begriff Superfoods?
Thomas Henle: Also gegen die Lebensmittel an sich ist nichts einzuwenden. Wer die gerne isst, wen die schmecken, wer das Geld dafür ausgeben möchte, der kann das natürlich selbstverständlich machen. Das Problem ist nur das Marketing. Und zwar das besondere Ausloben von vermeintlich wertvollen oder anfangs auch einen gesunden Inhaltsstoffen. Letztlich um diese Lebensmittel jetzt besonders interessant zu machen und auch um Nahrungsergänzungsmittel, die da mit meistens dann auch im Kontext diskutiert werden, interessant zu machen. Und zwar versucht man der Bevölkerung zu suggerieren, dass ein Mangel an bestimmten Nährstoffen existiert. Das wird uns also irgendwie ungesund ernähren, dies in großer Zahl. Und dass diese Superfoods dann diese vermeintlich zu geringe Zufuhr an, was auch immer ausgleichen könnten. Oder um es vielleicht noch weiter zu treiben, dass man selbst wenn man gesund ist, sich durch diese Superfoods quasi noch gesünder ernähren könnte, sich vor Krankheiten schützen kann und so weiter. Und da kommt man dann sehr häufig in Lebensmittel rechtlich grenzwertige Bereiche. Das Stichwort wäre hier eine nicht zulässige gesundheitsbezogene Werbung. Und das stört mich jetzt dann als Lebensmittel ganz besonders, weil das nun schlichtweg falsche Aussagen sind sehr häufig. Also wissenschaftlich unfundierte, also wenn du so willst sowas wie Fake Science, was man dann nutzt als Grundlage für ein Marketingkonzept.
Jule Wäntig: Ist denn da etwas dran, dass wir mit unserer normalen Ernährung viel zu wenig Nährstoffe aufnehmen? Und wie könnte ich jetzt diesen Nährstoffmangel feststellen?
Thomas Henle: Ja, das ist natürlich in der Tat eine super wichtige Frage. Also die Beurteilung der ausreichend Versorgung mit essentiellen Nährstoffen. Das ist sowohl für die Wissenschaft wichtig, also auch für die öffentliche Gesundheitsvorsorge. Und man kann sich vorstellen, dass es relativ schwierig ist, jetzt für ein ganzes Land, für über 80 Millionen Menschen, die Versorgung mit Nährstoffen zu beurteilen. Das macht man aber tatsächlich. Und zwar gibt es da eine Studie des Max Rubner Institutes, der Bundesanstalt für Ernährung, die sogenannte nationale Verzehrs Studie 2. Die ist schon ein bisschen her, diese Erhebung, die war im Zeitraum von 2005 bis 2007. Aktuell läuft eine dritte Studie. Und diese NVS, diese nationale Verzehrs Studie, die dient letztlich dazu Repräsentative Daten zum Lebensmittelverzehr, zu Nährstoffzufuhr, zu Ernährungsverhalten, zu Ernährungsstatus der deutschen Bevölkerung abzuleiten. Und obwohl die schon ein bisschen älter ist, diese NVS 2 ist sie nach wie vor eine Grundlage zur Beurteilung der Nährstoffzufuhr. Und die Kernaussage dieser NVS ist ganz klar, die mittlere Zufuhr von praktisch allen Vitaminen und Mineralstoffen bei Erwachsenen entspricht sehr gut den Referenzwerten der deutschen Gesellschaft für Ernährung. Oder übersteigt die sogar. Es gibt also bei einer ausgewogenen Ernährung überhaupt keinen Grund für zum Beispiel die Supplementierung mit Nahrungsergänzungsmittel und auch keine Notwendigkeit für besonders Vitaminen oder nährstoffreiche Superfoods. Man kann allerdings aus der Studie auch ein bisschen genauere Infos noch rauslesen für bestimmte Ernährungssituationen. Und so hat die NVS einige kritische Nährstoffe identifiziert, die bei bestimmten Ernährungssituationen, möchte mir so sagen, relevant sind. Und zwar sind es die Vitamine Folsäure, bei den Mineralstoffen ist es Calcium, Jod und das Eisen. Und es betrifft vor allem jüngere Menschen, die sich vielleicht etwas unausgewogen ernähren, noch im Wachstum sind. Und es betrifft vor allen Dingen Frauen bei der Schwangerschaft, Frauen in der Schwangerschaft und in der Stillzeit. Und dann betrifft es Menschen, die eine besondere Ernährungsweise praktizieren, eben zum Beispiel Veganerinnen und Veganer. Da könnte dann zum Beispiel Vitamin B12 und auch Eisen problematisch sein. Da ist an und umständlich auch eine Supplementierung mit Vitaminpräparaten notwendig. Da kann man ja vielleicht im Laufe der heutigen Besprechung noch mit drauf eingehen.
Jule Wäntig: Woran würde ich denn einen Vitamin- oder Mineralstoffmangel bemerken? Ich habe das mal gegoogelt und da wird mir richtig viel vorgeschlagen. Also ich hätte alle Symptome.
Thomas Henle: Ja, hier muss man wirklich ein bisschen aufpassen. Und wenn man nämlich genau hinschaut, dann sind diese Websites, die dann einen Vitaminmangel, sagen wir vermeintlich, wissenschaftlich präsentieren, sind fast immer Websites von Vitaminherstellern oder verlinken direkt auf die Seiten dieser Hersteller. Und da werden dann so ganz allgemeine Symptome beschrieben als Symptome eines vermeintlichen Vitaminmangels, also sowas wie Müdigkeit, schlechter Schlauch, häufiger Erkältungen, Haarausfall, Blässe, Gelenkschmerzen. Und da kann man nun sagen, wer kennt es nicht, es hat jeder, jeder, irgendwann, irgendwo, irgendwie mal. Es wird aber dann eben direkt gefolgert, dass diese Symptome direkt auf den Mangel von Vitamine-Mineralien zurückgehen sollen, dass man dann entsprechende Präparate kaufen soll oder halt die entsprechend Superfoods essen soll. Fakt ist jetzt aber, dass diese Symptome in der Regel wirklich nichts mit einem Vitaminmangel zu tun haben. Und wenn, dann könnte und müsste man das auch nachweisen. Das geht beim Arzt oder der Ärztin, die können mit einer Blutbildanalyse problemlos feststellen, ob tatsächlich ein Nährstoffmangel vorliegt, also ein echter Mangel an Vitaminen oder Mineralstoffen. Und es wird dann auch immer eine medizinische Diagnose. Und alles weitere wird dann in der Arzt- oder Ärztin-Praxis festgelegt, also zum Beispiel die Grunderkrankung erkannt und dann übernehmen die entsprechenden Kosten auch die Krankenkasse. Solche Blutuntersuchungen sind dann vielleicht auch relevant bei speziellen Ernährungsweisen, zum Beispiel bei Veganismus. So was kann man dann als individuelle Gesundheitsleistung beauftragen, muss es dann auch selber zahlen. Es hält sich aber in Grenzen.
Jule Wäntig: Wenn ich jetzt nicht zum Arzt gehen möchte und dann habe ich sehr viele Möglichkeiten gesehen, einen Test einfach einzuschicken oder einen Selbsttest nach Hause zu bekommen, sind die denn belastbar?
Thomas Henle: Im Internet werden in der Tat Selbsttests zum Beispiel für Vitamin D-Status angeboten, für die muss man sich dann selber eine Blutstropfen aus der Fingerkuppe entnehmen und dann in ein Labor schicken. Ich persönlich halte nichts von diesen Angeboten, um es ganz klar zu sagen, weil man schon allein bei der Probennahme viel falsch machen kann. Und auch die Verbraucherzentrale beispielsweise hat Vergleiche auf ihrer Homepage dokumentiert, die dann zeigen, dass die Ergebnisse von Anbieter zu Anbieter doch sehr, sehr schwanken und die Auswertungen dann häufig nicht hilfreich sind und häufig dann wiederum gleich mit Verkaufsempfehlungen für bestimmte Produkte mit verbunden sind. Das waren jetzt biochemische Untersuchungsmethoden. Es gibt aber darüber hinaus noch ganz, ganz viele weitere Methoden, sowas wie Bio-Resonanz-Diagnostik, eine kinesiologische Diagnostik. Es gibt einen Antioxidantien-Scanner und das kann man dann zum Beispiel in Reformhäusern, bei Heil-Praktikern, aber leider auch bei manchen Ärztinnen, Ärzten oder Apotheken machen lassen und sowas ärgert mich dann wieder ganz besonders, wenn dann wissenschaftlich ausgebildetes Personal, solchen Hokus-Pokus anbietet. Letztlich sind all diese Untersuchungen aus wissenschaftlicher Sicht völliger Quatsch. Es ist ein Indiz für die pseudo-wissenschaftliche Durchdringung und Kommerzialisierung leider auch unserer Heilkunde, wenn man das so sagen darf.
Peer Kittel: Das heißt aus deiner Perspektive ist das Statement nur beim Arzt, kann ich mich verlässlich testen lassen?
Thomas Henle: Absolut und dann auch wirklich nur mit einer Blutuntersuchung, in der von einem richtigen Labor untersucht wird, wie der Vitamin- oder der Mineralstoffstatus ist.
Peer Kittel: Wenn man jetzt, du hast ja vorhin auch ein paar Symptome genannt,mit denen geworben wird für Vitamin-Mangel und dann die entsprechende Lösung auch schonangeboten wird. Wenn es jetzt kein Vitamin-Mangel ist, woran können solche Symptome dann liegen?
Thomas Henle: Ja, das ist jetzt schwer zu sagen und es übersteigt natürlich auch unsere Kompetenz jetzt als Naturwissenschaftler. Entscheidend ist immer, dass man die Grunderkrankung abklärt. Das istnatürlich eine zentrale medizinische Aufgabe. Engagierte Ärzte und Ärztinnen, die werden auch immer den großen Bereich der Psychosomatik damit im Blick haben und dann sehr häufig dokumentieren können, dass es mit einem Vitamin- und Mineralstoffmangel oder gar mit speziellen und gesunden Lebensmitteln oder so gar nichts zu tun hat. Da muss man dann die private Situation, Stress, alle möglichen weiteren Aspekte mit einbeziehen und das macht der engagierte Arzt, der engagierte Ärztin dann sicherlich sehr, sehr kompetent.
Peer Kittel: Jetzt würde ich vielleicht nochmal zwei Sachen zusammenbringen, die du vorhin schon angeteasert hast. Wenn wir uns vielleicht nochmal die Veganerinnen als Gruppe anschauen, hast du ja vorhin gesagt, da kann es durchaus sein, in der NVO 2 auch nachgewiesen, dass eine Supplementierung notwendig werden könnte. Gibt es denn da Sachen, die Mineralstoffe und Vitamine, die nur in tierischen Lebensmittelnvorkommen bzw. könnte nun gerade für diese Gruppe die Superfoods, über die wir heute sprechen, den Mangel ausgleichen?
Thomas Henle: Also ich fange gleich mit der letzten Frage an. Nein, kann es nicht. Es gibt ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Ernährung und dieses Papier benennt zur veganen Ernährung einige kritische Nährstoffe. Das ist vor allem Vitamin B12, Vitamin B2, Vitamin D und auch das Spurenelement Eisen. Manchmal vielleicht auch Jod. Manchmal auch der Protein, die Proteinqualität. Es gibt schon eine ganze Reihe von Faktoren, die man dabei achten muss. Das meiste davon ist die gleiche Veganerin und Veganer aber durch eine ausgewogene Ernährung vollständig aus. Vor allem kritisch ist das Vitamin B12, das Eisen und eventuell das Kalzium. Vitamin B12 kommt jetzt aber tatsächlich nur in tierischen Lebensmitteln vor und zwar in einer Form, die für den Körper verfügbar ist. Kalzium und Eisen, die kann man auch aus pflanzlichen Lebensmitteln bekommen, wird es aber oft schlecht aufgenommen wegen Wechselwirkungen mit anderen Inhaltsstoffen und dann nützt dann auch keine Superfoods, sondern dann nützt dann nur eine Supplementierung mit entsprechenden Präparaten. Wer sich bewusst vegan ernährt und alle Veganerinnen und Veganer, die ich kenne, tun das, die achten auf ihre Ernährung und die wissen auch ganz genau, welche Nährstoffe kritisch sind und die nehmen dann entsprechende Nahrungsergänzungsmittel. Das kann man auch wissenschaftlich dokumentieren. Da gab es eine Studie vom Bundesinstitut für Risikobewertung, die war von 2020. Die haben eine Studie gemacht, wo sie Veganerinnen, Veganer auf der einen Seite und sich um Niveau ernährende Menschen auf der anderen Seite untersucht haben, haben dann geguckt, wie ist es denn mit dem Status dieser potenziell kritischen Nährstoffe. Wir haben dann gesehen, dass es keinen Unterschied gibt, eben weil sich auch die Veganerinnen und Veganer sehr gut zum Beispiel mit Vitamin B12 versorgt haben.
Jule Wäntig: Auf Social Media bekomme ich sehr oft Werbung für Nahrungsergänzungsmittel und einfach Menschen, die für solche Präparate werben, vor allen Dingen im Winter Vitamin D. O-Ton: Jeder in Deutschland hat Vitamin D Mangel, weil ist ja nicht so viel Sonne da und ist schade, die auch nichts, wenn man das einfach mal so nimmt, stimmt das?
Thomas Henle: Also man kann zunächst festhalten, dass der Körper tatsächlich in der Haut 80 bis 90 Prozent vom Vitamin D besser gesagt von einer Vitaminvorstufe selber bildet und zwar mit Hilfe vom Sonnenlicht, genauer der UVB-Strahlung. Dazu muss man aber rausgehen, sich im Freien aufhalten, denn helle Räume oder so reichen da nicht aus, denn das UVB-Licht kann das Glas von Fensterscheiben nicht durchdringen. Der Zufall von Vitamin D Überlebensmittel macht also nur einen ganz geringen Anteil aus, 10 bis 20 Prozent und der Grund dafür ist, dass Vitamin D nur in ganz wenigen Lebensbilden wirklich in nennenswerten Mengen vorkommt. Das wäre zum Beispiel fetter Seefisch oder Innereien, die aber jetzt nicht unbedingt jedermanns Geschmack sind. Und wie du schon andeutest, Jule ist die Vitamin D Bildung bei uns in unseren breiten Graden tatsächlich ausreichend, nur von März bis Oktober möglich. Da ist das Licht sozusagen hell genug oder der Tag lange genug. Allerdings könnte da der Körper das Vitamin D auch speichern. Er kann Vitamin D Reserven anlegen dann für das Winterhalbjahr sozusagen. Also salopp gesagt, im Frühling muss man viel rausgehen, auf den Sonnenbrand aufpassen, dann hat man schon eine gewisse Vorsorge getroffen. Der Einnahme von Vitamin D Präparaten wird jetzt von der deutschen Gesellschaft für Ernährung zum Beispiel wiederum nur dann empfohlen, wenn die Eigensynthese nicht ausreicht oder auch die Ernährung, man kann ja auch im Winter dann zum Beispiel Fisch essen, dieses potenzielle Defizit nicht ausgleicht. Das Problem ist nämlich jetzt und drum kann es durchaus auch kritisch sein, wenn man zu viel Vitamin D aufnimmt. Das Problem ist, dass das Vitamin D als fettlösliches Vitamin sich im Fettgewebe abspeichern kann und eine übermäßig hohe Vitamin D Zufuhr, zum Beispiel bestimmte Supplemente, dann unter Umständen sogar zu einer Überdosierung führen kann, zu einer Intoxikation. Also insofern kann man sich mit Vitamin D tatsächlich sogar im Extremfall überversorgen. Und auch da würde ich jetzt jedem, jeder empfehlen, sich vom Arzt oder der Ärzte bei den Vitamin D Status kontrollieren zu lassen. Man musste zu sagen, dass das Vitamin D tatsächlich eines der momentan sehr sehr diskutierten Vitamine ist. Man ist sich in der wissenschaftlichen Community auch gar nicht so hundertprozentig einig, wie viel Vitamin D wir tatsächlich im Blut haben sollen. Auf jeden Fall kann man sich auch da den Vitamin D Status untersuchen lassen und gegebenenfalls, wenn es tatsächlich notwendig ist, entsprechende Vitamin D-Präparate verschreiben lassen. Und ich würde halt immer empfehlen, zwei bis drei Monate Woche Fisch zu essen, Heringe, Lachs oder irgendwie sowas und damit kann man einen sehr, sehr guten Beitrag zu seiner zusätzlichen Vitamin D Versorgung leisten.
Peer Kittel: Wie ist das damit im Eiweiß? Das benötigt unser Körper ja auch in großen Mengen und ja bestimmte Superfoods werden als besonders gute Proteinquelle beworben, zum Beispiel Algen als tolle vegane Proteinquelle oder auch Insekten mit besonders hochwertigem Protein. Dazu gibt es ja jede Menge Proteinpräparate auch zu kaufen. Haben wir ein Problem mit der Proteinversorgung? Ich habe neulich sogar von einer Eiweißlücke gehört. Was steckt denn dahinter?
Thomas Henle: Also grundsätzlich muss man sagen, dass wir in Deutschland überhaupt keine Probleme haben mit dem Abdecken unseres Proteinbedarfs. Der liegt so bei etwa einem Gramm pro Kilo Körpergewicht, also je nach Mensch zwischen 40 und 100 Gramm oder so. Und das Decken jetzt mischt, Köstler völlig problemlos ab, auch Vegetarier. Bei einer veganen Ernährung ist das an sich auch kein Problem. Allerdings muss man da so ein bisschen auf die Proteinquelle gucken, denn Protein ist nicht gleich Protein. Da kommen wir jetzt ein Parameter ins Spiel, die sogenannte biologische Wertigkeit, mit der man die Proteinqualität beurteilt. Die biologische Wertigkeit sagt aus, wie viel das Lebensmittelproteins quasi in Körperprotein umgewandelt werden kann. Da geht es dann um die Verfügbarkeit und in den Gehalt von essentiellen Aminosäuren und Eiweiß aus tierischen Quellen, also Fleisch, Milch, Eier, hat eine sehr, sehr hohe biologische Wertigkeit. Während G3 die Proteine, vor allem zum Beispiel Weizenprotein, das Gluten, manche nehmen das als Seitan her für die Herstellung von veganem Fleischersatz, das hat nun eine sehr, sehr niedrige biologische Wertigkeit. Nur etwa ein Drittel zum Beispiel von Fleischprotein müsst also dreimal so viel G3 Proteine essen, im Vergleich zu Fleischprotein, um den Proteinbedarf zu decken. Es gibt aber auch Pflanzeneiweiß, was sehr, sehr hochwertig ist, zum Beispiel Hülsenfrüchte, Soja, Erbsen und die kann man im verarbeiteten Zustand auch als sehr gute Eiweißquelle nutzen. Vielleicht zu diesem Stichwort Proteinlücke. Wie gesagt, bei uns in den Industrienationen ist die Eiweißversorgung kein Problem, aber in vielen Ländern der Welt durchaus und speziell vor dem Hintergrund der steigenden Weltbevölkerung, die wird dann oft und auch durchaus zu Recht argumentiert, dass die Suche nach neuen Eiweißquellen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte durchaus eine ganz, ganz wichtige auch wissenschaftliche Herausforderung ist und das sind so ein bisschen ein Trend, möchte ich fast sagen, entstanden, zu Suche nach neuen, pflanzenbasierten, Eiweißreichen Lebensmitteln. Und da probiert sich eben auch jetzt das Marketing mancher Superfoods zu positionieren.
Peer Kittel: Ja, dann vielleicht umgekehrt gibt es denn überhaupt ein zu viel an Protein?
Thomas Henle: Nein, gibt nicht so lange die Nieren gut funktionieren, schadet eine Überversorgung mit Protein überhaupt nicht. Ich würde mir so sagen, dass man bestimmt 3 bis 4 Gramm pro Kilo Körpergewicht, also das 3 bis 4-Fache von dem, was es im Mindestbedarf Empfohlen wird aufnehmen kann und das ist schon eine ganze Menge und so viel Protein nimmt man mit einer normalen Ernährung und selbst mit dem ein oder anderen zusätzlich im Proteinshake eigentlich kaum auf.
Jule Wäntig: Lass uns mal ein paar vermeintliche Superfoods anschauen und etwas analysieren, bezüglich der angepriesenen Inhaltsstoffe und deren Wirkungen. Im Internet findet man ja regelrechte Hitlisten. Ich lese mal vor, was man da bei einer einfachen Google-Suche findet, zum Beispiel hier, die 10 wichtigsten Superfoods. Acai, Aronia und Goji Beeren, Acerola Kirschen, Chiasamen, Maca, Moringa, Bao- und BaoBabfrüchte, Weizengras und die Mikroalgen, Chlorella und Spirulina. Alles Mega-Zungenbrecher, sogar Gesundheitsmagazine, wie das der AOK schreiben, solche Hitlisten. Was hältst du von solchen Klassifizierungen?
Thomas Henle: Also ganz ehrlich gesagt, überhaupt nichts. Bei vielen solchen Listen unterschiedlicher Art und offensichtlich ist sich sogar die Superfoods-Zähne nicht ganz so einig, was jetzt sozusagen auf Platz 1 steht oder wer in die Top 10 gehört. Häufig werden dann auch noch Nahrungsergänzungsmittel mit aufgelistet. Viele dieser Produkte, die du gerade erwähnt hast, gibt es dann gar nicht unbedingt als frische Lebensmittel, sondern häufig vielleicht als Pülverchen oder als Nahrungsergänzungsmitteln und von daher sind diese Hitlisten eigentlich Marketing und sonst nichts.
Peer Kittel: Trotzdem müssten wir uns ein bisschen annähern. Müssen wir uns mal widmen. Vielleicht fangen wir mit den Bären und Früchten an. Beispiel wären ja hier die schon angesprochenen Acai-Beeren oder die Goji-Beeren, auch der Granat-Apfel. Neben Vitaminen und Mineralstoffen werden hier vor allem Antioxidantien angepriesen.
