Globale Vision: Alle sollen am Wissen teilhaben
(porträtiert im Jahr 2022)
Dagmar Möbius
Dr. Martin Gerlach ist Physiker. Als er sich für das Studium an der TUD entschied, zweifelte er – trotz bester Voraussetzungen – ob er fähig genug dafür sei. Er war lediglich sicher, in vielen Berufsfeldern arbeiten zu können. Zehn Jahre später hatte er über die Anwendung physikalisch-mathematischer Modelle auf soziodynamische Phänomene mit summa cum laude promoviert. Mit seiner heutigen Tätigkeit bei der amerikanischen Wikimedia Foundation hilft der 37-Jährige Wissenslücken weltweit zu schließen. Gut vernetzt und vom Homeoffice in Berlin aus.
Der gebürtige Dresdner Martin Gerlach besuchte das Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium mit vertieft mathematisch-naturwissenschaftlicher Ausbildung und absolvierte auf dem Weg zum Abitur ein Jahr an der Oak Park High School in Kalifornien. 2004 schloss sich der Zivildienst im Universitätsklinikum Dresden an. Ein Jahr später begann er an der TU Dresden Physik zu studieren. „Ich war zu dieser Zeit unsicher und hatte zwischen verschiedenen Studienrichtungen abgewogen“, erzählt er. Grundlegende Fragen beispielsweise zur Quantenphysik fand er spannend. „Das traute ich mir zu, war mir jedoch damals nicht sicher, ob ich intelligent genug dafür bin. Ich wusste nur, dass ich mit einem abgeschlossenen Physikstudium auch in vielen anderen Berufen tätig sein könnte“, schmunzelt er rückblickend. Zudem: „Der Bereich Physik der TUD belegte in Universitätsrankings gute Plätze und ich konnte in meiner Heimatstadt studieren.“
Über Schlüsselerlebnis zum Programmieren
Im Studium der theoretischen Physik mit Nebenfach Mathematik lernte Marin Gerlach, verschiedene mathematische Methoden wie Statistik oder Differentialgleichungen anzuwenden, um real existierende Phänomene zu beschreiben. Er berichtet: „Ein Schlüsselerlebnis für mich war ein Kurs bei Professor Roland Ketzmerick über die computergestützte Modellierung mithilfe von Simulationen. Das brachte mich zum Programmieren. Ich hatte vorher keinerlei Zugang dazu, aber heute ist es ein integraler Bestandteil meiner Arbeit. Mit Computersimulationen kann man sich einfach selbst Probleme stellen und explorativ lösen. Mathematische Modelle auf Soziales anzuwenden ist viel komplizierter als Atome.“ Nach sechs Jahren, inklusive Auslandsaufenthalt an der Universität Lund in Schweden, nahm er sein Diplom mit Auszeichnung entgegen.
Von Forschung über Sprachmodelle fasziniert
2012 wechselte Martin Gerlach als Doktorand ans Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden. Hier war er in der Arbeitsgruppe „Dynamische Systeme und Soziale Dynamik“ von Eduardo Altmann tätig. „Die Anwendung mathematisch-physikalischer Modelle auf soziodynamische Phänomene wie zum Beispiel Sprachwandel hat mich extrem fasziniert und seitdem nicht mehr losgelassen“, erzählt er. Im Studium hatte er davon nichts gehört. An der Fakultät Mathematik und Naturwissenschaften promovierte er und verteidigte 2016 seine Doktorarbeit zum Thema „Universalität und Variabilität in der Statistik von Daten mit fat-tail Verteilungen: der Fall von Wort-Frequenzen in natürlichen Sprachen“ mit summa cum laude. Dazu analysierte er anhand von Daten von Millionen von digitalisierten Büchern, wie sich Wörter in den letzten 500 Jahren veränderten. „Wir konnten Theorien quantifizieren. Die Sprache als Interaktion von Menschen lässt sich in Modelle umwandeln.“ Drei Jahre forschte er an der Northwestern University in Evanston bei Chicago weiter zu komplexen sozialen Systemen. Sein Eindruck: „In den USA ist diese Art von interdisziplinärer Forschung mehr verbreitet.“
Einziger TUD-Alumnus im Unternehmen
2019 kehrte Dr. Martin Gerlach nach Deutschland zurück. Seitdem arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Berlin aus für die in San Francisco ansässige Wikimedia Foundation, nicht zu verwechseln mit Wikimedia Deutschland. „Das gemeinnützige Unternehmen hatte schon lange vor der Corona-Pandemie die globale Vision, dass alle am Wissen teilhaben sollen. Das spiegelt sich auch in der Belegschaft wider“, erzählt der 37-Jährige. Obwohl sich der Hauptsitz in San Francisco befindet arbeitet über die Hälfte der rund 500 Mitarbeitenden remote von überall auf der Welt, unter anderem auch in Deutschland. Seines Wissens ist er der einzige TUD-Alumni. „Ich konnte wählen, von wo aus ich arbeiten möchte. Anfangs hatte ich Bedenken, ob das im Homeoffice klappen kann und ob es mir vielleicht zu langweilig werden würde“, gibt er zu. Er war bereit, es auszuprobieren. In den USA musste Martin Gerlach täglich anderthalb Stunden zur Arbeit pendeln. „Das vermisse ich nicht“, lacht er. Allein fühlt er sich im Homeoffice nicht. „Wir treffen uns in kleineren und größeren Gruppen, in Meetings und Konferenzen. Die Prozesse sind gut organisiert.“
