Die TUD-Informatik nach der Wende: Ein persönlicher Rückblick
Maciej Burak
„Meine erste Erinnerung an Dresden kommt vom September 1990. Ich kam mit dem Zug aus Ilmenau, wo ich die ersten zwei Semester meines Studiums verbrachte.“ So beginnt der Informatikabsolvent Maciej Burak seine Erzählung.
Die Fahrt dauerte ziemlich lange, zuerst nach Erfurt, wo ich genug Zeit hatte, um mir die Altstadt anzuschauen. Dann weiter zum Dresdner Hauptbahnhof, wo ich mit meinem ganzen materiellen Besitz im Rucksack am späten Nachmittag gelandet bin. Die Stadt war grau. Alles war grau: zuerst das Bahnhofsgebäude, auch die dunkle Haltestelle unter der Eisenbahnbrücke, wo ich auf die Straßenbahn gewartet habe, und alles andere irgendwie auch. Vielleicht kam dieser Eindruck, der bei mir von diesen ersten Tagen blieb, von dem herbstlichen Wetter und dem Beginn des Semesters mit der ganzen Bürokratie (Immatrikulationsamt, Studentenwerk, Krankenkasse, Ausländerbehörde …). Vielleicht aber auch, weil mit dem Umzug nach Dresden sich in meinem Leben ganz viel geändert hat.
Nach Ilmenau kam ich im Sommer als Austauschstudent im Rahmen eines Programmes zwischen zwei sozialistischen Bruderländern, wobei zu dem Zeitpunkt einer von ihnen gar nicht mehr existierte: die Volksrepublik Polen. Es war kurz nach den ersten freien Parlamentswahlen, und die neue Regierung begann mit der schnellen Abkehr vom Sozialismus – die Privatisierung und zahlreiche Pleiten von staatseigenen Betrieben, die Reisefreiheit (vor allem nach West-Berlin wegen der Visafreiheit), Religionsunterricht in den Schulen …
In der DDR war im August 1989 dagegen die (sozialistische) Welt noch voll in Ordnung – die Mauer sollte noch 100 Jahre stehen und man hatte zusammen mit den albanischen und chinesischen Genossen misstrauisch die „Reformen“ von Gorbatschow rezensiert. Wir alle – die fünf polnischen Studenten meines Jahrgangs – wohnten zusammen und kannten uns schon gut von dem Vorbereitungslager in Radom. Wir machten Ausflüge in die Berge, verbrachten viel Zeit in der Bierstube und den Studentenclubs, am Wochenende gab’s immer Mittagsessen in Restaurants. Das Leben in der DDR war billig im Vergleich zu Polen, wir hatten recht hohe Stipendien und man konnte bei Bedarf (d.h. am Ende des Monats) ein paar gut bezahlte Nachtschichten in dem Ilmenauer Glaswerk machen. In Mathe gab es eigentlich nur Wiederholung von dem, was wir in Polen schon vor dem Abitur hatten, und man hat uns auch noch vorsichtshalber von dem Marxismus-Leninismus-Unterricht befreit, da man nicht so richtig wusste, ob man uns noch als sozialistische Studenten betrachten sollte.
Was in den nächsten Monaten passierte, ist bekannt. Es war eine intensive und bewegte Zeit und wir haben all die Geschehnisse und die Aufbruchstimmung miterlebt, ohne die Angst oder Unsicherheit, die viele hier damals hatten. Wir waren Außenseiter – dazu jung und problemlos.
Da wir im Rahmen des Austauschprogrammes nur ganz bestimmte Studienrichtungen im Ausland wählen durften – die dem langfristig geplanten Fachkräftebedarf unserer Volkswirtschaften entsprachen – war das Wechseln zu einer anderen Hochschule so gut wie unmöglich. Man brauchte dazu die Erlaubnis der Botschaft, die auch für unsere Stipendien verantwortlich war. Ich wollte aber nach Dresden. Erstens wollte ich die „normale“ Informatik und nicht die Mikroelektronik studieren, zweitens wollte ich nicht so weit von meinem Heimatort sein (Kostrzyn an der Oder). Ich fuhr also nach Berlin, um dort meinen Antrag zu stellen, in der Hoffnung, dass er irgendwann vielleicht doch positiv entschieden wird. Zu meinem Erstaunen durfte ich sofort zum Botschafter selbst, der meinen Antrag einfach akzeptierte. Was ich nicht wusste, war, dass er noch von der alten Regierung berufen wurde und es war für ihn einer der letzten – oder vielleicht sogar der letzte – Tag im Amt. Glück gehabt!