Thomas Henle: Acai-Beeren, die stammen von der Acai-Palme, die wächst vor allem in Brasilien, in Ecuador, Kolumbien. Und dort sind diese Palmen auch wirtschaftlich recht wichtig, einmal für die Gewinnung der Beeren und auch weil die Palmen herzen, das ist das innere, das Bindungsgewebe zwischen Stamm und Blättern, das kann man auch essen. Diese Acai-Beeren, die bestehen zu fast 50 Prozent aus Fett, die sind von der Nährstoffzusammensetzung so ein bisschen vergleichbar mit Oliven und da die Früchte recht leicht verderben, werden sie dann getrocknet und dann kann man das Pulver zum Beispiel bei uns kaufen oder auch mit Wasser gemischt als Saft. Diese Acai-Beeren, die sollen nun sehr viel Mineralstoffe enthalten, vor allem Kalzium und Mangan. Und in der Werbung sprechen die dann von der brasilianischen Wunderbeere mit unglaublichen Konzentrationen, Antioxidantien und lebenswichtigen Fettsäuren. Und so ähnliche Aussagen gibt es dann auch für die Goji-Beere. Die stammt ursprünglich aus China vom chinesischen Bocksdorn oder auch als chinesische Wolfsbeere bezeichnet. Die gehört jetzt botanisch ist vielleicht ganz interessant zu den Nachtschatten Gewächsen. Ist also mit der Kartoffel und der Tomate verwandt und die gibt es jetzt so gut zehn Jahren auch bei uns im Kulturanbau. Es sind so kleine vielleicht so ein Zentimeter lange Früchte, die kann man dann als Trockenfrüchte kaufen, auch als Gelee oder als Pulver oder auch als Kapseln. Und in der Zusammensetzung enden jetzt diese Goji-Beeren anderen Trockenfrüchten, also zum Beispiel Aprikosen oder so. Da wird dann oft behauptet, dass der Vitamin C-Gehalt besonders hoch ist, befindet dann so Angaben, zum Beispiel 50 Milligramm pro 100 Gramm Trockenfrucht. Das ist aber im Vergleich zum Beispiel zu Heidelbeeren oder zu anderen Beeren auch nicht mehr. Was also die vermeintlich besonders gesunde Zusammensetzung dieser Goji-Beeren schon damit ziemlich relativiert. Dann gibt es auch den Granatapfel. Das ist die Frucht des Granatapfelbaums. Der wächst vor allem in Asien, West- und Mittelasien, Iran, Afghanistan, Nordindien, auch im Mittelmeerraum. Und den kennt sicherlich einer oder andere nach der Blüte bildet dieser Baum so charakteristische kugelförmige Früchte. Die sind so ein halbes Kilo schwer vielleicht. Und im Inneren sind dann diese Samen, die kann man essen oder den Saft draus machen. Und hinsichtlich der Zusammensetzung sind jetzt diese Granatäpfel eigentlich relativ unspektakulär zusammengesetzt. Sie sind halt schön rot. Diese rote, diese roten Farbstoffe, die interpretiert man dann eben als wertvolle Antioxidantien. Antioxidantien sind auch Vitamin C zum Beispiel, Vitamin E. Und die haben natürlich im Körper eine bestimmte Funktion, Vitamin C und Vitamin E als Radikalfänger als Antioxidantien. Und man diskutiert dann, dass diese aus pflanzenstammenden Antioxidantien ähnliche Funktionen haben, ähnliche Funktionen im Körper ausloben möchten und damit dann unter Umständen eine Profilaxe für bestimmte Erkrankungen nach sich ziehen, die mit dem sogenannten oxidativen Stress zusammenhängen. Um es aber jetzt mal ganz pauschal und ganz ernüchternd zu sagen, es gibt bislang keine klinischen Studie, die eindeutig bestätigen Konten, dass diesen aus lebensmittelstammenden Antioxidantien, also diesen Pflanzenfarbstoffen jetzt eine echte kausale Rolle zur Vermeidung von irgendwelchen Erkrankungen zugewiesen werden könnte. Es gilt vor allen Dingen für diese vermeintlich oft postulierte entzündungshemmende Wirkung von Antioxidantien. Da gibt es keinerlei wissenschaftliche Belegung und tatsächlich hat sogar die Europäische Behörde für Lebensmittel Sicherheit verschiedene gesundheitsbezogenen Aussagen überprüft, gerade die, die für Goji Beeren und für den Granatapfel beantragt wurden. Und dann hat die EFSA ganz ernüchtert festgestellt, dass es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen irgendwelchen positiven gesundheitlichen Wirkungen und Aufnahme dieser Lebensmittel gibt. Die Hersteller dürfen also nicht mit gesundheitsbezogenen Aussagen werben.
Jule Wäntig: Die nächste Gruppe werden so exotische Samen wie Chiasamen oder Quinoa. Steht beides bei mir im Vorratsschrank.
Thomas Henle: Ja, hier ist eine einjährige krautige Sommerpflanze, sagt man aus der Familie der Lippenblütler. Die Samen der Pflanze, die stammen ursprünglich aus Mexiko, die gibt es mittlerweile in ganz vielen Ländern, Lateinamerikas. Die kann man roh oder getrocknet verzehren oder auch Getränken zusetzen. Diese Chiasamen, die bestehen zu 20 Prozent aus Proteinen, 30 Prozent Fett, relativ viel Kohlenhydraten, relativ viel Ballaststoffen. Und die sind nun bekannt dafür, dass sie aufgrund ihrer hohen Quellfähigkeit sehr viel Wasser binden, also sehr, das Lebensmittel sehr verdicken. Und es macht sich ganz interessant als Grundlage für so vegane Lebensmittel, für vegane Puddings, für dickflüssige Smoothies. Man kann ja auch was einsetzen als Ei oder Fettersatz beim Backen oder so. Interessant ist jetzt vielleicht, dass diese Chiasamen früher in Europa ja nicht konsumiert wurden und damit ein sogenanntes Novel Food, ein neuartiges Lebensmittel sind. Sie mussten dann eine entsprechende Zulassung durchlaufen als neuartiges Lebensmittel. Und die EFSA wiederum, die europäische Behörde für Lebensmittel Sicherheit, die hat dann vor gut 10 Jahren festgestellt, dass es maximal Mengen gibt, die man von diesen Chiasamen essen soll. Und zwar sollen diese Chiasamen maximal zu 10% in einer Backware oder in einer Müslimischung drin sein. Wenn man sie einzeln verkauft, dann müssen sie sogar den Hinweis tragen, dass man nicht mehr als 15 Gramm von denen essen soll. Das heißt, die EFSA versucht da vor dem Hintergrund des vorbeugenden Verbraucherschutzes eben zu vermeiden, dass man sich zu viel von diesen Ballaststoffen, von diesen Dickungsmitteln aufnimmt und umständen dann gewisse Verdauungsprobleme bekommt. Man könnte jetzt eine ähnliche Menge an Ballaststoffen auch problemlos, z.B. mit Leinsamen oder Weizenklargereichen. Das gilt jetzt auch für Quinoa, um das abschließend zu diskutieren. Das ist ein sogenanntes Pseudogetreide. Das stammt ebenfalls aus Südamerika. Vor allen Dingen Peru, Bolivien, Ecuador hat dann auch die Bezeichnung Inkaweizen. Man hört mal das. Die Samen kann man jetzt gekocht essen, z.B. so wie Reis oder auch das Zutat zum Müsli nutzen. Dieses Quinoa hat tatsächlich ein relativ hochwertiges Protein, hat kein Gluten, kann also für die Herstellung glutenfreie Lebensmittel genutzt werden. Wer also jetzt tatsächlich eine Alternative vielleicht für den Weizen in bestimmten Backwarmen, ist damit auch eine interessante Proteinquelle bei einer veganen Ernährung. Ein Superfood ist es aber trotzdem nicht. Es kann eine interessante Zutat sein, aber definitiv kein Ersatz für die normalen Getreide oder als Grundnahrungsmittel.
Jule Wäntig: Jetzt gibt es da auch ganz viele Gräser, die einen Superfood sein sollen. Weizengras und Gerstengras habe ich jetzt erst gesehen. Das sind jetzt einheimische Pflanzen, aber warum ist sich denn jetzt nicht nur die Getreidekörner, sondern auch den Rest mit?
Thomas Henle: Ja, das frag ich mich Auch immer, warum man Gräser essen soll, sozusagen ins Gras beißen möchte. Man kann mit Gras auch was anderes machen. Seit einer Zeit darf man Gras auch rauchen. Das ist vielleicht eine interessante andere Applikation, über die wir diskutieren können. Aber mal ganz konkret, hier werden jetzt die noch grünen Gräser der Pflanze, also von Weizen oder Gäste, geerntet, bevor sie die Ehren ausbilden und dann getrocknet. Und die so hergestellte Pulver, Weizengraspulver oder Gerstengraspulver, es wird dann als Nahrungsergänzungsmittel verwendet. Da kann man auch gleich mal die Moringa-Pflanze nennen. Das ist ein traditionelles Lebensmittel im Nahen Ost, in Afrika, Asien. Auch dann nutzt man die getrockneten Blätter als Nahrungsergänzungsmittel. Diese Pülverchen werden dann angepriesen, als besonders Eisen, Vitamin C, zinkreich, auch mit viel Kalzium und so weiter. Aber auch hier, muss man wieder ganz klar sagen, sind die Gehalte keineswegs so viel höher im Vergleich zu anderen Quellen, als dass sie als gute Supplementierung sich eignen würden.
Jule Wäntig: Und wie ist das mit Algen? Im Drogeriemarkt gibt es schon ewig so Spirulina-Algenpulver. Hältst du das für sinnvoll?
Thomas Henle: Also Spirulina ist eigentlich keine Alge, sondern ein Bakterium, und zwar aus der Gattung der Cyanobakterien. Die hat man früher als Blaualgen bezeichnet und die Bezeichnung Alge, das hat sich gehalten bis heute wahrscheinlich, weil es marketingtechnisch auch besser ist, von Mikroalgen oder Süßwasseralgen zu sprechen, als von blau-grünen Bakterien. Man kann Spirulina in Tanks ganz gut züchten und nach der Ernte dann trocknen und dann als entsprechendes grünes Pulver zur Nahrungsergänzung oder so anbieten. Spirulina wird beworben als sehr Eiweißreiches Lebensmittel. Manche sprechen sogar vom Eiweißreichsten Lebensmüll überhaupt. Spirulina soll zudem den hohen Gehalt an Vitaminen und an sekundären Pflanzenstoffen enthalten. Sogar das Chlorophyll wird da dann angepriesen als besonders gesundheitsfördernd. Diese Substanzen sollen dann für alle möglichen positiven Wirkungen verantwortlich sein, Alterungsprozesse hemmen, das Immunsystem stärken, vor Infektionen, sogar vor Krebs schützen und so weiter. Und Fakt ist auch hier jetzt wieder, das sind alles Anpreisungen in einer pseudo-wissenschaftlichen Grauzone. Es gibt zwar eine ganze Reihe von Publikationen, die sich mit Spirulina und Inhaltsstoffen beschäftigen, es gibt aber bislang keine wirklich wissenschaftlich belastbaren Aussagen für eine Wirksamkeit bei Menschen. Insgesamt ist die Studienlage also völlig unzureichend, insbesondere für solche Aussagen wie Immunstimulierend oder so. Und hier gibt es auch eine eindeutige Stellungnahme der EFSA, die ist von 2010. Und nach da sagt die EFSA, dass sie keinen ursächlichen Zusammenhang jetzt zwischen Spirulina und zum Beispiel dem erhalt des normalen Blutglukose-Spiegels messen oder nachweisen konnte. Also entsprechende Werbeaussagen, die sich jetzt irgendwie auf eine gesundheitsbezogene Wirkung beziehen, sind also nicht zulässig und trotzdem findet man dann leider häufig solche Aussagen. Und das gilt auch für das Vitamin B12. Und wie sagt man, Spirulina ist besonders Vitamin B12-reich und damit vielleicht für Veganerinnen und Veganer geeignet. Das ist auch falsch aus wissenschaftlicher Sicht. Spirulina hat zwar Vitamin B12, aber in einer vom Körper schlecht nutzbaren Form ist also nicht bio verfügbar und insofern taugt dann Spirulina auch nicht als Vitamin B12 Quelle. Was vielleicht ganz interessant ist im Zusammenhang mit Spirulina und was tatsächlich auch in der Zukunft interessant sein könnte, ist der interessante Proteingehalt. Spirulina hat relativ viel Protein bezogen auf die Trockenmaße, so rund 60 Prozent, was als Nahrungsergänzung völlig irrelevant ist. Man müsste 10 Tabletten nehmen, dann hat man vielleicht 4-5 Gramm oder so. Das entspricht dann von mir aus einem Esslöffel Magerquark oder 100 Milliliter Milch oder so. Kann aber vielleicht in der Zukunft als Proteinquelle interessant sein zur Nahrungsversorgung dann auch tatsächlich beitragen. Da muss man aber, soweit ich jetzt zumindest wissenschaftlich beurteilen kann, vor allem die Effizienz der Kultivierung noch verbessern. Man muss die Kultivierung der Bakterien dann auch für die Ernte und so weiter optimieren. Auch die Trocknung muss optimiert werden. Der Energieaufwand, den man braucht für die Zucht und für die Trockenheit, das ist noch relativ viel, was man aus wissenschaftlicher Sicht entwickeln muss, kann aber vielleicht in der Zukunft die Gewinnung dieses Bakterien oder Spirulina-Algenproteins ganz interessant sein, hinsichtlich einer weiteren Alternative für tierische oder auch pflanzliche Proteine.
Peer Kittel: Jetzt hast du es gerade im Hinblick auf die Spirulina schon angedeutet. Beziehen wir uns noch mal auf die Superfoods, die offensichtlich dann doch in aller Erster Linien Marketingbegriff sind. Und es wird ja da dann auch entsprechend beworben, nämlich insbesondere mit ganz tollen und hohen Nährstoffangaben. Ist das denn zulässig? Also darf man dann einfach drauf schreiben, reich an Protein, reich an Vitamin. Da gibt es doch bestimmt auch Lebensmittelrechtliche Regelungen.
Thomas Henle: Das ist Lebensmittelrechtlich sogar ganz genau geregelt. Per und zwar gibt es eine EU-Verordnung, die hat die Nummer 1924/ 2006. Das ist die Verordnung über Nährwert und gesundheitsbezogene Angaben in Lebensmitteln. Und diese Verordnung, die heißt umgangssprachlich auch Health Claims Verordnung. Ein Health Claim ist auf Deutsch eine Gesundheitsbehauptung. Da gibt es zum verschiedenen solcher Claims, die in dieser Verordnung genau geregelt sind. Und da steht dann ganz genau drin, was erfüllt sein muss, damit man diese Aussage auf Lebensmittel drauf schreiben darf. Also zum Beispiel Proteinreich, reich an Vitamin C oder so. Wenn er so das drauf steht, dann muss ihm eine ganz bestimmte Menge Protein, eine ganz bestimmte Menge Vitamin C im Lebensmittel drin sein und dann dürfen die Hersteller so was drauf schreiben. Hinweise auf bestimmte andere Inhaltsstoffe, zum Beispiel in hohem Chlorophylle, die sind durchaus zulässig. Man darf aber dann nicht assoziieren, dass mit diesem Chlorophylle Gehalt vielleicht irgendwelche gesundheitsbezogene Aspekte verbunden sind.
Peer Kittel: Wie ist das mit konkreten Hinweisen auf die Vermeidung von Krankheiten oder eben positiven Einflüssen auf die Gesundheit? Also dürfte man jetzt drauf schreiben, stärkt das Immunsystem oder senkt den Cholesterinspiegel?
Thomas Henle: Ja, auch das ist dann ganz genau geregelt in dieser Health Claims Verordnung. Das werden dann sogenannte Risikoverminderungsclaims, Risk Reduction Claims, nenne die das professionell. So was wie zum Beispiel stärkt die Abwehrkräfte oder so. Und von diesen Claims sind in der Tat nur ganz, ganz wenige erlaubt. Und die sind nur dann erlaubt, wenn das betreffende Lebensmittel ein sehr, sehr aufwendiges Zulassungsverfahren durchlaufen hat. Da müssen die Hersteller ganz umfangreiche Studien vorlegen, auch beweisen, dass ihr Claim, also zum Beispiel senkt den Cholesterinspiegel, auch wirklich wissenschaftlich fundiert ist, dass die Wirkung beim Menschen auch dokumentiert ist und vor allem, dass man auch normale Mengen des Lebensmittels braucht, um diese Wirkung zu verursachen. Also um es kurz zu machen, für kein einziges der vermeintlichen Superfoods ist bislang ein Health Claim zugelassen. Und Werbeaussagen wie zum Beispiel Spirulina, stärkt das Immunsystem, sind damit eigentlich nicht zugelassen.
Jule Wäntig: In der Werbung werden ja immer nur die Vorteile von diesen jetzt angeblich, wie du gemeint hast, Superfoods genannt. Ich lasse mich von genau dieser aber dann doch immer mal beeinflussen und wenn ich es im Supermarkt sehe, will ich es wenigstens mal ausprobieren. Gibt es denn Risiken oder andere Nachteile, die mit Superfoods verbunden sind?
Thomas Henle: Also ich finde es auch gut, dass man das ausprobiert, ganz ehrlich. Also es ist ja gegen die Superfoods an sich, es ja nichts anzuwenden und man kann es ja auch einfach um sein, sagen wir kulinarischen Horizont zu erweitern, immer durchaus mal ausprobieren. Das Problem ist nur, dass viele dieser Superfoods von recht weit herkommen und damit ist es aus Lebensmittelchemischer Sicht immer die Frage auch nach der Qualität der Produkte, nach den geltenden Regelungen des Anbaus in den betreffenden Ländern, nach dem Transport, nach einer möglichen Belastung mit Pestiziden, Schwermetallen und so weiter, dem Energieaufwand, den man braucht, um die Produkte über so weite Strecken herzubringen. Also die Frage der Nachhaltigkeit ist meines Erachtens hier durchaus auch immer relevant, also rechtfertigt der Import dieser Lebensmittel, den hohen Aufwand und Energie an CO2 und so weiter. Und dann gibt es noch ein Problem, was offensichtlich durchaus relevant werden könnte, gerade auch in der nächsten Zeit und zwar die hohe Nachfrage nach bestimmten Superfoods in den Produktionsländern mittlerweile gewisse Probleme nach sich gezogen. Also zum Beispiel die Rodung von Wäldern, um dann entsprechende Produktionen aufzubauen. Es ist beispielsweise bei Quinoa schon so, dass der, sagen wir, der Hype, um dieses exotische Lebensmittel dazu führt, dass aufgrund der hohen Nachfrage für den Export die Versorgung mit diesem Lebensmittel in den originären Anbau Ländern in Gefahr gerät. Und das ist natürlich dann eine sehr, sehr problematische Situation, wenn sozusagen sich die Industrienationen, die vermeintlichen Superfoods, die eigentlich Grundnahrungsmittel in bestimmten Ländern darstellen, so rein aus Luxus-Sicht, wenn ich mir so sagen darf, kaufen. Ja, und das ist natürlich noch ein Risiko, hinsichtlich der Zunahmen Allergien möglicherweise zu diskutieren. Neue Lebensmittel, die wir bisher nie in großem Umfang gegessen haben, sind immer eine potenzielle Quelle für mögliche Allergien.
Jule Wäntig: Als Studentin muss ich sagen, dass auch der hohe Preis ganz schön abschreckend ist. Immer gibt es dann auch einheimischer Lebensmittel, die als Alternativen zu diesen ganzen exotischen Superfoods gelten. Hier gibt es ja auch ganz viele Beeren, Samen und Nüsse.
Thomas Henle: Ja, absolut. Wir können uns problemlos durch unsere langen bekannten Lebensmittel ausgewogen und gesund ernähren. Ich möchte es wirklich hier nicht falsch verstanden werden. Ich will nicht davon abraten, diese neuen Lebensmittel zu essen. Man kann aber tatsächlich, wenn man jetzt unbedingt, aus welchem Grün auch immer, mehr Vitamine und Mineralstoffe aufnehmen möchte, dann problemlos, sagen wir, alltägliche, lange bekannte Produkte essen. Viel Vitamine ist zum Beispiel in Zitrusfrüchten, in Paprika, in Sanddornsaft, viel Eisen ist, also in Fleisch, auch in Nüssen. Wenn man jetzt unbedingt das Gefühl haben will, sich mit Antioxidantien was Gutes zu tun, dann kann man statt exotischer Goji oder Acai-Beeren auch Heidelbeeren oder Johannes-Beeren oder Trauben essen. Statt Chiasamen kann man Leinsamen nehmen, statt Quinoa auch Weizen oder Rocken, Vollkornmehl allgemein. Auch Harfe oder Hirse, die haben eben auch viele Ballaststoffe und die sind halt vor allen Dingen auch deutlich günstiger. Und umsetzend nochmal bezogen auf die Nahrungsergänzungsmittel ganz generell festzuhalten, außer vielleicht bei einer veganen Ernährung und einem erwiesenen Vitamin D-Mangel sind Nahrungsergänzungsmittel bei einer einigermaßen ausgewogen Ernährung komplett überflüssig Rausgeschmissenes Geld.
Peer Kittel: Dann vermeiden wir vielleicht mal, das Wort Superfoods, aber wenn du jetzt zwei Lebensmittel nennen müsstest, die du bezüglich der Zusammensetzung als besonders wertvoll bezeichnen würdest, was wären die denn?
Thomas Henle: Also von den tierischen Lebensmitteln wäre das aus meiner Sicht immer Milchprodukte, sowas wie Quark oder Joghurt möglichst ungesüßt und dann eben in Mischung mit irgendwelchen Früchten. Und von den pflanzlichen Lebensmitteln ist mein persönliches Superfoot, Jule, da wirst du zustimmen, die Kartoffel. Manche kennen vielleicht das Buch der Marsianer und der Held hat sich da ja nun auf dem Mars gestrandet, jahrelang von Kartoffeln ernährt und das ist aus Lebensmittel chemisch durchaus ganz realistisch. Also in Kombination zum Beispiel Pellkartoffeln mit Quark, das wär jetzt sozusagen mein persönliches Superessen.
Jule Wäntig: Ich hab von Anfang an gesagt, dass die Kartoffel in all ihren Ausführungen einfach das Beste und das eigentlich wichtigste Lebensmittel ist.