Im Homeoffice Diversity neu kennengelernt
In seiner achtköpfigen Gruppe arbeiten Menschen aus Amerika, Südamerika, Europa und Asien zusammen. „Ich habe noch nie in so einem diversen Team gearbeitet, lerne sehr viel und finde es sehr spannend und bereichernd“, sagt Martin Gerlach. „Ich erfuhr Diversity (Vielfalt) neu. Dem Anspruch, Wissensgerechtigkeit herzustellen, wird man sonst auch nicht gerecht“, ist er überzeugt. Flexible Arbeitszeiten ermöglichen eine gute Vereinbarkeit mit familiären Aufgaben wie Kinderbetreuung. Es gibt eine Struktur und Wochenaufgaben: „Morgens kann ich meist konzentriert an Projekten arbeiten, nachmittags oder gegen Abend finden – wegen der Zeitverschiebung – Meetings statt.“ Täglich besprechen die Teammitglieder kurz fachliche und organisatorische Dinge. Ein großer Anteil der Arbeit erfolgt asynchron. Ergebnisse werden schriftlich dokumentiert. Die Transparenz ist eine Besonderheit: „Alles ist öffentlich einsehbar, jede/r kann sehen, woran wir arbeiten.“
Wissenslücken schließen
Dr. Martin Gerlach arbeitet daran, Wissenslücken zu schließen und die Qualität des verfügbaren Wissens zu erhöhen. Dazu gehört zu erkunden, welches Wissen bei Wikipedia noch nicht abgebildet ist, wie viele Informationen fehlen und mit welchen Methoden die Lücken zu schließen sind. Um die Defizite aufzuspüren, untersucht er beispielsweise, wie die Leserinnen und Leser das vorhandene Wissen nutzen, wie sie navigieren. „Finden sie, was sie suchen? Wie können wir die Bedürfnisse besser verstehen und wie das Wissen besser nutzbar machen?“, sind leitende Fragen. Hier profitiert er von seinen Erfahrungen mit Modellen. „Wir bauen beispielsweise Tools für Editorinnen und Editoren, die Wissen beitragen wollen und können“, erklärt der Physiker. „Wir wissen, dass das komplexe System von Regeln eine große Hürde ist, einzusteigen. Wir unterstützen Anfängerinnen und Anfänger, diese Hürden zu meistern und entwickeln verschiedene Module, die das Erlernen des Editierens erleichtern sollten.“ Dabei sind auch Länder im Blick, in denen die meisten Menschen per Handy auf das Internet zugreifen. Kurz: „Wir lehren, wie Editieren funktioniert.“ So können mehr freiwillig Schreibende gewonnen werden, die Inhalte werden diverser und das Wissen ist relevanter.
Noch lange nicht fertig, aber die Richtung stimmt
„79 Prozent der Seitenaufrufe in der deutschsprachigen Wikipedia erfolgen von Männern. Wir sind weit entfernt von Parität“, sagt Dr. Martin Gerlach. Nicht alles lasse sich messen, aber Ungleichgewichte bei geografischen Konzentrationen oder Sprachversionen sowie fehlende Bilder wollen die Wikimedia-Expert:innen gern beheben. „Multimedia-Elemente sind wichtig für das Lernen“, begründet er und „könnte stundenlang weiter darüber erzählen.“
In Inhalte greift die Wikimedia Foundation generell nicht ein. „Außer bei rechtlichen Vorgaben, beispielsweise bei juristischen Urteilen, aber das sind extreme Ausnahmefälle.“ Vielmehr wird versucht, Autorinnen und Autoren zu unterstützen. „Wir wissen nicht nur, dass weniger als 20 Prozent der existierenden Biografie-Artikel über Frauen sind. Auch der Frauenanteil der Lesenden und Schreibenden soll sich erhöhen.“
Dazu werden regelmäßig Editathons veranstaltet – Kampagnen, in denen Interessierte angesprochen werden, sich zu beteiligen. An einer 2021 veröffentlichen wissenschaftlichen Arbeit „Taxonomie der Wissenslücken“ war Dr. Martin Gerlach beteiligt. „Wir sind noch lange nicht fertig, aber die Richtung stimmt“, sagt er. Woran Forschende der gemeinnützigen und spendenfinanzierten Wikimedia Foundation gerade arbeiten, können alle Interessierten an jedem dritten Mittwoch des Monats im Live-Stream bei YouTube verfolgen.
Und noch zu Martin Gerlach:
Er war nach einer Anfrage des TUD-Schülermentorings sofort bereit, als Interviewpartner beim „Profiverhör“ interessierten Schülerinnen und Schülern zu seinem Studium der „Physik“ Rede und Antwort zu stehen. Sie sollen durch dieses Projekt auf die Herausforderungen des Studiums wie auch des Berufsfeldes, bezogen auf jeweils bestimmte Studiengänge, aufmerksam gemacht werden.
Kontakt:
Dr. Martin Gerlach
Wikimedia Foundation
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