Den Kleinsten eine Stimme geben
(porträtiert im Jahr 2017)
Dagmar Möbius
Bestimmt wäre sie auch eine gute Ärztin geworden. Nicht nur der Numerus clausus bestimmte einen anderen Weg für Anne Müller-Schuchardt. Ihre heutige Tätigkeit beglückt die Linguistin dennoch täglich, denn sie vereint Kommunikation und Medizin.
Wie spricht man mit Mitarbeitern? Worüber soll wer wann von wem informiert werden? Mit solchen Fragen war Anne Müller-Schuchardt schon seit frühester Jugend konfrontiert. Als Unternehmertochter interessierte sie sich besonders für Kommunikation. Ärztin zu werden, stellte sie sich auch sinnvoll vor. „Aber mein Numerus clausus reichte nicht aus“, gibt sie zu. Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit, denn die in Osterode im Harz Geborene hat in ihrer Kindheit mehr erlebt als mancher heutige Mittdreißiger. Ungefähr alle zwei Jahre musste die Familie beruflich bedingt umziehen. 1993, mit 14 Jahren, kam sie aus Hessen nach Dresden. „Das war für mich als Teenager sehr speziell“, beschreibt die 38-Jährige rückblickend den Wechsel nach Sachsen. Inzwischen ist sie heimisch geworden und fühlt sich als Dresdnerin.
Statt BWL lieber „was mit Sprache“
Dass sie den Familienbetrieb, einen Automobilzulieferer, eines Tages übernehmen würde, hatte sie im Hinterkopf, als sie sich nach dem Abitur für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre in Würzburg einschrieb. Nach drei Semestern stellt sie fest: „Das ist nicht mein Ding.“ Ihre Wunschkombination fand sie an der TU Dresden. Im Oktober 2000 nahm sie ein Magisterstudium in Angewandter Linguistik mit Vertiefung Unternehmenskommunikation im Hauptfach sowie Rechtswissenschaft und Romanistik/Literaturwissenschaft auf. Fast fünf Jahre arbeitete sie begleitend an der Professur für Angewandte Linguistik und Fachsprachenforschung der Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften als studentische Hilfskraft. An Professor Axel Satzger und Dr. Regina Bergmann erinnert sie sich besonders gern: „Die Professur war klein, die Atmosphäre sehr familiär. Ungefähr 30 bis 60 Studenten, in den Seminaren zehn bis 15.“ Dass sie zweimal durch die Zwischenprüfung fiel, bewertet sie heute als Chance. „Professor Satzger trat mir sinnbildlich in den Allerwertesten, er sah mein Potenzial und ermutigte mich, nicht aufzugeben. Dafür bin ich sehr dankbar.“
Industrie und Forschung
Ein Höhepunkt war ihr viermonatiges Praktikum beim US-amerikanischen Unternehmen VForge in Colorado. Bei der innovativen Präzisionsmetallgussmanufaktur, die Produkte für Konsumgüter, Medizin, Verteidigung und Autoindustrie fertigt, gestaltete sie nicht nur Management- und Marketingprozesse mit – sie entwickelte auch ein Orientierungsprogramm für neue Mitarbeiter und arbeitete teilweise in der Produktion mit. Gute Voraussetzungen für ihren ersten Job nach dem Magisterabschluss. Als Trainee der Geschäftsführung bei der Druckguss Heidenau GmbH durchlief sie alle Abteilungen von Arbeitsvorbereitung und Produktion über Entwicklung und Einkauf bis zu Qualitätswesen und Vertrieb. Zudem gab sie eigenverantwortlich die Mitarbeiterzeitschrift „DGH-Group InForm“ heraus, die sie im Rahmen der eigenen Magisterarbeit entwickelt hatte. Nach einigen Monaten lockte die Forschung. Zwischen 2011 und 2013 arbeitete Anne Müller-Schuchardt als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsverbund Public Health der TU Dresden. Hier war sie für Drittmittelprojekte im Bereich Ultrafeinstaub und Gesundheit sowie für mehrere wissenschaftliche Zeitschriften als Gutachterin verantwortlich.
Die perfekte Stelle
Nach Elternzeit und dem Ende ihrer befristeten Stelle gewann sie Professor Mario Rüdiger für ihre heutige Aufgabe. Der Dresdner Kinderarzt und Neonatologe hatte 2014 die Deutsche Stiftung Kranke Neugeborene gegründet, um Früh- und kranke Neugeborene strukturiert und langfristig versorgen zu können. Seit Januar 2015 ist die Englisch, Spanisch und Italienisch sprechende Kommunikationsexpertin Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Stiftung in Dresden. Sie sagt: „Jedes zehnte Neugeborene kommt zu früh auf die Welt und jedes fünfte Neugeborene wird in der Klinik durch Kinderärzte behandelt.“ Informationen für Eltern sind ein Hauptanliegen. So wurde die vor zwei Jahren entwickelte neoApp, eine Art digitales Tagebuch, über 1000 Mal heruntergeladen. Lehrvideos klären darüber auf, wie wichtig Muttermilch ist, was eine Intensivstation ist, warum die Känguru-Methode gut für Baby und Eltern ist oder welche Erste-Hilfe-Maßnahmen beherrscht werden sollten. An einem neuen Projekt arbeitet Anne Müller-Schuchardt momentan. Dazu kooperiert sie mit Mitarbeitern ihres ehemaligen Lehrstuhls. „Breaking bad news“ soll ein Trainingsmodul werden, das Ärzte schult, wie sie ungünstige Diagnosen oder Prognosen sensibel und empathisch mit den Angehörigen besprechen.
Die Studienfächerkombination aus Kommunikation/Öffentlichkeitsarbeit und Jura erweist sich für die heutige Tätigkeit der Linguistin als perfekt. „Zum einen wollen wir die Deutsche Stiftung Kranke Neugeborene bekannter machen. Zum anderen helfen mir meine juristischen Kenntnisse enorm, weil Stiftungen besonders im rechtlichen Fokus stehen.“ Nur umziehen möchte Anne Müller-Schuchardt am liebsten nie wieder.
Kontakt:
Anne Müller-Schuchardt, M.A.
Referentin für Öffentlichkeitsarbeit
Deutsche Stiftung Kranke Neugeborene
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