Peer Kittel: Ja, wobei dann muss ich jetzt doch nochmal nach dem Harzer Käse fragen, wie ist das?
Thomas Henle: Ja, jetzt sagen wir mal, ob es ein Superfood ist, ist auch immer Geschmackssache und Geruchssache, würde ich mir so sagen, aber ist bestimmt auch lecker.
Peer Kittel: Ja, dabei bleibe ich auch. Lieber Thomas, liebe Jule, hab vielen Dank. Auch heute wieder für das super spannende Gespräch. Ja, hinter dem Begriff Superfoods steckt also vor allem eine ausgetüftelte Marketingstrategie, die für die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht unbedingt so super ist. Viele einheimische Produkte liefern die gleichen Nährstoffe. Es kommt deshalb wie immer vor allem auf die Ausgewogenheit der Ernährung an. Wenn Superfoods einem ein gutes Lebensgefühl vermitteln, kann man sie durchaus genießen, aber immer mit dem Wissen, dass diese Produkte nicht exklusiv mit Gesundheit verbunden sind. Ja, ich würde sagen, wir gehen jetzt erst mal in die Mensa. Vielleicht gibt es da ja heute Quark mit Kartoffeln. Ich glaube, der Harzer steht da nicht auf dem Menüplan, aber das will ich auch mal durchgehen lassen. Ja, wenn Sie unseren Podcast super finden, dann hören Sie gerne auch unsere weiteren Folgen. Foodfacts gibt es immer am 24. des Monats auf der Webseite der TU Dresden und überall da, wo es Podcasts gibt. Wenn Sie Themenwünsche rund um Lebensmittel und Lebensmittelchemie oder auch Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de. Das war Foodfacts, der Lebensmittelchemie Podcast der TU Dresden. Bis zum nächsten Mal.
Outro Musik
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Vegane Ernährung und Nährstoffmangel
Weikertz, C. et al., Dtsch. Arztebl. Int. 2020, 117, 575-582
Folge 4: Honig, das flüssige Gold - aber was steckt wirklich drin?
Ob aufs Brot, zum Backen oder als Hausmittel bei Erkältungen - rund ein Kilogramm Speisehonig konsumieren die Deutschen durchschnittlich pro Jahr. Das flüssige Gold ist nicht nur lecker, sondern ihm wird seit jeher auch eine medizinische Wirkung nachgesagt. In Folge 4 unseres Lebensmittelchemie-Podcasts klären wir mit dem Experten Prof. Thomas Henle, welche Stoffe im Honig enthalten sind, wie Herstellung und Vermarktung geregelt sind und ob das Naturprodukt wirklich heilende Kräfte besitzt. Außerdem erfahren wir mehr über den berühmten Manuka-Honig, zu dem das Team von Thomas Henle bereits seit mehreren Jahrzehnten intensiv an der TU Dresden forscht.
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Peer Kittel: Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden. In unserer heutigen Folge sprechen wir über ein ganz besonderes Naturprodukt, den Honig.
Intro Musik
Peer Kittel: Wie Sie vielleicht aus der Presse erfahren haben, hat sich die EU Anfang des Jahres auf Kennzeichnungspflichten für Honig geeinigt, so konnten Hersteller bisher die wahre Herkunft von Honig hinter nichts sagenden Angaben verschleiern, womit nun Schluss sein soll. Die bloße Angabe, ob das Produkt aus der EU stammt, reicht damit nicht mehr aus. Künftig muss die genaue Herkunft angegeben werden. Zum Hintergrund dieser Kennzeichnungspflicht, aber auch zum Thema Honig ganz allgemein, sowie auch zu besonderen Honigsorten wie den begehrten Manuka Honig, sprechen wir heute mit unserem Experten Thomas Henle von der TU Dresden. Wir, das sind wie immer Studentin Jule Wäntig und ich, Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Insofern, ihr kennt das schon. Hallo Thomas, hallo Jule.
Thomas Henle: Hallo Peer, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo!
Peer Kittel: Thomas, starten wir mal ganz einfach. Vielleicht kannst du uns zunächst erklären, was Honig ist und ja, wie er entsteht.
Thomas Henle: Ja, Honig ist ein tierisches Lebensmittel. Honig wird von der Honigbiene, der heißt auf lateinisch Apis mellifera erzeugt. Und die Bienen, die produzieren in Honig für sich selbst als Futter beziehungsweise zur Nahrungsvorsorge und dazu sammeln sie den Nektar von Pflanzenblüten ein. Der Nektar wiederum ist ein in den Blüten produziertes Sekrete, das jede Menge Zucker, Glucose, Fruktose, Sacharose enthält und eben auch Mineralstoffe Finole, vor allem auch Duftstoffe von diesen Duftstoffen und genauso auch von der Farbe der Blüten werden die Bienen angelockt und saugen dann den Nektar aus den Blüten auf. Nebenbei sammeln sie auch die Blütenpollen ein, transportieren die zu den anderen Blüten und tragen sie zur Bestäubung und zur Ausbreitung der Pflanzen bei. Das ist eine ganz klassische Symbiose. Es gibt eine zweite Quelle für den Honig. Das ist neben dem Nektar, der sogenannte Honigtau. Der Honigtau wiederum ist ein Ausscheidungsprodukt von anderen Insekten, zum Beispiel von Blattläusen oder Flöhen, die auf den Blättern von Pflanzen leben. Dort die Blätter anstechen, die Flüssigkeit aussaugen und dann als sogenannten Honigtau wieder ausscheiden. Es kennt vielleicht manche von Autos, die im Sommer unter zum Beispiel Ahornbäumen oder Lindenbäumen stehen, die stark von Blattläusen besiedelt sind und da hat man dann nach ein paar Stunden auf den Autos so einen klebrigen Überzug. Und das ist eben ganz genau dieser Honigtau. So der Nektar bzw. der Honigtau, der wird jetzt von den Arbeiterbienen im Bauch abgespeichert, in der sogenannten Honigblase und zurück in den Bienenstock gebracht. Interessant ist das, da die Bienen bereits dem Honig bestimmte Stoffe Sekrete zusetzen. Man sagt aus chemischer Sicht Enzyme, genauer gesagt Glucosidasen, die die Zucker aufspalten, zum Beispiel aus der Sacharose, dann die einfach Zucker Glucose und Fruktose produzieren. Es entsteht also quasi in der Biene bereits so eine Art vorverdauter Nektar. Wenn die Bienen dann zurück sind im Bienenstock, dann müssen sie diesen Nektar wieder ausscheiden und ganz wichtig eindicken, also zähflüssiger machen, den Wassergehalt reduzieren, um ihr Futter quasi haltbar zu machen. Jetzt macht die Bienen zunächst selber, indem sie den Nektar tropfen über ihren Rüssel ausscheidet und wieder aufnimmt und diesen Prozess so mehrfach wiederholt. Dabei wird dann der Nektar gewissermaßen vorgetrocknet auf so Wassergehalte von so 30 bis 40 Prozent, das ist dann schon recht zähflüssig. Und die zweite Trocknung, die passiert dann im Bienenstock, da wird dann der in die Waben gefüllte eingedickte Nektar durch die Bienen, durch das Fächeln mit ihren Flügeln endgetrocknet. Die tun sich also quasi zusammen, erzeugen so eine Art Staubsauger oder Trocknungsmaschineneffekt und trocknen den Honig dann auf Wassergehalte von unter 20 Prozent, der dann letztlich auf die Art und Weise mehr oder weniger unbegrenzt haltbar ist. Wenn der Honig dann trocken ist, dann werden die Waben mit Wachs überzogen. Da sagt man in der Imker-Reihe dazu, die Waben werden verdeckelt, das ist das Zeichen dafür, dass der Prozess abgeschlossen ist und dann kann der Imker oder die Imkerin den Honig gewinnen, indem sie ihn aus den Waben heraus schleudert mit so einer Art Zentrifuge oder Honigschleuder, so bei maximal 35 bis 40 Grad, wo der Honig so ein bisschen flüssiger wird, dann werden die festen Bestandteile abgetrennt, zum Beispiel Wachs oder so, und dann wird der Honig eigentlich fertig.
Peer Kittel: Und wie sieht das jetzt chemisch aus? Welche Bestandteile sind denn da drin?
Thomas Henle: Also Honig ist zunächst mal Zucker, und zwar auf einigen Glucose, also der Traubenzucker und die Fructose, das ist der Fruchtzucker, die machen zusammen so 70 bis 75 Prozent des Honigs aus, die beiden kommen so ganz grob im Verhältnis eins zu eins vor, man weiß, dass mancher Honig eher flüssig ist, manche kristallisieren und dieses kristallisieren oder flüssig sein, das hängt ab vom Verhältnis der beiden Zucker, wenn da so mehr Fructose drin ist, also mehr Fruchtzucker, dann ist der Honig eher flüssig und umgekehrt, wenn der Glucose höher ist, dann wird er eher kristallin sein und zu diesem vielen Zucker kommen da noch ein paar andere Bestandteile vor allen Dingen Wasser, so etwa ein Fünftel, also 20 Prozent des Honigs ist Wasser, ja und dann bleiben doch so drei für fünf Prozent und das sind dann Inhaltsstoffe, wie zum Beispiel Proteine, Enzyme aus den Bienen, freie Aminosäure, Mineralstoffe, Vitamine, Polyphenole, ist alles möglich an Minorkomponenten, die jetzt den Honig zu einem interessanten Naturprodukt machen und aus chemischer Sicht auch sehr sehr interessant. Allerdings zu Aussagen, wie Honig enthält wertvolle Spurenelemente und Vitamine oder so, die sind aus Ernährungsphysiologischer Sicht sich völlig übertrieben, denn mit dem, was im Honig drin ist an zum Beispiel Vitaminen oder Mineralstoffen, würde man definitiv keinen maßgeblichen Beitrag zum Zufuhr dieser essenziellen Natur, diese essenziellen Nährstoffe leisten, dann müssen wir, ich habe es nicht ausgerechnet, aber wahrscheinlich kilowiese Honigessen und tatsächlich jetzt für die Vitaminversorgung irgendwie wir es beizutragen.
Jule Wäntig: Wann haben die Menschen gemerkt, dass dieser Honig lecker ist und dass man den von den Bienen gewinnen kann?
Thomas Henle: Das haben die gemerkt, wahrscheinlich so etwa vor ungefähr 10, 12.000 Jahren, es gibt sehr hübsche Höhlenmalereien in Spanien, in denen man einen sogenannten Honigjäger sieht, wie er bezeichnet wird, so eine Gestalt, die einen Baum hoch klettert und da aus einem Wildbienennest den Honig rausholt, tatsächlich gezielt hergestellter Honig oder sagen wir besser unter der Nutzung von Hausbienen, so kann man es vielleicht sagen, das begann so vor vielleicht 8.000 bis 9.000 Jahren, das war in der Gegend der heutigen Türkei, das war so mit der Sesshaft Werdung des Menschen, hat man dann auch Hausbienen gehalten gewissermaßen. Ja, dann kann man ins Ägypten 3000 vor Christi gehen, da hat man Honig als Grabbeigabe genutzt, als Göttergeschenk gewissermaßen, ja und dann gibt es Berichte aus der antike Hippokrates 400 vor Christi Geburt, soll Rezepte für Honigmedizin entwickelt haben, also Honig wird sehr, sehr lange gewissermaßen in der Menschheitsgeschichte verwendet. Wenn man bei der Gelegenheit vielleicht jetzt in die heutige Zeit zurückspringt und man überlegt, dass Honig heute tatsächlich jetzt ein Massenprodukt ist, es werden weltweit rund 1,6 Millionen Tonnen pro Jahr produziert auf der ganzen Welt, am allermeisten so grob ein Viertel davon in China, rund 500.000 Tonnen, der zweitgrößte Hersteller ist die Türkei und Deutschland ist dann in der Rangliste der Hersteller eigentlich relativ weit unten, bei uns wären so rund 30.000 Tonnen, das ändert sich von Jahr zu Jahr so ein bisschen produziert, allerdings sind die Deutschen, was den Honigkonsum anbelangt ganz weit vorne, im Schnitt ist jeder Deutsche, jede Deutsche rund 1 Kilo Speisehonig pro Jahr und um diesen Honigbedarf zu decken, muss Deutschland ganz viel Honig importieren, so etwa 2 Drittel des Honigs, der bei uns gegessen wird, die wird tatsächlich dann importiert.
Peer Kittel: Neben der geschichtlichen Einordnung sind wir auch immer dran, dann das Thema Lebensmittel Recht in den Blick zu nehmen. Insofern, welche Aspekte gibt es denn da? Gibt es spezielle Vorgaben für Honig?
Thomas Henle: Ja, da gibt es absolut, da gibt es super spezielle Vorgaben. Honig gehört so zu den am besten geregelten Lebensmitteln überhaupt. Honig ist ja das per Definition Naturprodukt und entsprechend gibt es eine EU-weit gültige Honigverordnung, da gibt es eine Richtlinie, die hat die Nummer 2001 schrägstrich 110 EG und diese Honigverordnung regelt nun alles mögliche, die regelt die Honig-Gewinnung, die Anforderungen an die Honig- Beschaffenheit, ganz vor allen Dingen natürlich regelt es, wie man garantieren kann, dass der Honig Natur belassen bleibt, man darf also dem Honig nichts zusetzen, man darf zum Beispiel keine Konservierungsstoffe oder keine Aromastoffe rein machen, man darf auch nichts entziehen, um den Honig auf die Art und Weiße vielleicht in der Zusammensetzung zu verändern. Das einzige, was man darf, ist filtrieren, aber auch das muss man dann hinterher angeben. Aus chemischer Sicht ist ganz spannend, dass es da auch definierte Vorgaben gibt, vor allen Dingen für den Wassergehalt. Der Wassergehalt darf maximal 20 Prozent sein, da gibt es eine Ausnahme beim Heide-Honig, da dürfen es 23 Prozent sein, denn das regelt die Haltbarkeit, denn wenn der Honig maximal 20 Prozent Wasser hat, können praktisch keine Bakterien, keine Hefen mehr wachsen, wenn es mehr wären, dann besteht die Gefahr der Gehrung, insofern regelt man hier den Wassergehalt ganz streng und ganz streng ist die Wärmebehandlung geregelt. Also Honig darf nicht Wärme behandelt werden, da gibt es analytische Parameter, die sogenannte Diastase-Zahl, das ist ein Enzymen, was im Honig drin ist, was sehr leicht dann durch die Erhitzung inaktiviert wird und es gibt eine analytische Größe, den sogenannten HMF-Wert, Hydroxymethyfurfural heißt es, das ist eine Verbindung, die entsteht beim Erhitzen aus der Gluckhose oder aus der Fructose und auch die darf nur zu einem bestimmten Gehalt, maximal 40 Milligramm pro Kilogramm drin sein. Wenn diese Werte jetzt nicht eingehalten werden, dann ist es ein Hinweis darauf, dass der Honig erhitzt wurde und dann ist er, man sagt, nicht mehr verkehrsfähig, aber nicht mehr als Speisehonig verkauft werden.
Peer Kittel: Ja, vielleicht nehmen wir an der Stelle dann noch mal die Eingangsfrage auch in den Blick. Was hast du denn von der neuen Kennzeichnungspflicht für Honig zu den Herkunftsländern?
Thomas Henle: Also tatsächlich hat sich das ja geändert, weil wird sich jetzt in der nächsten Zeit ändern. Bislang war das in der Tat etwas diffus geregelt, man hatte bisher das Ursprungsland zwar angeben müssen, allerdings wenn es nur ein Ursprungsland war, dann musste man dieses Land auch benennen. Wenn es mehrere Ursprungsländer waren, dann gab es so Regelungen wie Mischung von Honig aus EU-Ländern oder Mischung von Honig aus EU-Ländern und nicht EU-Ländern. Das heißt, der Verbraucher, die Verbraucherin wusste dann nicht mehr, aus welchem Land es ist und das ist dann schon auch etwas, ich sage mal, relevant vielleicht, wenn man überlegt, worum möchte ich meinen Honig herhaben, auch so vor Hintergrund der Nachhaltigkeit oder irgendwie so, wirst vielleicht schon ganz gut zu wissen, ob diese Mischung aus EU-Ländern und nicht EU-Ländern dann bedeutet, dass 95 Prozent z.B. aus China sind oder so. Tatsächlich muss jetzt künftig dann dieses Herkunftsland deutlich erkennbar angegeben werden und es muss auch angegeben werden, wie hoch der prozentuale Anteil des betreffenden Landes ist. Das ist natürlich wieder so ein gewisser Regelungs- und auch Analytik-Prozess vielleicht, der dann dahintersteckt, aber ich denke schon, dass es den Verbrauchern und Verbrauchern dann eine recht interessante Zusatzinformation gibt, wenn man eben sich überlegt, dass man Honig eben aus bestimmten Ländern vielleicht doch bewusst dann eben deutschen Honig kaufen möchte.
Jule Wäntig: Der Garten meiner Eltern liegt an einer Lindenallee und der Benachbarte Imker verkauft Lindenblüten Honig. Nun habe ich schon öfter die Bienen auch an unseren normalen Blumen erwischt. Ist es dann überhaupt noch Lindenblüten Honig, wenn unsere regulären Blumen damit reingemischt werden?
Thomas Henle: Ja, sag ich mal, wenn der Honig überwiegend aus Lindenblüten Honig besteht, das ist tatsächlich jetzt die Formulierung in der Honigverordnung, da steht drin, dass ein sogenannter Sorten Honig, also ein Honig, bei dem die Tracht, wie man sagt, ausgelobt wird, also zum Beispiel Lindenblüten Honig, Akazien Honig oder so, die dürfen sich so bezeichnen, wenn laut Honigverordnung der Honig vollständig oder überwiegend aus der betreffenden Tracht stand. Überwiegend heißt da mindestens 60 Prozent. Das ist analytisch durchaus nicht einfach, denn in der Tat ist kein Honig 100 Prozent aus einer Tracht, da kommt immer noch ein bisschen was anderes mit rein. Analytisch wird es erfasst durch die sogenannte Melissopalynology. Das ist eine mikroskopische Untersuchung des Honigs und eine Analyse der Pollen und da kann man dann die Pollen tatsächlich identifizieren, auch auszählen und so dann in etwa abschätzen, welche Pflanzen zu welchem Anteil da mit in den Honig hinein gekommen sind. Es geht aber nur bei ungefilterten Honig und man braucht da sehr, sehr viel Erfahrung, also das können ja nur relativ wenig Leute. Tatsächlich kommen aber auch nur zu Aspekte wie Geschmack und Aroma dazu, die dann auch charakteristisch sein müssen oder charakteristisch vorhanden sein müssen, damit man den Honig tatsächlich dann als Sortenhonig bezeichnet.
Jule Wäntig: Honig ist ja auch ein beliebtes Hausmittel und auch ich habe, wenn ich krank war, abends mal eine heiße Milch mit Honig bekommen. Ob das jetzt wirklich geholfen hat, kann ich nicht mehr so sagen, aber was sagst du als Experte denn dazu?
Thomas Henle: Also wenn es geholfen hat, ist es ja zunächst einmal gut. Viele dieser Hausmittel beruhen natürlich dann auf Jahrzehnte oder Jahrhunderte Überlieferung, ob tatsächlich jetzt ein wissenschaftlicher Nachweis dahinter steckt, das ist immer sehr, sehr umstritten und das ist auch beim Honig so. Es gibt in der Tat jetzt wissenschaftliche Belege, dass Honig antibakterielle Bestandteile enthält. Das weiß man seit den 1930er Jahren. Da hat man dann den Begriff der sogenannten Inhibine geprägt, wobei Inhibine jetzt nicht von der Biene kommt, also nicht mit E geschrieben, sondern von Inhibitor, also von Hemmstoff und zwar hatte man da erkannt, dass Honig ein bestimmtes Enzym enthält, die sogenannte Glucose-Oxidase, die stammt von der Biene und diese Glucose-Oxidase, die bildet, wenn man den Honig verdünnt, mit Wasser, Wasserstoffperoxid, das kennt der ein oder andere immer als Desinfektionsmittel oder auch vom Haare bleichen, ja und dieses Wasserstoffperoxid hat tatsächlich jetzt eine Wirkung gegen Bakterien, die hemmt also, bzw. hemmt bestimmte Bakterien. Gleichzeitig hat Honig einen osmotischen Effekt, das heißt durch den charakteristischen Wassergehalt kommt es noch dazu zu einer Unterdrückung des Bakterienwachstums. Also es gibt schon Belege, dass Honig tatsächlich gegen bestimmte Bakterien wirkt, ob jetzt tatsächlich dann in so Mischungen wie heißer Milch mit Honig oder irgendwie so tatsächlich jetzt medizinisch begründbare Effekte nachweisbar sind. Das ist schon ein bisschen, ich sage mal, fraglich. Honig ist ein Stärkungsmittel, Honig hilft vielleicht auch bei Erkältungen den Schleim abzusondern oder so, aber so wirklich ernsthaft wissenschaftliche Belege gibt es da meines Erachtens sehr, sehr wenige.
Peer Kittel: Und trotzdem gibt es ja Honig, der ganz besonders mit dem Thema Gesundheit assoziiert ist. Stichwort Manuka Honig, ich denke, ja ich kann das hier vielleicht auch mal verraten, wir haben es hier in der Runde ja nicht nur mit einem lebensmittelchemie-Experten zu tun, sondern also ganz bewusst mit einem Manuka-Honig-Experten, lieber Thomas. Ja wie ist das denn mit dem Manuka-Honig? Was ist das überhaupt und was ist das Besondere an Manuka-Honig?