Ich hatte einen Platz im Wohnheim bekommen, die Immatrikulation war auch kein Problem. Andererseits wusste niemand, was mit uns weiter passiert; Polen war damals finanziell bankrott – man hat uns nach der Währungsunion mitgeteilt, dass unsere Stipendien einfach nicht weiter ausgezahlt werden. Erst im Januar 1991 wurden wir formal vom DAAD mit einer Förderzeit bis zur geplanten Diplomverteidigung übernommen. Meine Ersparnisse aus der DDR-Zeit (geplant war der Kauf einer MZ ETZ 251) wurden in DM umgetauscht und ich habe schnell einen Nebenjob gefunden. Verglichen mit damaligen Einkommen meiner Eltern in Polen (umgerechnet 160 DM monatlich) war ich reich. Ich habe mir auch schnell mein erstes Auto gekauft (einen PF 126p), was mir fast surreal erschien (mein Vater z.B. kaufte sein erstes Auto erst als ich elf Jahre alt war!). Das Leben wurde aber plötzlich teurer – auf jeden Fall war die Zeit der regelmäßigen Restaurant- und Bierstubenbesuche vorbei, sondern meistens nur noch Wohnheim-Uni-Arbeit (… vielleicht einer der Gründe für die Note „sehr gut“ auf meinem Diplom …). Außerdem war Polen jetzt für die (Ost-) Deutschen nicht mehr als der Urlaubsort mit ein wenig mehr Freiheit als im übrigen Ostblock attraktiv – höchstens gut für einen Sonntagsausflug, um billig Benzin und Zigaretten zu kaufen. Und auch nur für diejenigen Mutigen, die keine Angst hatten, dass das Auto gleich drüben gestohlen wird. Die Einstellung gegenüber Ausländern wurde auch generell unangenehmer – man wurde fast öffentlich als Ursache allen Übels von der Arbeitslosigkeit bis zu jeglicher Kriminalität genannt. Dresden wurde Anfang der Neunzigerjahre zur informellen Hauptstadt der Rechtsradikalen. Glücklicherweise war die Universität immer ein Ort, an dem mir so etwas nie, auch nicht im kleinsten Ausmaß, begegnete – „draußen“ aber manchmal schon.
Der Kulturschock
Das Segment in dem Wohnheim Gerokstraße 27, in dem ich einen Platz bekommen habe, bestand aus drei Zimmern, zwei kleinen mit jeweils zwei und einem großen, mit vier Bewohnern – in dem ich wohnte. Wir waren also acht Personen und teilten eine Küche und ein Badezimmer. Da ich der einzige Pole meines Jahrgangs war, und der Empfang des polnischen Radios oder Fernsehens im Tal der Ahnungslosen genauso gut war wie der von Westsendern, war Deutsch die einzige Sprache, die ich ab jetzt hörte und benutzte, und schnell auch eine, in der ich dachte und sogar träumte.
Der Studienplatz an der Fakultät Informatik der TU Dresden war in der DDR nicht so einfach für jeden zugänglich. Der sicherste Weg dazu führte durch einen drei- bis vierjährigen UaZ-Dienst bei der NVA. Vielleicht war das der Grund für eine nahezu militärische Organisation unseres täglichen Lebens, vielleicht war sie aber einfach notwendig, um bei dieser „Bevölkerungsdichte“ normal zu funktionieren. Beim Einzug wurde mir zuerst die im Vorzimmer ausgehängte Hausordnung detailliert erklärt, ich wurde auch in die monatlichen tabellarischen Reinigungspläne für die Küche und das Badezimmer eingetragen. Die Aufgaben, die während der Zeit, in der man für den entsprechenden Wohnbereich verantwortlich war, durchzuführen waren, wurden auch präzise in schriftlicher Form aufgelistet. Die Reihenfolge der morgendlichen Bad- und Küchennutzung hatte sich weitestgehend automatisch nach dem Warteschlangensystemprinzip aus der schnell gewohnten Reihenfolge des Aufstehens ergeben. Nach dem Unterricht gab es Ruhezeit, die für das Selbststudium und Vorbereitung genutzt wurde. Erst später gemeinsames Essen, nach dem man manchmal noch zusammen Bier trank und ich die Gelegenheit hatte, etwas über die mir bis dahin unbekannte Welt der ständigen Gefechtsbereitschaft und der praktischen Aspekte der Führungsverantwortung zu erfahren. Da ich mit sowas zum ersten Mal konfrontiert wurde, erschien mir das irgendwie typisch deutsch und somit ganz normal (vielleicht ist es das auch ?!?).
Das Internet
Nach dem Vordiplom wurden die Pflichtfächer weniger und man konnte sein Studium weitgehend selbst gestalten. Mit jedem Semester gab es weniger Unterrichtsstunden – die Arbeit wurde selbstständiger. Dann musste man zuerst den Großen Beleg und dann schließlich sein Diplom schreiben und verteidigen. Die Bedingungen dazu waren einfach ideal. Unser Mikrokosmos zwischen Güntz- und Hans-Grundig-Straße hatte eine eigene Mensa, die Bibliothek, in der man über Fernleihe an jeden Artikel und jedes Buch, das man für seine Arbeit brauchte, weltweit Zugriff hatte und last but not least das Rechenzentrum.