Thomas Henle: Also Manuka-Honig ist ein von den Honigbienen aus dem Blüten Nektar der Sogenannten Südseemyrte, des Manuka-Strauchs produzierter Honig, Leptospermum scoparium heißt der auf Lateinisch, da gibt es übrigens auch einen bei uns im botanischen Garten in Dresden. Dieser Manuka-Baum oder Strauch, der wächst in Neuseeland, eigentlich nur in Neuseeland und in einigen Regionen im Südosten von Australien und der bildet im Dezember so kleine Blüten, ein Zentimeter große, hübsche Blüten und der Nektar aus diesen Blüten dient dann quasi den Bienen zur Produktion des Manuka-Honigs. Der ist wie gesagt ausschließlich in Neuseeland bislang produziert, dort werden dann pro Jahr so rund 8.000 Tonnen produziert, 3 Viertel davon so etwa als Monofloraler, es macht mengengenmäßig auf die Welt, erzeugt natürlich nicht ganz so viel aus, ist eine Spezialität für Neuseeland. Und der war bis in den 1990er-Jahren bei uns eigentlich relativ unbekannt, wir haben da ein paar Publikationen gefunden, die gezeigt haben, dass dieser Honig eine besondere Antibakterielle Wirksamkeit haben soll, eine sogenannte nicht peroxidische Antibakterielle Wirksamkeit, das heißt neben dieser Glucose-Oxidase eben auch noch andere Stoffe, die jetzt dann quasi eine sehr, sehr starke Wirkung gegen Bakterien ausüben, sondern man wusste aber nicht, was es ist. Und da konnte man dann in einer Promotion, auch in Zusammenarbeit mit dem Institut für Mikrobiologie bei uns an der TU Dresden herausfinden, welche Verbindung tatsächlich für diese spezifische Antibakterielle Aktivität verantwortlich ist. Das war 2006, die Originalpublikation war dann 2008 und so ist es eine Verbindung, die heißt Methylglyoxal, MGO, das ist eine Verbindung, die aus dem Zucker entsteht, wie ganz genau, weiß man gar nicht so, weiß man heute noch gar nicht so ganz genau, aber was man mittlerweile weiß, ist, dass diese Verbindung ausschließlich oder maßgeblich für die Antibakterielle Wirksamkeit im Manuka-Honig verantwortlich ist und darauf aufbauend entstanden eine ganze Reihe von Untersuchungen, auch mittlerweile ganz gut wissenschaftlich belegte Studien, die zeigen, dass Manuka-Honig beispielsweise in der Wundheilung sehr gute Wirksamkeit haben kann. Das ist aber dann kein Honig, natürlich schon ein Honig, aber das ist kein Lebensmittel mehr, sondern das ist ein Medizinprodukt, das muss man dann hier immer wieder so ein bisschen mit in die Diskussion einbringen.
Peer Kittel: Insofern ist da also dann wirklich was dran und das hat ja dann auch dazu geführt, dass die Preise für Manuka Honig deutlich angezogen haben und das wiederum ruft dann natürlich Leute auf dem Plan, die das für sich versuchen zu nutzen. Insofern gibt es ja dann doch relativ viel gefälschte Ware auf dem Markt. Hast du denn ein Expertentipp für die Verbraucherinnen und Verbraucher, wie sie da vielleicht sich vor falschen Angeboten schützen können?
Thomas Henle: Es ist in der Tat so, dass Manuka-Honig gefälscht werden kann. Da gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten. Zum einen ist, dass man Honig als Manuka Honig verkauft, der keiner ist, also der aus anderen Pflanzen stammt und das zweite ist, dass man dieses Methylglyoxal, also diese wirksame Substanz quasi artifiziell oder künstlich zumischt. Das werden so die beiden Möglichkeiten, Manuka Honig zu faken, wenn man das so sagen darf. Allerdings muss ich sagen, ist dieses Thema in der Öffentlichkeit, in der öffentlichen Wahrnehmung bzw. in öffentlichen Berichterstattung oft ein bisschen sehr übertrieben dargestellt. Da gibt es zum Beispiel so Zahlen, die man auch auf Wikipedia immer noch findet, wo dann dort steht, wo dann drin steht, dass 1.700 Tonnen produziert werden in Neuseeland und 10.000 Tonnen vermarktet werden und diese Zahlen entbehren, das muss man ganz klar so sagen, entbehren jeder Grundlage. Es gibt mittlerweile vom Landwirtschaftsministerium in Neuseeland, das ist das MPI des Ministry for Primary Industries, die publizieren jährlich ihre Produktionsdaten. Für 2023 haben die publiziert, dass es 6.000 Tonnen Monofloralen und 2.000 Tonnen Multifloralen Honig gibt. Also es ist ein bisschen weit weniger dramatisch, dass es in der Öffentlichkeit oft dargestellt wird. Trotzdem kann es natürlich vorkommen. Und wenn deine Frage jetzt Peer, was kann man als Verbraucherinnen, das Verbraucher tun, was kann man jetzt machen, um sich vor diesen potenziellen Faken zu schützen, ich würde da immer sagen, es gibt zum einen Analysenmethoden, mit der Hilfe man das nachweisen kann. Da haben auch wir mit dazu beigetragen, es gibt Kriterien, mit deren Hilfe man analysieren kann, ob jetzt ein Honig wirklich ein Manuka Honig ist und aus Neuseeland stammt. Da gibt es auch exakte Vorgaben des entsprechenden Ministeriums, die müssen erfüllt sein, damit der Honig so bezeichnet werden kann. Und es gibt auch Analysenmethoden, man kann quasi wie so eine Art Fingerabdruck bestimmter Inhaltsstoffe analysieren, um nachzuweisen, ob es wirklich natürliches Metüglööksal ist. Und es führt dann schon auch dazu, dass die potenziellen Fälscher da, ich sage mal, vorsichtig sind. Als Verbraucher, als Verbraucher würde ich immer sagen, wenn der Methylglyoxalgehalt drauf steht, also MGO, so und so viel Milligramm pro Kilogramm, oder wenn ein Wert drauf steht, der UMF heißt, es ist ein anderer Qualitätsparameter, der Unique Manuka Faktor, der letztlich nichts anderes ist, wie der umgerechnete MGO-Gehalt, dann ist man schon mal auf der sicheren Seite, dann halten sich diese Firmen tatsächlich an auch sehr analytisch definierte Parameter. Und wenn andere so Fantasie-Bezeichnungen draufstehen, wie Active 10 oder irgendwie so, da wäre dann ein bisschen vorsichtig. Und da würde ich dann vielleicht mir dann doch überlegen, ob man den anderen Honig, der rundum steht, das teurer ist, einen anderen Manuka Honig kauft, der tatsächlich diese exakten Labels dann vorhält.
Jule Wäntig: Ihr habt mit eurer Forschung an Manuka Honig ja einen großen Durchbruch erzielt. Vorstehe bereits an anderen Honigsorten. Gibt es spannende Aspekte an Honig, die noch nicht erforscht sind?
Thomas Henle: Also es gibt sowohl für Manuka Honig als auch für andere Honige jede Menge noch interessanter Forschungsgebiete. Wie gesagt, diese 2-3% Minorkomponenten, die haben es, wenn man so will, in sich, die sind also tatsächlich sehr spannend aus analytischer Sicht. Jetzt speziell vielleicht zum Manuka Honig sind so zwei Themen momentan bei uns so in der Forschung. Das eine ist tatsächlich Untersuchungen zum Aroma von Manuka Honig. Dieses Aroma tut tatsächlich dann Regionen spezifisch. Das hängt auch vom Methylglyoxal ab und ist auch etwas sehr charakteristisches für den Honig. Also tatsächlich hier die Bildung und die Identifizierung charakteristischer Aromastoffe ist so ein Forschungsgebiet. Und ein weiteres, was dann vielleicht eher so in Physiologische Aspekte geht, ist, dass wir vor Kürzen zeigen konnten, dass Manuka Honig Inhaltsstoffe enthält, die die antibakterielle Wirksamkeit von Methylglyoxal modifizieren, sogenannte Synergisten. Da kommen Verbindungen Identifizierende, die diese Wirksamkeit deutlich verstärken, also quasi dann dazu führen, dass, wenn sie in entsprechend hoher Menge vorhanden sind, dann, dass der Honig dann noch nicht stärkere Antibakterie Wirksamkeit hat. Und so war es natürlich interessant, weil man auf die Art und Weise dann unter Umständen zumindest Grundlagen legen könnte für eine mögliche medizinische Anwendung des Honigs.
Jule Wäntig: Apropos medizinischer Anwendungen, es gibt ja noch eine Vielzahl weiterer Bienenprodukte und ich kenne da zum Beispiel noch diese Propolis-Kapseln, die bei Erkältung helfen sollen. Sind da Inhaltsstoffe drin, die helfen oder ist das wieder nur so ein Marketing Gag?
Thomas Henle: Ich würde sagen sowohl als auch. Das heißt, Propolis ist zunächst mal etwas, was aus chemischer Sicht sehr spannend ist. Die Bienen produzieren dieses Propolis tatsächlich, um ihren Bienenstock abzudichten. Das ist so ein Kit-Harz gewissermaßen, mit dem sie sich dann gegen Bakterien und Pilze stützen. Tatsächlich enthält dieses Propolis dann auch Inhaltsstoffe, die gegen Bakterien oder Pilze wirken. Von der Zusammensetzung ist es ganz interessant. Das ist also jetzt kein Honig, kein Zucker, ganz was anderes. Es ist eher so eine fettartige Substanz, die enthält viele Wachse, Harze, ätherische Öle, auch der charakteristisch aromatische Geruch, Phenolcarbonsäuren. Und die haben nun tatsächlich eine Wirkung gegen Bakterien. Dazu wird sie auch produziert. Und das kann man dann hinterher aus dem Bienenstücken rauskratzen und dann verwenden. Zum Beispiel Tinkturen für Salben, für Mundwässer, für Lutschtabletten, für Nasensprays, für alles Mögliche. Jetzt ist es allerdings so, dass eindeutige wissenschaftliche Belege für eine Wirksamkeit von Propolis, egal in welcher Zubereitungsform beim Menschen, gibt es nicht. Es gibt interessante einzelne Substanzen, die vielleicht sogar dann auch für medizinische Anwendung interessant sein könnten, allerdings dann in entsprechend isolierter Form vielleicht. Es gibt bislang keine zugelassenen gesundheitsbezogenen Werbeaussagen für Propolis, auch nicht in entsprechenden Nahrungsergänzungsmitteln, auch sowas wie die Stärkung des Immunsystems ist nicht nachgewiesen. Also ich würde da immer sagen, wissenschaftlich ist das in der Grauzone, probiere es aus, wenn es dir gut tut, dann ist es gut und wenn nicht, dann probiere ich was anders aus.
Peer Kittel: Lieber Thomas, vor dem Hintergrund und vielleicht zum Abschluss nochmal Hand aufs Herz, ist Honig wirklich mehr als ein gut schmeckender Zucker?
Thomas Henle: Also zunächst ist Honig primär ein Süßungsmittel, das muss man ganz klar so sagen. Es ist aber, ich sage mal, ein besonders gut schmeckendes Süßungsmittel. Das heißt, Honig enthält Aromastoffe, enthält Stoffe, die tatsächlich dann aus sensorischer Sicht natürlich deutlich mehr sind als reiner Zucker. Es gibt einem vielleicht auch ein gutes Gefühl. Es schmeckt einfach besser, als wenn man es jetzt nur den normalen Zucker nimmt. Man kann aus Honig auch prima Produkte herstellen, wie zum Beispiel Lebkuchen, Met oder Honigbier. Das ist vielleicht ein Thema für eine andere Story. Aber jetzt aus Ernährungsphysiologischer Sicht ist Honig primär ein Zucker. Man tut sich im Endeffekt jetzt nichts hinsichtlich der Gesundheit, wenn man statt Zucker Honig nimmt. Man tut was fürs Wohlbefinden, fürs Wohlgefühl, das alleine ist ja auch schon was wert. Und insofern lasst er denn Honig auch gerne weiterschmecken Peer.
Peer Kittel: Das werde ich tun. Insofern werde ich beim nächsten Frühstück, denke ich, wieder auf Brot und Honig zurückgreifen und dann auch darüber nachdenken, was wir heute hier besprochen haben. Und wenn Sie jetzt Appetit auf noch mehr Food Facts bekommen haben, dann hören Sie sich gerne unsere weiteren Folgen an. Unseren Podcast gibt es immer monatlich auf der Webseite der TU Dresden und überall da, wo es Podcasts gibt. Wenn Sie Themenwünsche rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie oder Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an lebensmittliche.podcast@tu-dresden.de Das war Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden. Bis zum nächsten Mal.
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Mavric, E., Wittmann, S., Barth, G., Henle T., Identification and quantification of methylglyoxal as the dominant antibacterial constituent of Manuka (Leptospermum scoparium) honeys from New Zealand. Mol. Nutr. Food Res. 2008, 52, 483-489
Folge 3: Mindesthaltbarkeitsdatum - Sollte es für einige Lebensmittel abgeschafft werden?
Bundesagrarminister Cem Özdemir hat das Mindesthaltbarkeitsdatum auf lang haltbaren Produkten wie Reis, Tee oder Honig als "komplett sinnbefreit" bezeichnet. Er argumentiert, dass die Abschaffung dieser Vorschrift dazu beitragen könnte, dass weniger dieser Produkte im Müll landen, nur weil ihr Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Ist das so wirklich sinnvoll? Können bestimmte Lebensmittel wirklich nicht verderben? Und wie macht man Lebensmittel eigentlich haltbar? Zu diesen und weiteren Fragen sprechen Moderatur Peer Kittel und Studentin Jule mit Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle von der TU Dresden.
Intro Musik
Peer Kittel: Foodfacts, der Lebensmittelchemie Podcast der TU Dresden. In unserer heutigen Folge wollen wir der Frage nachgehen, ob man das Mindesthaltbarkeitsdatum abschaffen sollte und wenn ja, ob das wirklich gegen Lebensmittelverschwendung helfen könnte.
Intro Musik
Peer Kittel: Als komplett Sinnbefreit beschreibt Bundesagrarminister Cem Özdemir wörtlich das Mindesthaltbarkeitsdatum auf langhaltbaren Produkten wie Reis, Tee oder Honig. Eine Abschaffung dieser Vorschrift soll nun dafür sorgen, dass weniger solche Produkte im Müll landen, weil ihr Mindesthaltbarkeitsdatum schon abgelaufen ist. Ist es so wirklich sinnvoll, können bestimmte Lebensmittel wirklich nichtverderben? Und wie macht mein Lebensmittel eigentlich haltbar? Dazu sprechen wir mit unserem Experten, Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle von der TU Dresden. Wir, das sind wie immer Studentin Jule Wäntig und ich, Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften.
Insofern, wie gehabt, hallo Thomas, hallo Jule.
Thomas Henle: Hallo Per, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo!
Thomas, in meiner WG haben wir kürzlich unseren Vorratsschrank etwas aussortiert und dabei haben wir ziemlich viele Produkte gefunden, die schon abgelaufen sind und noch haben wir sie nicht weggeschmissen. Aber was meinst du, sollten wir das tun?
Thomas Henle: Was habt ihr denn da so gefunden?
Jule Wäntig: Nudeln, Reis, also alles was so in der Studenten-WG sehr viel vorrätig ist.
Thomas Henle: Also wenn der die Verpackung doch in Ordnung war, wenn die Lebensmittel nicht feucht geworden sind, dann können die ohne weiteres noch essen, auch wenn das Haltbarkeitsdatum schon um einige Zeit überschritten ist, dann müsst ihr euch keinen Kopf machen.
Jule Wäntig: Und was sagt dann dieses MHD überhaupt aus und wo ist das festgelegt?
Thomas Henle: Also dieses MHD ist eine Art Garantie der Hersteller, dass das Lebensmittel bis zu dem Termin, der drauf steht, seine Eigenschaften behält. Also den Geruch, den Geschmack, die Konsistenz, den Nährwert. Bei Lebensmitteln mit höherem Wasser gehalten wird zum Beispiel Joghurt oder so. Da bezieht sich das MHD dann auch noch auf mikrobiologische Veränderungen, also zum Beispiel das Wachstum von Hefen oder irgendwie so. Es hat das jetzt aber insgesamt nichts mit einem Schlechtwerden im Sinne von gesundheitlichem Risiko zu tun und viele Lebensmittel eben die genannten trockenen Lebensmitteln, die sind bei ordnungsgemäßer Lagerung ja eigentlich nahezu unbegrenzt haltbar. Vorgeschrieben ist es MHD gemäß einer sogenannten Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung. Da wird dann das MHD letztlich in die Verantwortung der Hersteller gegeben. Das heißt nicht ein Gesetzgeber schreibt vor, wie lange ein Lebensmittel haltbar sein muss, sondern die Hersteller, diejenigen, die das Produkt in den Verkehr bringen, wenn man es fachlich ausdrückt, die müssen dann ein MHD festlegen und eben dieses MHD auch garantieren.
Peer Kittel: Thomas, wenn ich dich richtig verstehe, geht es also beim Mindesthaltbarkeitsdatum eher um Qualität? Die Frage nach gesundheitlichen Risiken spielt dann dabei also keine große Rolle?
Thomas Henle: Ja absolut. Ich meine, man hört ja oft so umgangssprachlich, das Lebensmittel ist verfallen und dieser Begriff, das Verfallsdatum, der existiert ja nun eigentlich nicht und der ist auch in der Sache falsch. Der würde ja bedeuten, dass das Lebensmittel quasi ab dem Tag, der dann als Datum drauf steht, irgendwie ungenießbar geworden ist. Man muss da zwei Begriffe sehr gut auseinanderhalten. Das eine ist das Mindesthaltbarkeitsdatum, was wir gerade schon thematisiert haben und das andere ist das Verbrauchsdatum. Dieses Verbrauchsdatum ist nun recht wichtig, denn das sagt in der Tat jetzt etwas aus über mikrobielle Veränderungen, also zum Beispiel das Wachstum von schädlichen Bakterien. Das betrifft jetzt vor allen Dingen leichtverderbliche Lebensmittel wie zum Beispiel Hackfleisch oder Fertigsalate und bei denen ist dann so, dass die, wenn dieses Verbrauchsdatum überschritten ist und Umständen Bakterien gewachsen sind, die tatsächlich dann vielleicht so gesundheitliche Risiken nach sich ziehen. Also dieses Verbrauchsdatum ist jetzt wirklich streng zu sehen, wenn das überschritten ist, dann sollte man das Lebensmittel nicht mehr essen. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist diesbezüglich eher eine Qualitätsgarantie, also Qualitätsgarantie als MHD und Verbrauchsdatum als Sicherheitsgarantie. So kann man es vielleicht auf den Punkt bringen.
Jule Wäntig: Steht das dann auch auf der Verpackung drauf?
Thomas Henle: Ja, absolut. Die Wortwahl ist da ganz eindeutig. Beim MHD steht drauf Mindestens haltbar bis und dann kommt ein Datum oder eine Jahresangabe und beim Verbrauchsdatum besteht dann drauf zu Verbrauchen bis und eine Datumsangabe und so kann man es dann auseinanderhalten.
Peer Kittel: Hast du jetzt schon ein bisschen angedeutet, aber vielleicht kannst du es noch ein Stück weit präzisieren. Wovon hängt denn jetzt die Haltbarkeit wirklich ab? Also welche Reaktionen laufen denn da ab?
Thomas Henle: Also der wichtigste Parameter, den man für die Haltbarkeit von Lebensmitteln heranziehen muss, ist der Wassergehalt oder genauer gesagt die sogenannte Wasseraktivität. Aus chemischer Sicht sagt man, die Wasseraktivität ist die Menge des Wassers oder der Anteil des Wassers im Lebensmittel, der verfügbar ist für chemische oder mikrobiologische Reaktionen. Und da muss man ein bisschen unterscheiden eben zwischen dem Wachstum von Mikroorganismen und bestimmten Veränderungen, die sich jetzt zum Beispiel durch Reaktionen inzwischen in den Inhaltsstoffen ergeben. Und damit ist eigentlich klar, je mehr Wasser drin ist, umso kürzer ist das Lebensmittel haltbar und umgekehrt je trockener ein Lebensmittel, also zum Beispiel Nudeln oder Reis, da ist aber immer noch etwas Wasser drin, aber dieses Wasser ist quasi so immobilisiert, so in die Inhaltsstoffe gebunden, dass sie quasi nicht mehr verfügbar, dass es nicht mehr verfügbar ist für mikrobiologische Reaktionen und auch nur noch ganz wenig für chemische Reaktionen. In diesen Lebensmitteln können dann praktisch keine Verderbs Reaktionen mehr ablaufen.
Jule Wäntig: Was kannst du denn zur Geschichte des MHD sagen? Seit wann gibt es das überhaupt?
Thomas Henle: Ja, das gibt es, wenn ich mich recht erinnere, seit den 60er Jahren oder genauer gesagt habe, in den 1960er Jahren etwas eingeführt, was quasi der Vorläufer des MHDs war. Man sprach von der sogenannten Datierungsverordnung. Ich glaube, das wurde, man sei 66 oder so eingeführt in der BRD damals. Und zwar hatte man damals dann eingeführt das bestimmte Lebensmittel, leichter verderbliche Lebensmittel, wie zum Beispiel Fleisch oder Fisch, dass die zumindest ein Herstellungsdatum drauf haben mussten und auch ein Abpackungs- und Abfülldatum. Das war dann schon mal wieder fakultativ. Und die Hersteller konnten, wenn sie wollten, das war also nicht vorgeschrieben, auch ein MHD draufschreiben. Das, was wir heute jetzt als Haltbarkeitsdatum kennen, das hat man verpflichtend eingeführt in 1981. Da gab es dann eben eine sogenannte Lebensmittel-Kennzeichnungsverordnung und in der ist dann unter anderem auch das Mindesthalbarkeitsdatum als verpflichtende Angabe eingeführt worden.
Jule Wäntig: Und welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, so ein Lebensmittel länger haltbar zu machen? Also meine Oma kocht ein und das hält dann immer ewig.
Thomas Henle: Ja, das macht sie auch ganz richtig, denn dieses Einkochen oder das Erhitzen von Lebensmittel ist eine der ganz klassischen Methoden zur Haltbarmachung von Lebensmitteln. Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von unterschiedlichen Möglichkeiten, wie man Lebensmittel haltbar macht. Letztlich machen die alle entweder die zerstörende entweder Bakterien, das ist das, was man mit erhitzen macht, oder man versucht, das Wasser entweder rauszukriegen oder zu binden. Und da gibt es dann Verfahren wie zum Beispiel Kühlen, was jeder kennt im Kühlschrank, das Einfrieren, das Einsalzen, das sind alles Verfahren, die letztlich dann die Wasseraktivität reduzieren. Das Trocknen von Lebensmitteln ist eine klassische Methode zur Haltbarmachung. Auch das Fermentieren, also quasi das mit Milchsäurebakterien behandeln und dann zum Beispiel Sauerkraut herzustellen, auch das ist eine Haltbarmachung. Also es gibt ganz, ganz viele verschiedene Verfahren, mit denen hilft man eben dann diese Haltbarkeit verlängern kann. Peer Kittel: Klingt jetzt gar nicht unbedingt so, als wären das dann alles Erfindungen der modernen Lebensmittelindustrie. Also das hat man jetzt dann schon länger so gemacht.
Thomas Henle: Absolut, absolut. Und das ist vielleicht auch wirklich ganz, ganz interessant, wenn man so ein kleines bisschen in die Evolution vielleicht hineingeht, auch das müssen wir ja vielleicht einmal in der eigenen Folge thematisieren. Dann kann man wirklich sagen, dass der Mensch hat das Feuer entdeckt oder kontrolliert. Da gibt es unterschiedliche Überlegungen, ob das vor 400.000 Jahren war oder manche sagen vor zwei Millionen Jahren. Und mit dem Entdecken des Feuers hat der Mensch praktisch auch schon Lebensmittel erhitzt, also wenn man so will, haltbar gemacht. Und es war natürlich dann auch für die Menschheitsentwicklung ein riesengroßer Fortschritt, wenn man eben nicht mehr jeden Tag auf die Jagd gehen musste, weil das Fleisch ansonsten vielleicht verdirbt, sondern dass wir es ein paar Tage haltbar machen können. Ja, und andere Verfahren, das haben wir ja in unserer Folge zu den Zusatzstoffen thematisiert, wie zum Beispiel das Einsalzen, das Pökeln, das Verwenden von Salpeter, das nutzte Mensch auch bereits seit vielen tausend Jahren. Vermutlich die Industrie war natürlich dann auch ganz, ganz entscheidend daran beteiligt, dass man neue, modernere Verfahren entwickelt und das ist vor allen Dingen so im 19. Jahrhundert gewesen. Da wurde dann die Konservendose erfunden, das war im Jahr 1810. Und der hat, es war ein Herr namens Peter Durand, der hat es für die englische Armee erfunden, quasi die Haltbarmachung von Lebensmitteln und ganz berühmt - das Pasteurisieren, den Begriff kennt jeder, das geht zurück auf den Louis Pasteur. Der hatte entdeckt, dass Bakterien verantwortlich sind für dieses Verderben und konnte dann dem feststellen, dass die Bakterien durch Erhitzen abgetötet werden. Und dann hat sich dieses Verfahren 1865, war es glaube ich, als Patent anmelden lassen.
Peer Kittel: Jetzt ist Haltbarmachung per se ja ein Eigenwert, der wichtig ist, wie du gerade auch beschrieben hast. Schadet das aber nicht auf der anderen Seite vielleicht auch den Lebensmitteln. Also gerade beim Erhitzen gehen da nicht irgendwie auch Inhaltsstoffe verloren, die man brauchen könnte?
Thomas Henle: Ja, natürlich. Es ist immer so eine, ich sage mal, Risikonutzen oder Kosten-Nutzenabwägung. Also die Vor- und Nachteile müssen immer abgewägt werden. Es kommt natürlich beim Erhitzen, vor allem zum Beispiel beim Herstellen von Konservendosen in gewisser Maßen zu einem Nährwertverlust. Das ist aber in der Regel, ich sage mal, verschmerzbar eben durch den Vorteil der langen Haltbarkeit. Bestimmte Verfahren wie zum Beispiel dieses Milcherhitzen, das Kurzzeit Milcherhitzen, das traditionelle Pasteurisieren, das ist so schonend, dass es praktisch überhaupt keine Nährwertverluste macht und selbst das höhere Erhitzen von Milch, beispielsweise bei der Hochpasteurisation oder bei der UHT-Behandlung, bei der H-Milch Herstellung, selbst das ist so schonend, dass allenfalls vielleicht so ein zwei, drei, vier Prozent von bestimmten Vitaminen inaktiviert werden, ab und sich auf der anderen Seite natürlich die mikrobiologische Sicherheit dadurch erreicht und der Vorteil überwiegt natürlich dem potenziellen Nährwertverlust bei Weiten.
Peer Kittel: Also, wenn wir vielleicht mal direkt bei der Milch auch bleiben, demnach ist dann der Unterschied zwischen Frischmilch und der H-Milch gar nicht so groß?
Thomas Henle: Nee, ist es auch nicht so. Es ist vielleicht etwas, was man tatsächlich auch mal so betonen muss, denn dieses Pasteurisieren, was man so, sagen wir mal, seit Anfang des 20. Jahrhunderts in großem Maßstab gemacht, das war vielleicht eine der wichtigsten Errungenschaften der Lebensmittel Technologie. Es kann man vielleicht so sagen, es gibt Diskussionen, die sagen, dass die Erfindung des Kühlschranks und die Erfindung der Pasteurisation 10 bis 20 Jahre in Lebenserwartung nach sich gezogen haben. Man weiß ja, dass so um die Jahrhundertwende vom 19. Jahrhundert vor allen Dingen Typhus eine ganz, ganz große, großflächige Erkrankung war. Ich habe mal so Zahlen gefunden, da hat man festgestellt oder gemessen, dass allein im Jahr 1905, um eine Zahl zu nehmen, in Dresden allein 1500 Menschen an Typhus gestorben sind und der Hauptüberträger für Typhus war tatsächlich die Milch. Und quasi durch das Erfinden der Pasteurisation konnte man dann diese Krankheit ja mehr oder weniger zum Eindämmen bringen. Und tatsächlich ist der Nährwertverlust selbst beim Hocherhizen, also wenn man die H-Milch kauft beispielsweise so gering, da kommt es zwar etwas zu Verlusten von Vitamine B12 und Folsäure, die sind so ein bisschen hitzelabiler, aber insgesamt macht es auf die Gesamtmenge an Vitaminen eigentlich kaum was aus.
Jule Wäntig: Wenn wir zum MHD zurückkommen, wie können dann die Hersteller festlegen, wie lange so ein Lebensmittel haltbar ist?
Thomas Henle: Also die schätzen das ab, das heißt die machen Lager-Experimente und versuchen quasi zu ermitteln, wie sich das Lebensmittel während der Lagerung verändert. Da gibt es zwar auch rechtliche Vorgaben, es gibt sogar DIN-Normen und internationale Normen, mit denen Hilfe man dann das MHD errechnen kann, aber in der Praxis schaut es so aus, dass die Hersteller das Lebensmittel gewissermaßen bei hohen Temperaturen, ich sag mal, stressen, also bei 40, 50, 60 Grad lagern und dann gucken, was sich nach Tagen, Wochen oder vielleicht Monaten da verändert und dann zurück rechnen, was das dann entsprechend bei einer Raumtemperatur Lagerung für vielleicht Monate oder Jahre wäre. Und so errechnen wir dann quasi oder machen wir dann entsprechende Experimente und nach dem Ablauf dieser Lagerzeit probiert man einfach. Das heißt Prima wird erst mal sensorisch überprüft, ob sich das Lebensmittel geschmacklich verändert hat, ob sich die Konsistenz verändert hat, ob es vielleicht farbliche Veränderungen gab oder so und daraus errechnen bzw. schätzen die dann eine Haltbarkeit ab, diese eben dann den Verbrauchinnen und Verbrauchern garantieren können. Also letztlich ist es eine Art von individueller Festlegung durch die Hersteller.
Peer Kittel: Jetzt oute ich mich mal als etwas faulen Konsumenten vielleicht. Ich habe es auf jeden Fall gern einfach. So eine Zahl wie das MHD auf der Verpackung klingt da ja zumindest sehr objektiv. Aber wenn ich dich jetzt und in dem Fall ja dann auch Cem Özdemir richtig verstehe, dann ist das eigentlich kein guter Weg. Also eher umgekehrt. Wie kann ich denn erkennen, ob ein Lebensmittel noch genießbar ist?
Thomas Henle: Also ich bin schon der Meinung, dass wir das MHD weiter behalten sollte, können wir vielleicht nachher mal ganz kurz diskutieren, welche Bedeutung das tatsächlich hat, gerade vor dem Hintergrund Lebensmittel Verschwendung. Aber man muss sich das Datum mal etwas generell angucken und dieses Datum, da gibt es ja verschiedene Angaben und zwar je nachdem wie lange das Lebensmittel haltbar ist, muss diese Angabe etwas unterschiedlich gestaltet sein. Bei einer Haltbarkeit bis zu 3 Monaten, da muss da ein exaktes Datum draufstehen, also wirklich der Tag, bis zu dem es haltbar ist. Wenn die Haltbarkeit 3 bis 18 Monate ist, dann reicht ein Monat und das Jahr, wenn das Lebensmittel über 18 Monate oder länger als 18 Monate haltbar ist, also zum Beispiel Konservendosen oder so, da muss da nur noch ein Jahr draufstehen. Und jetzt, für dich als Verbraucher Peer, wenn man dann die Zahl anguckt, dann ist ja eigentlich klar, wenn also zum Beispiel draufsteht Haltbarkeit bis 2024, dann ist eigentlich klar, dass nicht am 1.1.2025 das Lebensmittel jetzt ja abgelaufen oder ungenießbar ist. Genauso, wenn dann zum Beispiel draufsteht Mindesthaltbarkeitsdatum Februar 2024 und es ist März, dann ist tatsächlich dieses Lebensmittel mit Sicherheit noch genießbar. Also man muss so ein kleines bisschen prüfen, sage ich mal, das heißt einfach aufmachen, erst mal gucken ob die Verpackung in Ordnung war, das ist immer das A und O und dann aufmachen, probieren und wenn es dann noch schmeckt, dann ist es auch, selbst wenn das MHD einige Zeit überschritten ist, problemlos noch genießbar. Wobei man allerdings aufpassen muss, das kann man vielleicht bei der Gelegenheit sagen, wenn man dann mein Lebensmittel aufgemacht hat und dann sagen wir halb aufgegessen hat und dann in den Kühlschrank stellt, dann ist dieses MHD, hat das MHD keine Bedeutung mehr denn dann ist das Lebensmittel ja quasi mit der Umwelt, vielleicht mit Bakterien im Kontakt gekommen und dann spielt dieses MHD keine Rolle mehr, dann muss man tatsächlich wirklich immer gucken und schauen, dass sich da nicht irgendwie was dann während der Lagerung gebildet hat.
Jule Wäntig: Wie machst du das denn zu Hause, Thomas, wirst du gar keine Lebensmittel weg?
Thomas Henle: Ja, also wenn ich ganz ehrlich bin, schon auch ab und zu, also ich könnte es nicht sagen, dass wir nichts wegschmeißen, das muss ich schon so hier mal feststellen. Wir schmeißen aber wenig weg, ich muss sagen, wir haben uns angewöhnt, dass wir versuchen zumindest bedarfsgerecht einzukaufen, vor allen Dingen bei kürzer haltbaren Lebensmitteln, also zum Beispiel Milchprodukten oder irgendwie sowas, oder bei frischen Lebensmitteln wie Obst oder Gemüse. Es passiert natürlich schon ab und zu, dass man abends nicht alles aufgegessen hat, das in den Kühlschrank stellt, das vielleicht vergisst und dann doch hinterher feststellt, dass man es nicht mehr essen kann und dann wegschmeißt. Aber ich glaube, das ist vielleicht so, wenn man das so als Tipp oder als Hinweis geben kann, bedarfsgerecht einkaufen und nicht bei jedem Sonderangebot sich dann den Kühlschrank vollstopfen und hinterher feststeht, dass man nicht aufessen kann. Ich glaube, das wäre so der allererste Schritt und der wichtigste Schritt, um eine Lebensmittelverschwendung zu vermeiden.
Peer Kittel: Jetzt lass es uns vielleicht noch mal fokussieren, wir haben ja bis hierhin schon recht breit über das Thema gesprochen, aber wie ist es denn nun? Aus wissenschaftlicher Sicht, MHD abschaffen, MHD behalten, wie siehst du das?
Thomas Henle: Also ich habe es schon angedeutet, ich würde schon und nicht nur ich, sondern ich glaube, das ist auch die Mehrheitsmeinung der Lebensmittelchemikerinnen und Lebensmittelchemiker. Wir sind schon der Meinung, dass das MHD berechtigt ist, allerdings die Diskussionen zum MHD genauso berechtigt sind. Also man könnte problemlos für einige Lebensmittel, zum Beispiel für Reis, für Nudeln, für Mehl, auch für Honig, diese Lebensmittel sind ja theoretisch unbegrenzt haltbar. Wenn die gut verpackt bleiben, dann könnte man für die das
MHD wirklich abschaffen. Für andere Lebensmittel würde ich es aber schon bei behalten, denn es gibt tatsächlich den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine Art Qualität oder frische Garantie und vor allen Dingen und das wäre so vielleicht meine Befürchtung, würde jetzt ein Streichen des MHDs vielleicht dazu führen, dass man auch das Verbrauchsdatum nicht mehr ernst nimmt. Also nachdem die Frage stellt, ja es gibt kein MHD mehr, wozu braucht es, sondern vielleicht ein Verbrauchsdatum, viele wissen vielleicht den Unterschied ja auch gar nicht und das könnte dann tatsächlich dazu führen, dass so ein generelles Abschaffen des MHDs und Umständen dazu führt, dass man das Verbrauchsdatum immer ernst nimmt und dann vielleicht sogar das Risiko für mikrobiologische Verunreinigungen sogar steigt. Also Stichwort MHD abschaffen, ja für bestimmte Lebensmittel. Es gibt ja jetzt auch schon Lebensmittel, die kein MHD haben, zum Beispiel alkoholische Getränke, die so mehr als zehn Prozent Alkohol haben, Zucker, Essig, die haben eh schon kein MHD oder frische Lebensmittel, ja also wer eben an der Obst oder Gemüse-Theke Lebensmittel kauft oder lose Ware beim Bäcker oder an der Fleisch-Theke, die haben ja auch schon kein MHD und da verlässt man sich dann auch auf das, was man so als ja gesunden Menschenverstand bezeichnet und beurteilt dann eben selbst, ob das Lebensmittel noch genießbar ist. Und so könnte man tatsächlich dann eben auch weitere Lebensmittel von diesem MHD ausnehmen.
Jule Wäntig: Du hattest dabei den Honig angesprochen. Bei Ausgrabungen wurde der ja noch in Pyramiden gefunden und ich habe gehört, dass er der nach rein theoretisch genießbar gewesen wäre nach all den Jahren.
Thomas Henle: Ja, das ist eine tolle Geschichte, die man tatsächlich häufig liest im Internet und ich hatte da vor einiger Zeit tatsächlich mal versucht zu recherchieren. Tatsächlich ist Honig, wenn er weniger als 20 Prozent Wasser hat, das ist übrigens vorgeschrieben laut der Honigverordnung, vielleicht bei der Gelegenheit, wir werden ja bald eine spezielle Folge zum Thema Honig machen. Also wenn dieser Honig dieses 20 Prozent Wasser nicht überschreitet, das ist ja wirklich theoretisch unbegrenzt haltbar. Und man hat auch in der Tat in Pyramiden Honig als Grabbeigabe gefunden. Da gibt es tatsächlich auch Berichte, so aus den 1920er Jahren, in so Zeitschriften wie National Geographic zum Beispiel, weil wir das gefunden, ob jetzt der Honig aber noch genießbar war und ob den tatsächlich auch jemand gegessen hat. Dafür gibt es in der Tat keine wissenschaftlichen Belege. Also ich habe zumindest nichts gefunden, vielleicht hört jemand zu, der hier Belege hat oder Literatur uns nennen kann. Rein theoretisch wäre dieser Honig zwar noch haltbar, auch noch 2-3.000 Jahren, also Bakterien sind ja nicht gewachsen, aber aus chemischer Sicht sind 2.000 Jahre schon ziemlich lange. Also da kann es dann schon auch zu chemischen Reaktionen kommen, die jeder kennt, Stichwort Karamellisierung, was jeder kennt, wenn man Zucker erhitzt und dieses Karamellisieren kann dann natürlich im Laufe der 2.000 oder 3.000 Jahre auch passieren. Also ich vermute mal, ohne dass ich es belegen kann, dass dieser Honig zwar keine Bakterien hatte, aber wahrscheinlich ziemlich dunkelbraun und ziemlich karamellig und bitter schmecken würde, wenn ihn denn tatsächlich jemals jemand probiert hat.
Peer Kittel: Dann lasst uns zum Abschluss vielleicht nochmal auf die Frage vom Anfang zurückkommen. Würde denn nun die Abschaffung des MHD tatsächlich einen Beitrag zu weniger Lebensmittelverschwendung leisten?
Thomas Henle: Ich befürchte nein. Ich finde es wichtig und gut, dass man dieses Thema Lebensmittelverschwendung thematisiert. Das Thema, was tun wir gegen den menschgemachten Klimawandel sind natürlich eines der allerwichtigsten überhaupt und da gehört natürlich auch dann die Frage zur Nachhaltigkeit in der Lebensmittelproduktion dazu. Auch Änderungen im Essverhalten vielleicht. Und wenn man also dieses Thema Nachhaltigkeit diskutiert, dann stelle ich immer so ein bisschen fest, dass man das vielleicht wirklich größte Problem in diesem Zusammenhang eben die Lebensmittelverschwendung gar nicht so sehr im Vordergrund hat. Da geht es noch häufig um Änderungen im Essverhalten oder so. Aber wenn man tatsächlich immer auf der einen Seite berücksichtigt, dass 600, 700 Millionen Menschen auf der Welt nicht genug zu essen haben und wie in Deutschland, da gibt es aktuelle Berechnungen, pro Person etwa 80 Kilo pro Jahr wegschmeißen, dann ist das natürlich eine Diskrepanz, die eigentlich nicht akzeptabel ist. Von diesen 80 Kilo, das muss man wieder gleich ein bisschen relativieren, könnte man 40 Kilo problemlos vermeiden, der Rest sind also Sachen wie Kartoffelschalen oder Bananenschalen oder so. Aber da gibt es tatsächlich Berechnungen der FAO, also der Welternährungsorganisation, die sagt, dass man allein mit den Lebensmitteln, die in Amerika, in den weinigen Staaten und in Europa weggeschmissen werden, rund 500 Millionen Menschen ernähren könnte. Ich denke, dass allein ist natürlich ein Thema, was man ganz unbedingt immer in den Vordergrund stellen kann. So, ob jetzt das MHD da aber jetzt was dazu beiträgt, das mag ich zu bezweifeln, denn das meiste, was man wegschmeißt, das weiß natürlich auch jeder aus seiner eigenen Erfahrung, ist das, was in der Küche übrigbleibt, was meinetwegen im Restaurant bei Buffets zu viel genommen wird und dann weggeschmissen wird. Das sind frische Lebensmittel wie Obst und Gemüse. Da muss man natürlich versuchen beizutragen, dass man da nicht mehr was wegschmeißt. Die Lebensmittel, die jetzt ein langes MHD haben, also zum Beispiel Mehl oder Reis oder so, die tragen meines Erachtens zur Lebensmittelverschwendung oder zum Lebensmittelabfall wirklich sehr, sehr wenig bei. Es ist also eine symbolische Diskussion. Da besteht vielleicht zur Werte Gefahr, dass man ein bisschen von dem zentralen Thema ablenkt, also sich mehr dann über die Industrie wieder aufregt, die dann MHDs zu kurz fast um die Leute damit zu motivieren, das Lebensmittelrechtzeitig wegzuschmeißen. Also ich finde es wichtig, das Thema Lebensmittelverschwendung in den Vordergrund zu stellen. Man kann einige Lebensmittel ausnehmen vom MHD, aber insgesamt, glaube ich, ist jeder Einzelne verantwortlich und auch gefordert, sich seinen Beitrag zu einer nachhaltigen Versorgung von Lebensmitteln zu leisten.
Peer Kittel: Liebe Jule, lieber Thomas, vielen Dank für das interessante Gespräch. Ich nehme mir vor allem mit, dass es in meinem eigenen Interesse liegt, künftig die Lebensmittel sorgsamer zu prüfen, nicht nur im Hinblick auf die Frage, ob diese in den Müll gehören. Ja und wenn Sie an diesem Podcast Geschmack gefunden haben, können Sie immer monatlich auf der Webseite der TU Dresden und überall da, wo es Podcasts gibt, mit einer neuen Folge Rechnen. Wenn Sie Themenwünsche rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie oder Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an lebensmittelchemie.podcast.tu-dresden.de. Bis zum nächsten Mal hier bei Food Facts, dem Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden.
- Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatumdatum - Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
- Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatumdatum - Verbraucherzentrale
- Wie wird das MHD festgelegt?
- Wie wird das MHD festgelegt? - Lebensmittelverband
- Wie werden Lebensmittel konserviert?
- Wärmebehandlung von Milch
- Milch - Verbraucherzentrale
- Daten zum Thema Lebensmittelabfall - Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
- Daten zum Thema Lebensmittelabfall - Thünen Report
- UNEP Food Waste Index Report 2021
Folge 2: Zusatzstoffe und E-Nummern – sind das wirklich alles Krankmacher?
In Folge 2 unseres Podcasts sprechen Peer Kittel und Jule Wäntig mit Lebensmittelchemiker Prof. Henle über Zusatzstoffe in Lebensmitteln und die berühmt-berüchtigten E-Nummern. Durch zahlreiche alarmierende Medienberichte sind diese Stoffe in den vergangenen Jahren stark in Verruf geraten. Viele Verbraucher:innen sind verunsichert. Wir klären die Fakten – was sind Zusatzstoffe, wie ist ihr Einsatz geregelt, ist das alles Chemie, machen uns diese Stoffe wirklich krank oder können wir Tütensuppen vielleicht doch ganz ohne Bedenken essen?
[Intro-Musik spielt]
Peer Kittel: Food Facts, der Lebensmittelchemiepodcast der TU Dresden. In unserer heutigen Folge sprechen wir über Zusatzstoffe in Lebensmitteln und decken auf, was hinter den berüchtigten E-Nummern steckt.