Das Rechenzentrum der Fakultät Informatik war damals eine Klasse für sich. Die Unix Workstations von DEC waren um Vielfaches leistungsfähiger als die besten PC’s, die man damals kaufen konnte. Dazu noch die ausgezeichneten 19” Monitore (der Standard war damals 14”), alles verbunden mit einem schellen LAN, in dem man mit seinem Login sowohl lokalen als auch remote Zugang zu allen Maschinen hatte. Und das Ganze 24/7 – man brauchte nur einen Eingangscode, um jederzeit über eine Schleuse von der Hans-Grundig-Straße reinzukommen. Das Wichtigste war aber das Internet – ich meine: das echte Internet. Die E-Mails gab es schon lange vorher, und man konnte auch ziemlich viele Mainframe-Rechner auf der Welt über eine X.25 Terminalverbindung erreichen. Aber das hier war eine ganz andere Qualität: Jede dieser Workstations war ein vollwertiger IP Node mit eigener public IP Adresse und das im Jahre 1992!!! Die Verbindung nach draußen war 9600 bit/s, was recht flotte Datentransfers ergab – vorausgesetzt, dass man die Leitung nicht mit anderen Benutzern teilen musste. Am einfachsten ging das über entsprechende Arbeitszeitplanung, und zwar, wenn man erst nach Mitternacht kam.
Die Internetnutzung war damals einfach und übersichtlich. Man startete zuerst seine Anfrage über archie, von dem man eine Liste mit Dateien auf den FTP-Servern erhielt. Danach sollte man am besten einen Auftrag an einen speziellen Server schicken, um die gewünschten Dateien ohne Bandbreiteverschwendung in ein bis zwei Tagen in der Mailbox zu finden – ich war aber zu faul, die Syntax dafür zu lernen. Stattdessen habe ich mehrere Terminalfenster geöffnet, in denen ich interaktive FTP-Transfers startete (die Bandbreite war schließlich da). Während man seine Transfers beobachtete (und im Falle eines timeout’s restartete), konnte man sich die Zeit mit Lesen von abonnierten News-Gruppen vertreiben (endlich eine reguläre Quelle neuester Nachrichten aus der Heimat!) oder aber mit gopher die Welt nach lustigen multimedialen Inhalten durchsuchen. Am Morgen druckte man die gefundenen Schätze mit dem schönen professionellen Laserdrucker aus, um sie dann zu Hause lesen zu können. Die Ausdrucke wurden mit einer pre-paid-Karte bezahlt – der Preis pro Seite war zwar prohibitiv, wenn man aber die PostScript-Dateien direkt in den Spooler einspeiste, wurde immer nur eine Seite abgerechnet. Ich vermutete, dass diese nette Funktionalität absichtlich von den Halbgöttern, die unsere Systeme administrierten, erstellt wurde, und zwar als versteckte Belohnung für diejenigen wenigen, die sich sorgfältiger als das gemeine Volk in die entsprechenden Manuals vertieften.
Das Internet entwickelte sich damals rasend schnell, wurde immer größer, und es entstanden immer neue Anwendungen. Anfang 1993 (?) habe ich von einem neuen Protokoll, dass von der CERN entwickelt wurde, erfahren – dem WWW-Hypertext oder http. Der Dokumentation nach sah es nicht besonders seriös aus – eigentlich das gleiche wie gopher, nur mit grafischer Oberfläche. Da unser Rechenzentrum, wie immer, auf dem neuesten Stand war, wurden schnell auch die entsprechenden Clients zur Verfügung gestellt. Eines Tages hatte ich dann endlich die Gelegenheit, das Neue auszuprobieren. Xmosaic gestartet und gleich auf die Seite von CERN (viel mehr gab’s nicht). Die Seite begann langsam von oben zu erscheinen, bis zu einem GIF-Picture, an dem der Transfer timeoutete. Der Versuch wurde mit einem Reload-Button wiederholt – mit gleichem Ergebnis. Trotz mehrerer weiterer Versuche ist es mir aber in dieser Nacht nicht gelungen, mehr über die Inhalte hinter dem GIF zu erfahren. Na ja, selbst wenn das auch vom CERN kam. Vielleicht würde das Ding für lokal gespeicherte Manuals was taugen. Aber ehrlich, für einen vernünftigen Zugriff auf weltweit verteilte Inhalte?!?
Nein, dieses Protokoll wird sich NIE durchsetzen …