[Intro-Musik spielt]
Herzlich willkommen bei Food Facts, dem Lebensmittelchemiepodcast der TU Dresden. E-Nummern und Zusatzstoffe - Was steckt dahinter? Ist das wirklich alles Chemie und machen uns diese Stoffe vielleicht sogar krank? Diese und weitere Fragen wollen wir mit unserem Experten Prof. Thomas Henle klären. Wir, das sind Studentin Jule Wäntig und ich, Peer Kittel, Dezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften.
Insofern wie immer, hallo Jule, hallo Thomas.
Thomas Henle: Hallo Peer, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo!
Peer Kittel: Unter Krebsverdacht, wenn das auf der Packung steht, besser Finger weg. - So titelt Focus Online einen Beitrag einer Ernährungsexpertin zu den berühmt berüchtigten E-Nummern. Ja, viele Verbraucher sind bei diesem Thema äußerst verunsichert. Thomas, kannst du diese Verunsicherung verstehen und warum haben denn so viele Leute speziell auch vor diesen E-Nummern so viel Angst?
Thomas Henle: Ich kann es ehrlich gesagt schon verstehen und es wäre jetzt wirklich zu einfach und vielleicht auch ein bisschen anmaßend, wenn man sagt, kommt, habt euch nicht so, alles ist gut.
Es ist eine komplexe Thematik und viele Verbraucherinnen und Verbraucher assoziieren eben mit E-Nummern Chemie und die öffentliche Wahrnehmung der Chemie ist einfach schlecht zurzeit. Da trug die Berichterstattung der letzten Jahrzehnte natürlich maßgebend dazu bei.
Man darf schon auch sagen, dass die Lebensmittelindustrie da auch nicht ganz unschuldig ist und auch immer noch zu einer gewissen Verunsicherung beiträgt.
Jule Wäntig: Ich kaufe super gerne Fleischersatzprodukte.
Meine Mutter ist davon aber absolut kein Fan, weil da sind ja so viele Zusatzstoffe drin.
Sie hat ja auch die ganzen reißerischen Schlagzeilen in den letzten Jahren mitbekommen.
Machen Zusatzstoffe mich denn jetzt krank?
Thomas Henle: Also eine ganz kompakte Antwort auf diese ganz kompakte Frage wäre, wenn einzelne Zusatzstoffe krank machen würden, dann wären sie nicht erlaubt, dann wären sie nicht zugelassen. Punkt.
Ich kann aber die Bedenken deinerr Mutter wirklich sehr gut nachvollziehen.
Da kommen vermutlich zwei Sachen zusammen. Zum einen die generelle Skepsis gegenüber neuen veganen Lebensmitteln und zum anderen eben diese Bedenken gegen Zusatzstoffe.
Das eine passt dann vielleicht sogar zum anderen.
Man assoziiert dann neue Lebensmittel mit der Verwendung von Zusatzstoffen und entsprechend resultieren solche Bedenken daraus.
Problematisch wird das Ganze halt vor allem deshalb, weil auch vermeintlich seriöse Ernährungsexpertinnen und Experten entsprechende Statements machen. Da gibt es beispielsweise Podcasts, in denen von Killer-Lebensmitteln gesprochen wird, die aus billigen Zutaten und Zusatzstoffen, das jetzt original zitiert, unser Leben um 15 bis 20 Jahre verkürzen soll. Solche Berichte von vermeintlich renommierten Expertinnen und Experten sind dann eben nicht nur wissenschaftlich unseriös, sondern die tragen dann auch massiv zu einer Verunsicherung bei und aus diesem Grunde muss ich mich ganz ehrlich gesagt immer sehr, sehr ärgern, wenn tatsächlich auch Fachkollegen oder Kolleginnen aus verwandten Disziplinen solche Statements loslassen.
Peer Kittel: Das ist ja dann auch ein Auftrag unseres Podcasts, dass wir da ein paar Sachen wieder ins rechte Licht rücken. Lass uns vielleicht mal ganz konkret auf die lebensmittelchemischen Grundlagen kommen. Was sind denn eigentlich Zusatzstoffe? Also wie sind sie definiert, wie werden sie verwendet?
Thomas Henle: Hier gibt es eine allgemeine Definition, die in etwa lautet Zusatzstoffe sind Stoffe, die man Lebensmitteln aus technologischen Gründen zusetzt, entweder um die störungsfreie und sichere Herstellung zu ermöglichen oder um die Eigenschaften während der Lagerung beispielsweise zu sichern. Die Eigenschaften sind dann Näherwert, Genusswert, die Sicherheit während der Lagerung, d.h. man versucht zu vermeiden, dass Bakterien wachsen usw. Man will Veränderungen verhindern, man will letztlich die Qualität während der Herstellung und die Qualität dann bis zur Verwendung durch die Verbraucherinnen und Verbraucher sichern. Und es betrifft dann Farbe, Konsistenz, Haltbarkeit, Geschmack.
Peer Kittel: Damit wird ja dann klar, wofür wir Zusatzstoffe überhaupt brauchen. Ist das eine Erfindung der neueren Zeit, sagen wir mal auch der chemischen Industrie oder wie lange gibt es denn Zusatzstoffe schon?
Thomas Henle: Ja das ist in der Tat ganz interessant, wenn man dann ein bisschen geschichtlich recherchiert, dann stellt man fest, dass man bestimmte Zusatzstoffe tatsächlich schon seit Jahrtausenden verwendet. Beispielsweise ist es das Räuchern von Fisch oder Fleisch, das ist letztlich nichts anderes als das Erzeugen von konservierenden Stoffen, die dann eben die Haltbarkeit des Produktes verlängern, für das Pökeln und das Einsalzen von Fleisch hat man seit Jahrtausenden Salpeter verwendet, also Nitrate, die letztlich als Konservierungsmittel wirken. Ein anderes Beispiel wäre Natron, was man als Backpulver seit Hunderten von Jahren einsetzt. Tatsächlich ist es aber natürlich schon so, dass durch die Industrialisierung, vor allem so seit Ende des 19. / Anfang des 20. Jahrhunderts dann ganz viele Verbindungen in großem Maßstab isoliert, aus Naturstoffen oder eben auch synthetisiert werden konnten. Ja, und diesen Aufschwung, diesen großen Aufschwung an Zusatzstoffen, den brauchte es auch, und zwar wenn man so ein klein bisschen zurück geht, in die Zeit, so um die Jahrhundertwende vom 19. auf das 20. Jahrhundert. Da haben sich in ganz vielen Städten die Einwohnerzahlen extremst erhöht. Dresden, zum Beispiel von 1880 bis 1905 von 220.000 auf über 500.000 Menschen gewachsen. Man kann sich vorstellen, wie schwierig es war für diese Menschen, die ja zum Teil in den ärmlichsten Verhältnissen leben mussten, wie schwierig es war, die Nahrungsversorgung sicherzustellen.
Und das gelang eben nur durch die verstärkt industrielle Herstellung. Und für die entsprechenden Lebensmittel waren dann eben unter andrerm auch Zusatzstoffe notwendig.
Jule Wäntig: Wie ist das jetzt mit dem Lebensmittelgesetz? Kann da eine Firma einfach einen süßeren Süßstoff oder eine neue Farbe erfinden oder herstellen und dann einfach in ihre Produkte mixen?
Thomas Henle: Also die Anwendung von Zusatzstoffen oder man sagt generell von fremden Stoffen, die sind im Lebensmittelgesetz ganz streng geregelt, und zwar europaweit. Da gibt es dann in einer entsprechenden EU-Verordnung, der ist 1333/ 2008, um ein bisschen Lebensmittelchemie-nerdig zu werden. Da gibt es dann die Liste an E-Nummern und dieses Lebensmittelgesetz regelt dann, dass einem Lebensmittel nichts zugesetzt werden darf, außer es ist explizit erlaubt. Wir haben das glaube ich schon angesprochen, in einer früheren Folge, das ist das sogenannte Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt. Ja und da gibt es dann eine Positiv-Liste, die gilt in allen Mitgliedstaaten der EU und da stehen die Stoffe drin, die Zusatzstoffe, die man verwenden darf.
Peer Kittel: Ja dann schauen wir doch mal direkt in die Liste auf der Webseite, der Verbraucherzentrale. Da ist da ja ein schönes Bild mit verschiedenen Lebensmitteln und den darin verwendeten E-Nummern. Ich lese da jetzt mal vor, was zum Beispiel für den Kochschinken steht: E150, E250, E407, E450, E621.
Das habe ich mal nachgeschaut, das ist Zuckerkulöhr, Nitrite, Carrageen, Phosphate und Glutamate. Das klingt ja dann schon nach sehr viel Chemie. Sind die jetzt alle in Anführungszeichen chemisch hergestellt, sind die künstlich oder findet man da auch Naturstoffe?
Thomas Henle: Insgesamt sind es rund 300 Stoffe, also die Liste schaut schon relativ groß aus im ersten Moment. Wenn man sich die aber ein bisschen näher anschaut, dann wird man feststellen, dass da ganz viele Komponenten drin sind, die entweder selbst Naturstoffe sind oder aus Naturstoffen hergestellt werden und die man so vielleicht auch in der eigenen Küche als Bestandteil von Zutaten verwenden würde. Und daneben gibt es dann eben einige Verbindungen, die tatsächlich synthetisch hergestellt werden und so in der Natur nicht vorkommen.
Und so könnte man vielleicht dann diese Zusatzstoffe aufteilen, also einmal aus Naturstoffen bestehend oder eben chemisch-synthetisch hergestellt und so in der Natur nicht vorkommend. Und das sind dann vor allen Dingen zum Beispiel einige Farbstoffe oder Süßstoffe, da findet man die größte Anzahl dieser synthetisch hergestellten Stoffe, die so in der Natur nicht vorkommen, während andere Gruppen zum Beispiel Dickungsmittel oder so praktisch ausschließlich aus Naturstoffen bestehen.
Jule Wäntig: Kannst du mal ein paar Beispiele nennen und vor allen Dingen, was tun diese Stoffe überhaupt?
Thomas Henle: Diese auf den ersten Blick recht zahlreichen Verbindungen, die könnte man jetzt wieder unterteilen, da gibt es dann 27 Klassen, die man jetzt nicht unbedingt einzeln besprechen muss. Man kann es so in die Wichtigsten vielleicht aufgliedern.Das sind Süßungsmittel, Süßstoffe, Zuckeraustauschstoffe, Farbstoffe, Konservierungsstoffe und Geschmacksverstärker und Säurungsmittel, die machen das, was der Name ja schon sagt, ja und dann gibt es noch Antioxidantien und Dickungsmittel.
Das wären so die wichtigsten Anwendungsbereiche vielleicht.
Jule Wäntig: Da muss ich jetzt aber nochmal genauer nachfragen, was sind denn diese Dickungsmittel und Antioxidantien und was machen Emulgatoren?
Thomas Henle: Ich fange mal den Antioxidantien an, diese Verbindungen verhindern die Oxidation, d.h. die Bremsen gewissermaßen des ranzig werden von Fett. Das ist eine typische Reaktion, die in fetthaltigen Lebensmitteln ablaufen kann. Gleichzeitig stabilisieren sie Verbindungen, die ebenfalls durch den Kontakt mit Sauerstoff sich verändern würden. Das betrifft z.B. einige Aromastoffe, die dann ihren Geruch verlieren würden, wenn sie oxidieren. Dickungsmittel kennt man aus der eigenen Küche, das ist so etwas wie Stärke, was man hinein rührt, um die Soße eben zähflüssiger zu machen, also zu verdicken und Emulgatorenstabilisieren die Mischungen zwischen wässriger Phase, also beispielsweise Essig und einem Öl und sowas verwenden wir dann beispielsweise bei der Herstellung von Mayonnaise, um eben die Konsistenz zu stabilisieren.
Peer Kittel: Das leuchtet ein, wie ist das denn jetzt aber mit diesen E-Nummern, also woher kommt denn jetzt dieses System?
Thomas Henle: Also dieses System hat man eingeführt Anfang der 1960er Jahre, ich glaube es war 1962, da gab es die ersten E-WG-Nummern, wie man damals noch gesagt hat, das hat man damals dann verwendet zunächst mal für die Farbstoffe, da hat man dann die Nummer 100 bis 199 genommen, glaube ich, danach folgten dann die Konservierungsstoffe und folgend darauf hat man dann einige Jahre später dieses E-Nummern-System europaweit gültig eingeführt. Letztlich weiß jeder europaweit, wenn ich sage E 901, dass das Bienenwachs ist oder E 300 ist Ascorbinsäure, also Vitamin C. Man muss also sich jetzt nicht viele, viele verschiedene Übersetzungen merken, sondern jeder in Europa weiß, wenn ich eine Nummer nenne, dann ist da die entsprechende Verbindung gemeint.
Jule Wäntig: Jetzt habe ich diese Liste an Substanzen, ich möchte jetzt zum Beispiel eine Fertigkuchenmischung auf den Markt bringen, kann ich dann einfach alles, was auf der Liste steht, da reinkippen und dann es erlaubt? Oder wie funktioniert das?
Thomas Henle: So ist es nicht. Tatsächlich sind nicht nur die Verbindungen genau geregelt, sondern es ist auch deren Anwendung ganz genau festgelegt. Also da gibt es dann manche Stoffe, die man generell verwenden darf, aber auch in einer ganz bestimmten Menge, manche Stoffe sind nur für ganz bestimmte Lebensmittel zugelassen. Es gibt Lebensmittel, für die sind Zusatzstoffe überhaupt nicht zugelassen, zum Beispiel Honig oder Butter darf zum Beispiel überhaupt keine Zusatzstoffe enthalten, Säuglingsnahrung darf ebenfalls bestimmte Zusatzstoffe nicht enthalten, zum Beispiel Geschmacksverstärker, keine Farbstoffe, keine Süßstoffe.
Es ist also nicht nur die Art oder die Identität der Zusatzstoffe ist definiert, sondern auch deren Anwendung, auch deren Höchstmenge ist also streng geregelt, wenn man so will. Und dieses recht komplexe Regelwerk, was durchaus auch zu Beanstandungen führt, ist aber letztlich ein Ausdruck dafür, dass man diese Zusatzstoffe tatsächlich immer nur dann verwenden soll, auch immer nur in ganz bestimmten Mengen, wenn es eben aus technologischer Sicht notwendig ist.
Peer Kittel: Wie ist das mit den Bio-Lebensmitteln, die sind dann frei von Zusatzstoffen?
Thomas Henle: Nee, das ist nicht so, auch Bio-Lebensmittel dürfen Zusatzstoffe enthalten, da gibt es eine EU-Ökoverordnung, die genau regelt, was erfüllt sein muss, damit sich ein Lebensmittel als Bio-Lebensmittel oder ökologisch produziertes Lebensmittel bezeichnen darf und gemäß dieser Verordnung sind tatsächlich auch 56 Zusatzstoffe mit den entsprechenden E-nummern erlaubt. Also auch ein Bio-Lebensmittel darf E412 enthalten, das ist Guakernmehl oder 410, das Johannesbrotkernmehl, auch Konservierungsstoffe wie z.B. Schwefeldioxid, ist für Obstweine erlaubt oder Nitrat für Bio-Fleischerzeugnisse. Es ist ganz witzig vielleicht, was du vorhin vorgelesen hast, diese Liste an Zusatzstoffen in diesem Kochschinken, alle diese Stoffe, die da drin sind, außer den Geschmacksverstärkern und Farbstoffen, die darf man für Bio-Fleisch nicht verwenden, aber fast alle Stoffe, die du da vorgelesen hast, die wären genauso auch für einen Bio-Kochschinken zugelassen.
Peer Kittel: Gut zu wissen, jetzt haben wir die Liste der Zusatzstoffe und ja, wir haben generell über die Funktionen von Zusatzstoffen recht ausführlich gesprochen. Auf der anderen Seite gibt es ja aber auch Stoffe, die in Lebensmitteln zugesetzt werden, die wir bisher noch gar nicht erwähnt haben. Einerseits sage ich mal sowas wie diese Aromastoffe, die ja auch auf der Zutatenliste stehen und dann hätten wir zum Beispiel auch sowas wie Jodsalz. Also warum tut man jetzt überhaupt Jod in Salz und, warum tut man Jodsalz in Lebensmittel?
Thomas Henle: Also zu Aromastoffen muss man zunächst mal sagen, dass sie gemäß Lebensmittelgesetz jetzt keine Zusatzstoffe sind, sondern Aromen. Und es gibt hier eine Aromenverordnung, die eben deren Anwendung regelt. Es ist letztlich genauso konzipiert wie die Zulassungsregelung für die Zusatzstoffe. Das heißt, da gibt es eine Liste an Aromen, die man verwenden darf, da gibt es genaue Definitionen über welche Lebensmittel, mit welchen Gehalten.
Ich glaube über Aromen machen wir mal eine extra Folge, denn das ist sowohl aus chemischer wie aus Zulassungssicht ganz interessant. Das mit dem Jodsalz ist dann was ganz was anderes. Das ist jetzt ein funktionell oder ein biofunktioneller Stoff. Den setzt man zum Salz, um die Schilddrüsenunterfunktion zu vermeiden, den sogenannten Kropf. Das ist etwas, was es so bis in den 1960er, 1970er Jahre in großem Umfang gegeben hat, was daraus resultiert, dass Deutschland ein sogenanntes Jod-Mangelgebiet ist.Dass wir unseren täglichen Bedarf an Jod eigentlich nicht decken könnten mit unserer normalen Ernährung. Außer man würde jetzt pro Woche vier, fünf mal Fisch essen, was aber die wenigsten machen. Und aus dem Grund hat man sich dann in den 1960er Jahren sowohl in der BRD, wie auch in der DDR entschieden, aus vorbeugendem Gesundheitsschutz das Salz mit Jodat anzureichern und auf die Art und Weise dann diesen Jod-Mangel in der Bevölkerung gewissermaßen zu beheben.
Jule Wäntig: Wenn ich jetzt für meine hypothetische neue Backmischung einen neuen Farbstoff erfinde und der wird zugelassen, ist er dann für immer zugelassen oder muss er immer wieder seine Unbedenklichkeit beweisen?
Thomas Henle: Also Fakt ist, das hast du richtig gesagt, dass so ein Zusatzstoff zugelassen werden muss, was sehr, sehr aufwendig ist. Wenn du in deinem Chemielabor im Keller, Jule, einen Farbstoff isolieren würdest, dann müsstest du erst einmal nachweisen, dass es den überhaupt braucht. Das heißt, dass der technologisch sinnvoll ist und bessere Eigenschaften hat, als die Farbstoffe beispielsweise, die es schon gibt. Ja, und dann muss der Hersteller nachweisen, dass der Zusatzstoff sicher ist. Das heißt, man muss das zunächst mal prüfen, ob der sich im menschlichen Körper anreichert, wie er verstoffwechselt wird, wie er mit anderen Nahrungsinhaltsstoffen beispielsweise wechselwirkt. Das heißt, es muss also die Sicherheit dokumentiert werden, auch bis hin zu einer toxikologischen Relevanz. Dazu muss man dann beispielsweise in Tierversuchen durchführen. Und das Ganze ist natürlich superaufwendig. Das dauert dann auch viele, viele Jahre, bis man entsprechende Dokumente bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit einreichen kann. Und die prüft dann, ob die Daten, die die Hersteller vorlegen, wirklich überzeugend sind oder ob es vielleicht noch weitere Untersuchungen braucht. Ja, und sowas zieht sich dann viele, viele Jahre hin, ist sehr aufwendig, sehr teuer. Und das führt natürlich dann letztlich auch dazu, dass in den letzten Jahren nur sehr, sehr wenige Zusatzstoffe wirklich neu zugelassen wurden. Vielleicht bei der Gelegenheit, das muss man nicht nur einmal machen, und dann ist der für immer und ewig zugelassen, sondern diese Zusatzstoffe werden immer in regelmäßigen Abständen überprüft. Also beispielsweise auch das Saccharin, was Anfang des 20. Jahrhunderts zugelassen wurde, was seit 100 Jahren als Zusatzstoff verwendet wird, muss sich in regelmäßigen Abständen immer wieder einer neue Bewertung stellen. Da gucken dann die Behörden, ob es neue Publikationen gibt, neue Berichte, die vielleicht eine neu potenziell schädliche Wirkung dokumentieren. Und dann wird geprüft, ob die Zulassung aufrechterhalten werden kann, ob es vielleicht weitere Vorgaben braucht, ob die Zulassung eingeschränkt werden kann oder ob man vielleicht den Stoff tatsächlich aus dem Verkehr zieht.
Peer Kittel: Damit werden wir dann nochmal beim Thema Risiken. Lass uns da vielleicht nochmal kurz darauf eingehen, denn wie einleitend schon dargestellt, ist das sicherlich das Thema, was die allermeisten Menschen auch umtreibt. Also vielleicht nochmal grundlegend die Frage, sind Zusatzstoffe schädlich für die Gesundheit? Also gibt es gesundheitliche Risiken bedingt durch Zusatzstoffe, zum Beispiel weil man jetzt viele Fertiggerichte mit Zusatzstoffen ist. Sehr häufig fällt da ja in jüngerer Zeit dann auch der Begriff der hochverarbeiteten Lebensmittel, die gerade eben wegen der Zusatzstoffe besonders ungesund sein sollen.
Thomas Henle: Also auch das müssen wir vielleicht detailliert aufarbeiten irgendwann in der nächsten Zeit. Denn dieses Thema hochverarbeitete Lebensmittel ist in der Tat etwas, was momentan sehr, sehr intensiv und sehr, sehr kontrovers diskutiert wird. Es gibt eine ganze Reihe von epidemiologischen Studien, die zeigen wollen, dass der Verzehr von industriell produzierten Lebensmitteln einhergeht mit allen möglichen gesundheitlichen Konsequenzen. Das ist zum einen wissenschaftlich begründbar durch die Energiedichte, also ganz profan, viel Essen führt zu viel Kalorien, führt unter Umständen zu Übergewicht und zu ernährungsbedingten Krankheiten. Der Umkehrschluss aber jetzt, der sehr häufig in dieser Literatur dann gemacht wird, dass hochverarbeitete Lebensmittel per se und dann möglicherweise auch die Zusatzstoffe für diese potenziellen Gesundheitsschäden verantwortlich sind. Dieser Umkehrschluss ist wissenschaftlich nicht belegt. Das heißt, das sind Scheinkorrelationen, die momentan, wie gesagt, sehr, sehr intensiv und sehr kontrovers in der wissenschaftlichen Community diskutiert werden. Es ist unumstritten, dass wir in Deutschland ein Gesundheitsproblem haben, resultierend unter Umständen aus Fehlernährung. Aber um es auf den Punkt zu bringen, Konservierungsstoffe oder Zusatzstoffe dafür verantwortlich zu machen, ist schlichtweg nicht wissenschaftlich belegbar.
Jule Wäntig: Jetzt gibt es einige Zusatzstoffe, die bekannter sind als andere, vor allem weil sie als typisch negative Beispiele gelten und einige Menschen da regelrecht Angst davor haben. Dazu zählt der Geschmacksverstärker Glutamat oder der Süßstoff Aspartam. In meiner WG gibt es seit einigen Monaten eine kleine Tüte Glutamat, weil es bei manchen Rezepten mit drin steht. Sollten wir uns eine Alternative suchen?
Thomas Henle: Nein, macht es nicht. Wenn es euch schmeckt und wenn ihr das gut brauchen könnt, dann macht es auch weiter, denn da gibt es mittlerweile so viele Berichte, auch in sehr guten Videos auf YouTube oder in Podcasts, die eindeutig zeigen, dass es keine Glutamatüberempfindlichkeit gibt. Es gibt keine adversen Reaktionen auf die Zufuhr von Glutamat. Das ist auch wissenschaftlich mittlerweile belegt. Beim Aspartam ist es so, dass es da Publikationen gab, die von einer potenziellen krebserregenden Wirkung gesprochen haben. Aber da ist vielleicht ganz interessant, dass die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit gerade im letzten Jahr, 2023, beide Stoffe, also Glutamat und Aspartam neu bewertet haben und letztlich festgestellt haben, um es ganz kompakt darzustellen, dass es keine Gründe gibt, die Zulassung für Glutamat in irgendeiner Weise zu relativieren. Es gibt ADI-Werte, also Werte an Mengen an diesen beiden Stoffen, die man pro Tag nicht überschreiten soll. Diese ADI-Werte werden bei normalem Verzehr nie erreicht, also insofern sind beide Stoffe sicher.
Jule Wäntig: Wenn du jetzt sagst, dass es keine echten Belege für eine Glutamatüberempfindlichkeit gibt, gibt es denn Zusatzstoffe, wo bewiesen ist, dass sie Allergien auslösen oder Überempfindlichkeit?
Thomas Henle: Ja, das gibt es schon und auch das ist dann wiederum wissenschaftlich eindeutig belegt. Es gibt eine Sulfitüberempfindlichkeit, also es gibt Menschen, die sind empfindlich gegen geschwefelte Lebensmittel, also zum Beispiel gegen geschwefelten Wein oder gegen Trockenobst. Das ist eine sehr seltene Pseudoallergie. Pseudoallergie heißt jetzt nicht, dass die sich das nur einbilden oder so, sondern es ist eine allergische Reaktion ohne die Beteiligung des Immunsystems. So was gibt es auch für bestimmte Farbstoffe, so genannte Azofarbstoffe, den gelben Farbstoff Tatrazin, E102 heißt der, der hat man früher in gelben Gummibärchen verwendet und da können eben solche Pseudoallergien ausgelöst werden. Es ist mit Juckreiz, Hautrötungen usw verbunden. Das ist aber wirklich sehr, sehr selten und die Mengen, die man dafür dann in den Studien benötigt, um so was tatsächlich auszulösen, sind so hoch, dass man sie in Lebensmitteln eigentlich nie erreicht, sodass dann eben weiterhin beides, sowohl Sulfit als auch der gelbe Farbstoff, in bestimmten Maximalmengen weiterverwendet werden darf.
Peer Kittel: Gibt es denn also umgekehrt gefragt Zusatzstoffe, die mal erlaubt waren und die dann verboten wurden? Ich habe glaube, ich habe gelesen, dass es Farbstoffe gibt, die bei Kindern ganz besondere Berühmtheit erlangt haben, weil sie zu einer Hyperaktivität führen sollen. Was hat es denn damit aus sich?
Thomas Henle: Ja, das ist tatsächlich so und das ist insofern auch ein Beleg, wenn ich mal so sagen darf, für das Verantwortungsbewusstsein der Zulassungsbehörden. Es gab vor einigen Jahren Berichte, das war glaube ich so 2008, 2009, dass dieser gelbe Farbstoff Tatrazin bei Kindern eventuell Hyperaktivität auslösen kann. Auch in sehr hohen Konzentrationen, Konzentrationen, die viel höher sind, das man in Lebensmitteln eigentlich anwendet. Aber all das hat dann letztlich dazu geführt, dass die EU-Kommission sich entschieden hat, einen Warnhinweis vorzuschreiben. Das heißt, wenn jetzt Lebensmittel Tatrazin enthalten oder andere Azofarbstoffe, das ist die Gruppe an Farbstoffen zu denen das Tatrazin gehört, dann muss auf denen draufstehen, "Kann die Aktivität und die Aufmerksamkeit von Kindern beeinträchtigen". Also ein Warnhinweis für etwas, was eigentlich wissenschaftlich sehr sehr umstritten ist. Und ein besseres Beispiel vielleicht noch für die tatsächliche Rücknahme einer Zulassung ist das Titandioxid.
Das ist ein weißes Farbpigment mit der E-Nummer 171. Das hat man verwendet für glänzende Überzüge von Lebensmitteln. Und es wurde vor kurzem von der EFSA, von der Europäischen Behörde für Lebensmittesicherheit verboten, weil man eben festgestellt hat, dass es sich im Körper anreichern kann, dass es nicht komplett ausgeschieden wird, dass es eventuell erbgutschädigend oder vielleicht sogar krebserregend wirken kann. Und diese Sicherheitsbedenken haben dann dazu geführt, dass Titandioxid im Januar 2022 aus dem Verkehr gezogen würde.
Peer Kittel: Darin kann man ja dann ganz gut sehen, dass es da doch ein Regelmechanismus gibt, der ganz gut funktioniert.
Thomas Henle: Ja, genau.
Peer Kittel: Wir haben jetzt über das Thema Schädlichkeit von Zusatzstoffen gesprochen und vor allem auch festgestellt, dass die Bedenken einigermaßen unbegründet sind. Jetzt muss sich die Lebensmittelindustrie aber auch immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, dass sie vielleicht ein bisschen trickst und die Verbraucher:Innen da auch in gewisser Weise manchmal hinters Licht geführt werden. Das geht ja dann schon mit solchen Labels los, wie zum Beispiel "Frei von Zusatzstoffen". Also täuscht man da nicht am Ende etwas vor, was es so gar nicht geben kann?
Thomas Henle: Ja, das ist schon ein Punkt, der es wirklich wert ist, kritisch darüber mal zu diskutieren. Das mit diesem Tricksen und Täuschen ist natürlich ein Vorwurf, den sich die Industrie immer fallen lassen muss. Aus wissenschaftlicher Sicht würde ich vielleicht ein kleines bisschen mehr Seriosität mir wünschen, denn ich bin der Meinung, dass es dieses "Frei von" überhaupt nicht braucht, aber letztlich suggeriert man den Verbraucherinnen und Verbrauchern damit eine bessere Qualität, wenn sie eben das Lebensmittel frei von Konservierungsstoffen ist, was eigentlich gar nicht notwendig ist, denn selbst mit Konservierungsstoffen wäre die Qualität wahrscheinlich genauso gut. Tatsächlich gibt es hier strenge Regeln. Das muss man vielleicht noch mal zunächst aus lebensmittelrechtlicher Sicht sagen. Man darf beispielsweise "Ohne Konservierungsstoffe" nicht draufschreiben, wenn das Lebensmittel von vornherein keine Konservierungsstoffe enthalten darf. Joghurt zum Beispiel darf keine Konservierungsstoffe enthalten. Entsprechend darf man das nicht explizit ausloben, denn das wäre eine sogenannte Werbung mit Selbstverständlichkeiten. Aber um vielleicht noch mal so ein bisschen auf die ganz, ganz am Anfang einleitende Diskussion, wer ist denn verantwortlich für diese ganze Verwirrung und für dieses ganze Unwohl zum Thema Konservierungsstoffe, zum Thema Zusatzstoffe zurückzukommen. Letztlich tragen aus meiner Sicht solche Werbemaßnahmen im Sinne von "Unsere Lebensmittel enthalten keine Zusatzstofforte. Wir sind nur reine Natur" genau dazu bei, dass die Verunsicherung unter den Verbraucher:Innen immer größer wird. Denn wenn man das draufschreibt, unser Lebensmittel enthält keine Zusatzstoffe, dann assoziiert man damit eine bessere Qualität, einen Vorteil gegenüber den Mitbewerbern. Und das ist aus meiner Sicht eigentlich schlichtweg nicht notwendig. Denn wenn sich alle an die gesetzlichen Regelungen halten, dann ist ja eigentlich alles gut. Und von daher muss man sich jetzt nicht unbedingt irgendwo was auf die Fahne schreiben oder auf die in die Werbekampange mit einbauen, was letztlich eigentlich dann für die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen wahnsinnsgroßen Zusatzinformationsgehalt hat.
Jule Wäntig: Eine Welt ohne jegliche Konservierungsstoffe, um allen die Angst zu nehmen, wäre das überhaupt möglich?
Thomas Henle: Nö. Um es ganz klar zu sagen, wir haben ja einleitend diskutiert, viele Zusatzstoffe verwenden wir unbewusst als Teil unserer Zutaten. Manche Zusatzstoffe sind für die Ernährung der Weltbevölkerung unbedingt notwendig. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir eine steigende Weltbevölkerung mit Lebensmitteln versorgen müssen in den nächsten Jahrzehnten und was ohne industrielle Lebensmittel und auch ohne Zusatzstoffe, Konservierungsstoffe beispielsweise, niemals funktionieren wird. Also eine Welt ohne Zusatzstoffe ist praktisch ausgeschlossen. Man kann sich natürlich selber ein bisschen den Kopf machen, wie versuche ich, wenn ich das möchte, die Verwendung von Zusatzstoffen zu vermeiden. Das kann man, indem man auf die Verpackung guckt, Zusatzstoffe müssen da draufstehen. Und wenn ich sie nicht haben will, aus welchen Gründen auch immer, dann kaufe ich halt die Produkte, die sie nicht enthalten. Und man wird dann sehr schnell feststellen, dass tatsächlich Zusatzstoffe in der Regel gar nicht mehr so häufig verwendet werden. Ja, und da muss man noch einen Punkt mit in die Diskussion bringen, der vielleicht über allem steht und der uns vielleicht in jeder Folge irgendwo als übergeordnetes Thema mit beschäftigen wird. Lebensmittel sind häufig zu billig. Klingt jetzt ein bisschen provokativ, aber wer glaubt, für einen Wurstaufschnitt 39 Cent pro 100 Gramm zahlen zu müssen und dann hochwertig das Biofleisch mit ausgewählten Kräutern oder Gewürzen erwartet, das ist schlicht und einfach nicht möglich. Das heißt, wer damit hochwertige Qualität erreicht, der muss damit rechnen, dass dann Dickungsmittel, Konservierungsstoffe, Aromastoffe verwendet werden. Letztlich hat es also jeder selber in der Hand. Wer Zusatzstoffe vermeiden möchte, der kann das problemlos machen und wer dann doch ab und zu eine Tütensuppe oder eine Dose sich aufmacht,der muss nun wirklich keine Angst haben, was Zusatzstoffe anbelangt. Diese Tüten und diese Dosen sind viel, viel besser als ihr Ruf und letztlich ist dann alles andere Geschmackssache.
Peer Kittel: Mit diesem passenden Statement und mit dieser Zusammenfassung und der Fokussierung des mündigen Konsumenten, sind wir dann schon am Ende der heutigen Folge angekommen. Wie immer, vielen Dank, lieber Thomas, dass du deinen Expertenwissen mit uns geteilt hast und ich denke schon, dass du das Thema E-Nummern Zusatzstoffe so beleuchtet hast, dass wir das jetzt deutlich besser einordnen können.
Und wenn Sie Geschmack an unserem garantiert zusatzstofffreien Podcast gefunden haben, dann hören Sie gerne auch in unseren weiteren Folgen hinein. Unseren Podcast gibt es immer monatlich auf der Webseite der TU Dresden und überall da, wo es Podcasts gibt. Wenn Sie Themenwünsche rund um Lebensmittel, Lebensmittelchemie oder Ernährung haben, dann schreiben Sie uns auch gerne eine E-Mail an lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de.
Das war Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden.
Bis zum nächsten Mal.
Folge 1: Lebensmittel-Kennzeichnung - Was muss alles auf Lebensmitteln drauf stehen und warum?
In unserer ersten Folge wollen wir uns dem Thema „Lebensmittel-Kennzeichnung“ widmen. Auf den Lebensmittelverpackungen machen die Hersteller viele Angaben: Nährwerte, Inhaltsstoffe, Allergene, etc. Für Verbraucher:innen ist es oft nicht leicht, die Übersicht zu wahren. Mit unserem Experten Thomas Henle wollen wir darüber sprechen, warum so viele Angaben zu den Lebensmitteln gemacht werden, was diese bedeuten und wir werden die Frage klären, ob die Kennzeichnungen tatsächlich immer wissenschaftlich korrekt sind.
Peer Kittel: Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden. Folge 1, ein Beipackzettel für Lebensmittel. Was muss alles auf Lebensmitteln draufstehen und warum?
[Intro-Musik spielt]
Peer Kittel: Ja Herzlich willkommen zu unserer neuen Podcast-Reihe Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden. Darin sprechen wir mit Lebensmittelchemiker Prof. Thomas Henle von der Technischen Universität Dresden über aktuelle Themen rund um Lebensmittel und Ernährung. Wir erklären die wissenschaftlichen Hintergründe, räumen mit Mythen und Fake News auf und werden auch den ein oder anderen persönlichen Tipp unseres Experten einholen. Wir, das sind Studentin Jule Wäntig und ich, Peer Kittel, Bereichsdezernent am Bereich Mathematik und Naturwissenschaften. Insofern, ich begrüße euch. Hallo Jule, hallo Thomas.
Thomas Henle: Hallo Peer, hallo Jule.
Jule Wäntig: Hallo!
Peer Kittel: In unserer ersten Folge wollen wir uns dem Thema Lebensmittelkennzeichnung widmen. Auf den Verpackungen steht ja viel drauf. Nährwerte, Inhaltsstoffe, Allergene und so weiter. Mit unserem Experten Thomas Henle wollen wir darüber sprechen, warum so viele Angaben zu den Lebensmitteln gemacht werden, was diese bedeuten. Und wir werden die Frage klären, ob die Kennzeichnungen tatsächlich immer wissenschaftlich korrekt sind. Jule, du hast dich mal umgehört?
Jule Wäntig: Ich habe mich in Vorbereitung auf diese Folge mal unter meinen Freund:innen und Bekannten umgehört und habe die gefragt, lest ihr euch überhaupt durch, was da drauf steht? Und ein Drittel hat gesagt, nee, schaue ich mir nicht an. Dafür hat aber ein Drittel gesagt, ja, aber nur bei Lebensmitteln, die ich noch nicht kenne. Und dann ein Drittel hat gesagt, nee, schaue ich mir nicht an. Dafür hat aber ein Drittel gesagt, ja, aber nur bei Lebensmitteln, die ich noch nicht kenne. Und dann ein Drittel hat gesagt, ja, immer. Und die meisten achten eben darauf, ist was Tierisches drin, wie viel Zucker, wie viel Fett ist drin, ist Alkohol drin. Und überraschend viele gucken einfach nur aufs Eiweiß.
Thomas Henle: Interessante Umfrage. Und mit dieser Umfrage bist du eigentlich ganz gut, genau in dem Bereich, was auch tatsächlich durch wissenschaftliche Umfragen herausgekommen ist. Da gab es vor einigen Jahren eine Studie von Kolleginnen und Kollegen von der Uni in Łódź in Polen. Die haben für polnische Verbraucherinnen und Verbraucher getestet und gefragt, lest ihr überhaupt, was draufsteht auf Lebensmitteln? Und in der Tat kam so ganz grob raus, etwa die Hälfte der Befragten lesen die Labels bzw. die Aufschriften. Und letztlich gab es gar keine großen Unterschiede, egal ob jetzt Männer oder Frauen. Es war auch mehr oder weniger unabhängig vom sozioökonomischen Stand bzw. dem Einkommen. Also letztlich der Hälfte ist es egal und die andere Hälfte liest es. Also insofern passt eine Umfrage da eigentlich ganz gut ins Bild.
Jule Wäntig: Ich habe hier so ein Knuspermüsli. Da kenne ich sehr gut, die Verpackung, weil ich das beim Frühstück sehr oft durchgelesen habe. Hier stehen ganz viele Sachen drauf, ein paar Zutaten, die ich sehr gut kenne, ein paar, die ich nicht so kenne. Was muss denn da alles draufstehen auf der Verpackung?
Thomas Henle: Also diese Verpackungsbeschriftungen sind natürlich für diejenigen, die sie erstellen müssen durchaus eine gewisse Herausforderung, wenn man so will, ist diese Kennzeichnung, so eine Art Wissenschaftskommunikation. Und Wissenschaftskommunikation hat immer das Problem, dass es auf der einen Seite möglichst fachlich korrekt informieren soll, auf der anderen Seite aber auch natürlich von jedem verstanden werden soll. Und diese Ambivalenz kommt auch so ein bisschen zum Ausdruck auf den Verpackungsbeschriftungen. Also manchmal ist es wissenschaftlich ein bisschen grenzwertig, man hat vielleicht etwas zu vereinfacht und für manche andere dann wieder zu kompliziert. Also man kann es festlegen, es gibt eine sogenannte Lebensmittelinformationsverordnung, die ist auf der Basis einer entsprechenden EU-Verordnung festgelegt worden. Die gilt in Deutschland seit 2014 und da ist dann ganz genau festgelegt, was auf Lebensmitteln draufstehen muss.
Peer Kittel: Thomas, ich glaube, wenn ich mir das Knuspermüsli hier mal ein bisschen genauer anschaue, das musst du noch ein bisschen näher erläutern. Fangen wir mal mit der Zutatenliste an. Ich lese einfach mal vor. Wir haben 55 Prozent Vollkorn-Haferflocken, dann Zucker, Sonnenblumenöl, Weizenmehl, Glucose Sirup, 5 Prozent Vollmilchschokolade und so weiter und so fort. Gibt es ein System oder wie ist das geregelt? Woran müssen sich die Herstellerfirmen dann halten?
Thomas Henle: Also in der Tat ist diese LMIV, die Lebensmittelchemikerinen, Lebensmittelchemiker, kürzen Sie mal gerne ab, diese Informationsverordnung regelt wirklich ganz explizit, was draufstehen muss. Da geht es dann um die Bezeichnung des Lebensmittels, um die Füllmenge, um den Hersteller, die Adresse und so weiter. Aus lebensmittelchemischer Sicht interessant ist es jetzt, dass es ein paar so Vorgaben gibt, die eben ganz genau regeln, was quasi im Lebensmittel drin ist sozusagen, beziehungsweise was festgeschrieben wird. Da ist es die Zutatenliste, also die einzelnen Rezepturbestandteile. Das ist der eine ganz wichtige Punkt. Der zweite Punkt ist dann, dass darin auch Zusatzstoffe mit aufgeführt werden müssen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die sogenannte Allergen-Kennzeichnung, eigentlich genauer gesagt die Kennzeichnung von Stoffen, die jetzt Allergien oder Überempfindlichkeiten auslösen. Und der dritte Punkt ist die sogenannte Nährwert-Kennzeichnung, also die Zahl tatsächlich, wie viel Prozent eines Inhaltsstoffs sind drin. Das sind die drei, ich möchte mal so sagen, aus lebensmittel-chemischer Sicht spannendsten Sachen. Und dazu kommt dann noch das Mindesthaltbarkeitsdatum, was natürlich für die Verbraucherinnen und Verbraucher auch ein sehr, sehr wichtiger Punkt ist.
Jule Wäntig: Jetzt sehe ich hier in der Zutatenliste, dass bei der Vollmilchschokolade steht 5 Prozent davor. Und es gibt auch so zwei andere Zutaten, die haben eine Prozententgabe, aber ganz viele andere nicht. Warum das denn?
Thomas Henle: Also zunächst einmal ist diese Zutatenliste so ansortiert, dass die Zutat, die am meisten drin ist, immer als erstes kommt und in absteigender Reihenfolge werden dann die anderen Bestandteile sortiert und für einige Bestandteile, die werden dann in Prozentangaben mit angegeben, also zum Beispiel 5% Schokolade oder 10% Milchpulver oder so und zwar immer dann, wenn sie in der Bezeichnung des Lebensmittels besonders herausgehoben werden. Wenn es zum Beispiel heißt Knuspermüsli mit Schokolade oder so, dann muss der Schokoladenanteil 5 Prozent oder wie auch immer in der Zutatenliste entsprechend genannt werden.
Peer Kittel: Jetzt hatten wir die Zutaten, wir haben die Prozentangaben. Was ja für viele auch wichtig ist, insofern sollten wir darauf noch mal ein bisschen genauer eingehen, ist das Thema Allergenkennzeichnung. Was hat es denn damit auf sich?
Thomas Henle: Diese Allergenkennzeichnung ist vor gut 20 Jahren eingeführt worden und findet sich jetzt auch wieder in dieser Lebensmittelinformationsverordnung. Tatsächlich umfasst es die 14 häufigsten Auslöser von Allergien bzw. Unverträglichkeiten. Und das ist eine Liste von Inhaltsstoffen, wie zum Beispiel Auslöser der Erdnussallergie, Allergien gegen Fisch, Eier, Milch. Alle diese Lebensmittel oder Lebensmittelbestandteile müssen dann entsprechend auf der Verpackung gekennzeichnet werden. Neben Allergien sind es dann aber auch solche Sachen wie zum Beispiel Laktose, was eine Laktosintoleranz auslösen kann bei empfindlichen Menschen. Oder Überempfindlichkeiten gegen Sulfit, also gegen das Schwefeln von Lebensmitteln. Auch da gibt es ganz wenige Menschen, die das haben, aber auch für die muss das dann entsprechend gekennzeichnet werden. Ja, und das muss auf der Verpackung deutlich gemacht werden. Und da gibt es jetzt verschiedene Möglichkeiten. Entweder es wird explizit erwähnt, Allergene, Doppelpunkt, und dann werden die Substanzen aufgelistet. In der Regel hebt man diese Inhaltsstoffe durch eine Kenntlichmachung in der Zutatenliste hervor, indem man sie fettdruckt oder in Großbuchstaben aufschreibt und auf die Art und Weise den Verbrauchern und Verbrauchern anzeigt, dass die entsprechenden Inhaltsstoffe drin sind.
Peer Kittel: Das klingt ja ganz gut, wenn da jetzt für Menschen mit einer Allergie das Risiko erkannt und verringert wird. Nun steht da ja aber manchmal drauf, "kann Spuren von... enthalten". Letztlich führt das die Kennzeichnung dann wieder ad absurdum, wenn man als Allergiker damit rechnen muss, dass doch alle möglichen Allergene drin sind. Also woher kommen dann denn wieder solche Aufschriften?
Thomas Henle: Ja, da ist schon was dran. Das ist in der Tat so, dass man dann bei manchen Lebensmitteln, wenn man so will, fast die gesamte Allergen-Kennzeichnungsverordnung mit "kann möglicherweise irgendwie drin sein". Man muss sich jetzt aber so ein bisschen in die Hersteller versetzen, denn das große Problem bei Allergien vor allen Dingen ist, dass es keine echten Grenzwerte gibt. Das heißt, im Gegensatz zu manchen anderen Inhaltsstoffen, wo man sagen kann, wenn unter zum Beispiel einer bestimmten Menge an Laktose im Lebensmittel drin ist, dann vertragen auch Laktose Unverträgliche diese betreffenden Lebensmittel. Und das ist bei Allergien nicht so. Da kann man also nicht sagen, eine Mindestmenge ist auch von Allergikern verträglich. Und aus dem Grunde sichern sich die Hersteller letztlich ab. Das heißt, insbesondere zum Beispiel bei diesem Müsli, was wir hier diskutieren, da kann es natürlich sein, dass auf dieser Produktionslinie des Schokomüsli vielleicht vorher ein Müsli produziert wurde, bei dem dann beispielsweise Erdnüsse mit drin waren. Und winzige Spuren, selbst wenn man die Anlage noch so sauber macht, könnten ja dann für die nächste Produktion mit ins Lebensmittel gelangen, unter Umständen dann bei besonders sensiblen Menschen Allergie auslösen. Und aus diesem Grunde sichern sich die Hersteller ab, indem sie dann letztlich sagen, wir können es einfach nicht ausschließen, dass winzigste Mengen des betreffenden Allergien drin sind. Inwiefern das dann hilfreich ist für Menschen mit Allergie, steht natürlich in der Tat zur Diskussion. Aber ich glaube, dass Menschen, die tatsächlich so starke Allergien haben, auch besonders vorsichtig von sich aus sind und dann vielleicht sogar auf diese Zusatzinformation gar nicht so sehr angewiesen sind.
Jule Wäntig: Kommen wir mal zu den Zusatzstoffen. In der Schule habe ich eine Hausarbeit zur E-Nummer geschrieben. Da habe ich eine Fertigpizza analysiert und weiß aber auch nicht mehr ganz so genau, was es mit denen auf sich hat.
Thomas Henle: Ja, Zusatzstoffe ist ein wichtiges Thema und ich denke, da müssen wir uns auch in den nächsten Monaten mal mit einer extra Folge beschäftigen. Vielleicht jetzt nur in diesem Zusammenhang. Zusatzstoffe sind ja Stoffe, die einem Lebensmittel zugesetzt werden, zum einen aus technologischen Gründen, um die Verarbeitbarkeit zu verbessern. Vor allen Dingen aber auch, um sichere Lebensmittel zu produzieren. Das heißt, um für die Verbraucherinnen und Verbraucher bestimmte Risiken, beispielsweise eines mikrobiellen Verderbs, zu minimieren. Definiert sind Zusatzstoffe als Stoffe, die den Nährwert oder den Gebrauchswert und die Qualität des Lebensmittels sichern oder verbessern. Auch das ist ganz, ganz streng geregelt in der Europäischen Union. Da gibt es eine definierte Liste von Zusatzstoffen. Das ist diese berühmte Liste mit den E-Nummern. Und die EU bzw. das Lebensmittelgesetz funktioniert da nach dem sogenannten Verbotsprinzip mit Erlaubnisvorbehalt. So heißt es ganz großspurig. Was bedeutet, eigentlich ist alles verboten. Das heißt, man darf Lebensmittel nicht zusetzen, außer das, was explizit erlaubt ist. Und dieser Erlaubnisvorbehalt findet sich dann eben in entsprechenden Listen, also dieser Zusatzstoffliste, wo dann eben die Verbindungen aufgelistet sind, die man Lebensmitteln zugeben darf. In der Regel wird dann noch festgelegt, wie viel von dem Zusatzstoff für welche Lebensmittel und so weiter.
Peer Kittel: Wie du schon gesagt hast, das Thema Zusatzstoffe, E-Nummern werden wir sicher in einer der nächsten Folgen nochmal ein bisschen ausführlicher beleuchten. Lass uns vielleicht noch zur dritten Komponente zurückkehren, die du ja vorhin aufgezählt hattest, nämlich das Thema Nährwertkennzeichnung. Ich schaue nochmal in unsere Tabelle rein. Da steht für die einzelnen Stoffe ja der genaue Anteil im Lebensmittel drin. Ich sage mal 15 Gramm Fett, davon 2,5 Gramm Fett, gesättigte Fettsäuren, Kohlenhydrate 66 Gramm, Ballaststoffe 6,7 Gramm und so weiter und so fort. Kannst du das noch ein bisschen näher beleuchten?
Thomas Henle: Also diese Nährwertkennzeichnung, so heißt es, ist seit einigen Jahren ebenfalls Pflicht. Und da gibt es nun eine bestimmte Menge an Inhaltsstoffen, also an chemisch definierten Inhaltsstoffen, die gekennzeichnet werden müssen. Die Lebensmittelchemie spricht da von den Big Seven, den großen Sieben, die entsprechend in dieser Nährwerttabelle dann aufgeführt werden müssen. Ich kann die kurz aufzählen. Es ist Fett und davon dann die gesättigten Fettsäuren. Das sind die Kohlenhydrate, davon dann die Zucker. Es ist das Eiweiß und das Salz. Das wären jetzt sechs Inhaltsstoffe. Und der siebte, dieser Big Seven, ist der Energiegehalt in Kilokalorien beziehungsweise in Kilojoule pro 100 Gramm. Und das sind jetzt die Pflichtangaben, die müssen auf den Lebensmitteln draufstehen. Die können jetzt ergänzt werden. Für manche Lebensmittel findet man dann noch Ergänzungen dazu, freiwillige Angaben, die von den Herstellern gemacht werden können. Das wäre dann sowas wie zum Beispiel Ballaststoffe oder ungesättigte Fettsäuren, Vitamine, Mineralstoffe. Die dürfen auch dann draufstehen, aber nur dann, wenn signifikante Mengen, wie es der Gesetzgeber sagt, im Lebensmittel drin sind. Das heißt, wenn also dann der Vitaminanteil in den betreffenden Lebensmitteln wirklich einen Beitrag zur Vitaminversorgung leistet, dann dürfen die Hersteller das quasi als positives Merkmal ihres Lebensmittels ebenfalls mit kenntlich machen.
Jule Wäntig: Dann habe ich jetzt eine Frage zu dem Zucker, weil es muss ja angegeben werden, wie du gemeint hast, Kohlenhydrate davon Zucker. Aber was bedeutet denn hier jetzt Zucker? Zucker ist ja nicht gleich Zucker, oder?
Thomas Henle: Das ist in der Tat ein Punkt, der ein bisschen problematisch ist und der auch aus chemischer Sicht durchaus ein bisschen komplexer diskutiert werden muss. Der Begriff Kohlenhydrate bedeutet zunächst einmal alles das, was aus, wie die Chemiker sagen, Mono-, Di-, Oligo- und Polysacchariden aufgebaut ist. Also da gehört zum Beispiel Stärke mit dazu. Da gehört aber dann auch zum Beispiel der Haushaltszucker dazu oder der Traubenzucker. Also alles das umfasst den Begriff Kohlenhydrate. Und um jetzt das ein bisschen zu differenzieren, hat man dann eingeführt, dass man sagt Kohlenhydrate insgesamt und davon dann Zucker. Und dieses davon Zucker bedeutet jetzt, das sind die sogenannten Einfach- und Zweifachzucker, also Mono- und Disaccharide. Aber das ist jetzt egal, ob die von Natur aus drin sind oder ob die extra zugesetzt sind. Und diese Zucker sind dann eben solche Sachen wie zum Beispiel der Traubenzucker, die Glucose, der Malzzucker, die Maltose, das ist dann Disaccharide, oder die Saccharose, der Kristallzucker. Alles das muss dann entsprechend als Anteil an diesen Kohlenhydraten erwähnt werden. Bedeutet aber jetzt nicht explizit, dass die dann zugesetzt wurden, sondern die können natürlich auch genauso von Natur aus vorhanden sein. In Fruchtsaftgetränken beispielsweise ist in der Regel schon sehr, sehr viel Zucker, also in dem Fall jetzt dann Traubenzucker beispielsweise oder Saccharose mit drin.
Peer Kittel: Wie ist das denn mit den Tagesbedarfen? Das wird ja nun auch ausgewiesen. So und so viel Prozent des Tagesbedarfs wird also da schon verbraucht mit dem einen oder anderen Lebensmittel. Nun sind Menschen ja aber unterschiedlich groß, unterschiedlich schwer. Wie kann man da denn überhaupt eine generelle Aussage zum Tagesbedarf von Personen treffen?
Thomas Henle: Ja, das ist in der Tat ein spannendes Thema. Und da streiten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch wirklich so ein bisschen, denn die Festlegung im Sinne von wie viel Prozent des Tagesbedarfs deckt jetzt zum Beispiel ein Müsli-Riegel oder so, ist natürlich extrem schwierig zu beurteilen. Jeder Mensch ist anders, um es mal so pauschal zu formulieren. Man hat sich deshalb darauf geeinigt, dass diese Angabe des Tagesbedarfs erstmal freiwillig ist, das heißt die Hersteller müssen das nicht machen, im Gegensatz zu den Prozentangaben, das ist verpflichtend. Und man hat sich dann orientiert letztlich an Ernährungsempfehlungen der unterschiedlichsten Wissenschaftsgesellschaften. Da gibt es in Deutschland die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Und die beschäftigt sich ja, wenn man so will, professionell mit der Frage, wie viel von bestimmten Lebensmittelinhaltsstoffen müssen wir denn pro Tag aufnehmen mindestens und wie viel sollten wir möglichst nicht überschreiten und so weiter. Und da muss man natürlich dann, ich sage mal, Referenzmenschen definieren. Und das ist auch tatsächlich dann hier gemacht worden von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit. Da gibt es eine sogenannte GDA, Richtlinie, die "Guideline Daily Amounts", also quasi die Referenzmengen für Energie, für ausgewählte Nährstoffe. Und jetzt wird es natürlich ein bisschen problematisch dahingehend, denn wer ist denn ein Referenzmensch? Und man hat sich dann für diese Angaben darauf geeinigt, dass wenn man solche Prozentangaben macht, ergeht man davon aus, dass die Person, die man hier festlegt, 2000 Kilokalorien pro Tag verbraucht. Da sagt man, dass das der durchschnittliche Kalorienverbrauch einer Frau ist oder 2500. Das wäre der Durchschnittskalorienverbrauch eines Mannes. Und darauf bezogen machen dann eben zum Beispiel Gesellschaften wie die DGE oder so Angaben im Sinne von, es sollten so und so viel Prozent dieser Energie gedeckt werden durch Zucker, durch Protein, durch Fett und so weiter. Und dann wird eben dieser Anteil der Inhaltsstoffe in dem Lebensmittel bezogen auf diese Referenzmengen und dann ausgerechnet, dass zum Beispiel ein Joghurt mit 200 Gramm eben so und so viel Prozent der Zufuhr an Eiweiß entspricht. Das ist in der Tat, wie du es richtig ansprichst, problematisch und wirklich allenfalls als Orientierung für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu sehen. Denn allein wenn wir uns da anschauen Peer, dann brauchen wir deutlich unterschiedliche Mengen an Eiweiß und an Kohlenhydraten.
Peer Kittel: Da sagst du was.
Jule Wäntig Wenn ich unsere Müsli-Packung jetzt wieder umdrehe, ist da vorne noch dieser Nutri-Score draufgepackt, so eine Art Ampel-Kennzeichnung. Für mich ist Nutri-Score A schon manchmal ein Kaufargument. Stimmt das denn, dass grün gesund und rot total ungesund ist?
Thomas Henle: Ja, dieser Nutri-Score, jetzt kommen wir wirklich so in den Bereich der Punkte, die man aus wissenschaftlicher Sicht durchaus etwas kontrovers diskutieren kann. Ich versuche es einmal so objektiv wie möglich darzustellen. Dieser Nutri-Score ist im Jahr 2020, im Herbst 2020 als freiwillige Kennzeichnung eingeführt worden. Ist also auch nicht verpflichtend. Man findet es nicht auf allen Lebensmitteln. Und man ist letztlich davon ausgegangen, dass man das Essverhalten der Menschen in gewisser Weise, ja ich möchte nicht sagen beeinflussen, aber doch dahingehend modulieren möchte, dass man gewisse Hinweise gibt, wie man sich gesünder ernähren kann. Jetzt ist aber ganz klipp und klar festzuhalten, dass dieses Farbensystem ABCDE, also von grün nach rot, nicht per se bedeutet, rot ist ungesund und grün ist gesund. Tatsächlich hat man versucht in dem Nutri-Score, das ist die wissenschaftliche Basis dafür, dass man die Inhaltsstoffe nach, ich sage mal, günstiger und weniger günstig bewertet. Günstiger hat man dann gesagt, zum Beispiel ungesättigte Fettsäuren, ungünstig heißt viel Zucker, viel Salz, viel Energie. Also man macht dann so ein Ranking, wenn ich das mal so sagen darf, und berechnet dann in der Tat, also da steht tatsächlich ein Algorithmus dahinter, berechnet dann tatsächlich für die bestimmten Lebensmittel so eine Einstufung in A bis E, wobei A dann eben bedeutet, es ist eher bestehend aus günstigen oder passt zu einer günstigen Ernährung, und E würde eben bedeuten, da ist vielleicht sehr, sehr viel Fett drin oder es ist sehr energiereich. Wichtig ist aber jetzt und dafür sollte dieser Nutri-Score auch verwendet werden und die Vertreter dieses Nutri-Scores machen das natürlich auch entsprechend Kenntlich wird ganz deutlich so kommuniziert, es soll jetzt nicht verglichen werden im Sinne von ich ernähre mich jetzt nur noch mit A, weil das gesund ist und nicht mehr mit E, weil das ungesund ist, sondern dieser Nutri-Score erlaubt einen Vergleich von Lebensmitteln einer Produktkategorie. Wenn man jetzt zum Beispiel Müsli nehme, und das kann man tatsächlich wirklich auch mal im Supermarkt so machen und sich von so einem Regal stellt und zehn Müsli ein und dasselbe Hersteller anschaut, dann wird man feststellen, dass man da Müsli findet mit Einstufungen C oder D. Die haben dann zum Beispiel sehr viel Zucker drin, sehr viel Fett. Und es gibt welche, die haben A, einen Nutri-Score mit A. Und da liest man dann in der Regel drauf, enthält keinen zugesetzten Zucker oder so. Also wenn dieser Nutri-Score einen Sinn macht, dann in der Tat zum Vergleich von Lebensmitteln einer Produktkategorie.
Peer Kittel: Jetzt haben wir ja immer von verpackten Lebensmitteln bis hierhin gesprochen, auf denen dann die entsprechenden Infos draufstehen müssen. Wie ist das denn eigentlich bei unverpackten Lebensmitteln? Also zum Beispiel beim Bäcker auf den Brötchen, auf den Tüten, da steht ja nichts drauf. Müssen die sich also nicht an diese Vorgaben halten?
Thomas Henle: Ich sage mal, jein. Man hat natürlich die Schwierigkeit, dass man auf unverpackte Lebensmittel keinen Aufdruck oder so machen kann oder alle dann verpacken müsste, um denen dann so einen quasi Beipackzettel mitzugeben. Und aus dem Grund hat man eine ganze Reihe von Lebensmitteln von dieser Kennzeichnungspflicht ausgenommen. Das ist dann sowas wie frische Lebensmittel wie Obst oder Gemüse oder auch die Brötchen oder die Semmeln, die man beim Bäcker kauft. Für die ist dann diese explizite Lebensmittel-Kennzeichnungspflicht dahingehend limitiert, dass die eben keine Aufschriften haben müssen natürlich. Angaben aber zum Beispiel zur Bezeichnung, zur Herkunft, zum Preis müssen schon deutlich gemacht werden. Es sind aber keine Angaben zum Nährwert oder zur Zutatenliste notwendig. Kann man auch gar nicht machen. Also Obst, Gemüse schwankt in der Zusammensetzung. Da ist es natürlich völlig ausgeschlossen, hier entsprechende Daten zu liefern. Was aber auch weiter gilt für entsprechend verarbeitete Lebensmittel, wie zum Beispiel die Brötchen oder die Semmeln vom Bäcker, ist die Allergen-Kennzeichnung. Diese Lebensmittel werden nicht explizit gekennzeichnet, sondern da muss dann in der Bäckerei durch zum Beispiel den Aushang oder durch Listen, die man dann bei Nachfragen bekommt, deutlich gemacht werden, welche potenziellen Allergene in den Produkten drin sind. Das kann auch letztlich vielleicht nur der Fachverkäufer, die Fachverkäuferin dann wissen. Auch da kann man fragen, sagen Sie mir mal bitte, ist da jetzt Soja mit drin, weil ich eine Soja-Allergie habe. Gilt übrigens auch für Restaurants, kennt auch jeder. Da steht dann in der Speisekarte dann häufig für Allergene, fragen Sie unser Personal oder es stehen kleine Zahlen drunter. Man kann dann irgendwo ganz hinten nachlesen, was das bedeutet. Also die Allergen-Kennzeichnung ist auch für solche Lebensmittel verpflichtend. Aber alles das, was so die Zutatenlistungen angeht -Kennzeichnung ist auch für solche Lebensmittel verpflichtend. Aber alles das, was so die Zutatenliste und den Nährwert anbelangt, davon sind diese Lebensmittel ausgenommen.
Jule Wäntig: Alkoholische Getränke sind verpackt, trotzdem haben viele keine Kennzeichnung. Wie kommt das?
Thomas Henle: Sehr gute Frage zum Abschluss. Alkoholische Getränke sind ebenfalls ausgenommen. Und zwar ab einem Alkoholgehalt von 1,2 Prozent. Wenn Sie drunter sind, wenn man guckt auf alkoholfreiem Bier, da steht dann tatsächlich auch so eine Inhaltsstoffliste drauf. Getränke über 1,2 Prozent sind ausgenommen. Aber, sagt man jetzt, die Hersteller dieser betreffenden Lebensmittel wären motiviert oder dazu angehalten, solche Listen ebenfalls zu machen. Der Deutsche Brauerbund beispielsweise empfiehlt seinen Mitgliedsunternehmen, entsprechende Nährwertkennzeichnungen ebenfalls zu machen. Also auf manchen Bieren, zum Beispiel auch auf manchen sächsischen Bieren oder auf besonderen Dresdner Bieren, da findet man tatsächlich dann auch so eine Nährwertkennzeichnung. Warum die ausgenommen waren oder immer noch ausgenommen sind, liegt vermutlich daran, dass diese Lebensmittel ja nun, ich sage mal, keinen signifikanten Beitrag zur Zufuhr bestimmter Inhaltsstoffe des Tages beitragen sollten. Hängt natürlich von der Menge ab. Von daher hat man dann diese Nährwertkennzeichnung hier ausgenommen. Wohl aber haben die eine Zutatenliste. Das heißt, auch auf einem Bier oder auf einem alkoholischen Mixgetränk finden wir natürlich entsprechend die Zutatenlisten.
Peer Kittel: Lieber Thomas, liebe Jule, vielen Dank. Unsere Zeit ist leider schon um. Wir haben viele Hintergrundinfos zur Lebensmittelkennzeichnung erfahren. Für einige Fragen hat die Zeit heute aber nicht gereicht. Das haben wir ja schon angedeutet. Da werden wir in den kommenden Folgen noch ein bisschen intensiver in den Austausch gehen.
Und wenn dieser Podcast künftig auch auf Ihrer Zutatenliste für die Aufnahme von Wissen stehen soll, können Sie immer monatlich auf der Webseite der TU Dresden und überall da, wo es Podcasts gibt, mit einer neuen Folge rechnen. Wenn Sie Themenwünsche rund um bestimmte Lebensmittel, Lebensmittelchemie oder Ernährung haben, schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an lebensmittelchemie.podcast@tu-dresden.de. Das war Food Facts, der Lebensmittelchemie-Podcast der TU Dresden mit Prof. Thomas Henle, Jule Wäntig und Peer Kittel.
[Outro Musik]
Weitere Informationen
Sprecher:innen
Prof. Thomas Henle:
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Jahrgang 1961
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Seit 1998 Professor für Lebensmittelchemie an der TU Dresden
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Ärgert sich oft über so manchen „Ernährungspodcast“ – und muss deshalb jetzt was "Eigenes" machen.
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Lieblingslebensmittel: Alles (außer Rohmilch)
Peer-Philipp Kittel:
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Jahrgang 1984
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Seit 2021 Dezernent des Bereichs Mathematik und Naturwissenschaften der TU Dresden
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Hat früher mal beim Radio gearbeitet
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Lieblingslebensmittel: Reis und Harzer Käse (nicht unbedingt in Kombination)
Jule Wäntig
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Jahrgang 2002
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Studiert Bauingenieurwesen
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Hört Podcasts immer in doppelter Geschwindigkeit
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Lieblingslebensmittel: Kartoffel
Produktion
Nicole Gierig, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit, TU Dresden