Erinnerungen an die 1950er-Jahre
Dr. Erich Markworth
Ich wurde auf die Beiträge von Christian Müller durch das Alumnibüro gelenkt. Ich habe dessen Ausführungen mit großem Interesse gelesen, zumal ich seine Zeit (bis 1971) an der TU Dresden selbst nicht mehr kennen gelernt habe: Ich war von 1949 bis 1954 immatrikuliert. Seine Schilderungen haben aber Erinnerungen geweckt, aufgrund derer ich in meine noch vorhandenen Unterlagen geschaut habe.
Ich schicke vorweg, dass ich am 1. April 1945 als 15-Jähriger eine Lehre als Elektriker begann, die ich allerdings vorzeitig beendete, nachdem der Schulbetrieb am 1. Oktober desselben Jahres wieder einsetzte.
Nach Schulabschluss (Abiturjahrgang 1949) bewarb ich mich zum Studium der Elektrotechnik an der TH Dresden, der seinerzeit einzigen TH auf dem Gebiet der DDR, und erhielt, überglücklich, die Zulassung zum WS 1949/50. Die Aufnahmegebühr betrug lt. Studienbuch 25 RM, eingezahlt gemäß Stempel am 9. November – welch geschichtsträchtiges Datum. Die Bestätigung der Immatrikulation war mit folgendem Schriftsatz verbunden:
„Damit übernehmen Sie eine gesellschaftliche Verpflichtung, die mit hoher Verantwortung verbunden ist. Es wird von Ihnen erwartet, dass Sie sich des Vertrauensbeweises bewusst sind und Ihr Studium im wahrhaft demokratischen Sinne zum Wohl der Allgemeinheit durchführen werden.“
Als Ergebnis meiner abgebrochenen Elektriker-Lehre anerkannte mir das Praktikantenamt vier Wochen Vor- und 16 Wochen Fachpraxis (von damals insgesamt 26 + 26 = 52 Wochen geforderter Praxis). Durch die seinerzeitige Lehrstelle hatte sich ein Kontakt ergeben zum späteren VEB Elektrowerk Dresden, in dem ich (bis auf vier Wochen Gießerei bei VVB ABUS Niedersedlitz) in den Semesterferien die restlichen Vor- und Fachpraxiswochen ableisten und auch darüber hinaus gegen Entlohnung arbeiten konnte. Dies war mehr als willkommen, da mir nach erfolgter Immatrikulation per Post eine Aufforderung zur Zahlung von Studiengebühren zuging.
Bis mein Studienbuch (aufgrund eines Leistungs-Stipendiums) den begehrten Stempel „Gebührenerlass“ aufwies, vergingen einige Semester, für die Studiengebühren ansteigend bis 225 Mark je Semester zu zahlen waren – zum Glück abgemildert durch eine mir frühzeitig gewährte Hilfsassistentenstelle. Dass ich bis zum Gebührenerlass Studiengebühren zahlen musste, hing wohl damit zusammen, dass ich außer Ehren-Urkunden über sonntägliche Arbeitsstunden (zum Wiederaufbau der Stadt Dresden) und einer FDGB-Mitgliedskarte (Arbeit zwischen Abitur und Studienbeginn) gesellschaftspolitisch nichts aufzuweisen hatte.
Ein Vergleich der Stipendien zeigt, dass diese auch in Verbindung mit Leistungszulagen unterschiedlich ausfielen. Grundstipendium 180 Mark, erste Leistungsstufe plus 50 Mark, so wie das Christian Müller berichtet, war wohl die Regel. Für mich mit dem Unterschied, dass mein Grundstipendium 0,00 Mark betrug, dafür aber die erste Leistungsstufe mit 130 Mark honoriert wurde. Wenn man so will ein „klassenbedingter“ Unterschied von (0+130) - (180+50) = -100 Mark monatlich.
Unser ET-Semester (1949–1954) war gegliedert in die beiden seinerzeit so bezeichneten Fachrichtungen Stark- und Schwachstromtechnik, je etwa 45 Studierende, alle männlich, Jahrgänge 1920 bis 1930. Weibliche Studierende gab es in unserem Semester also nicht. Nur im großen Hörsaal Zeuner-Bau, in dem alle Studienrichtungen zu gemeinsamen Grundlagenvorlesungen zusammenkamen, saßen meiner Erinnerung nach unter den Studenten des Bauingenieurwesens auch künftige Architektinnen. Laut Studienbuch hatte ich (Fachrichtung Starkstromtechnik) einschließlich aller Wahlfächer für Vorlesungen, rechnerische Übungen und Praktika insgesamt belegt im
Grundstudium WS 1949/50 bis SS 1951 115½ Wochenstunden und im
Hauptstudium WS 1951/52 bis SS 1954 142 Wochenstunden.
Maximal waren es 41 Wochenstunden, die im 6. Semester zustande kamen. Studenten-Einsätze als Erntehelfer oder anderer Art, so wie sie Christian Müller beschreibt, gab es für uns noch nicht. Eine Vorlesung, die mir weniger bedeutsam schien, war „Technische Mechanik“ bei Prof. Neuber. Im Rahmen dieser 4-semestrigen Vorlesung (Pflicht für Maschinenbauer) wurde uns Elektrikern nur das 3. Semester erlassen. Später, im Zusammenhang mit konstruktiven Lösungen (Biegebeanspruchung durch Kurzschluss-Ströme), war ich dankbar für das, was ich im Kollegheft festgehalten hatte.
An- und Abtestat in einer besonderen Weise erteilte Prof. Barkhausen: Er verknüpfte das jeweils mit einem persönlichen Gespräch. Die Regelstudienzeit betrug meines Wissens acht Semester. Etliche schafften es mit neun, der Rest (so auch ich) mit zehn Semestern. Bezüglich Studienabbrechern ist mir nur ein Fall bekannt: Er hatte schon Probleme bei der Handhabung eines Rechenschiebers. Einem anderen Kommilitonen der Fachrichtung Starkstromtechnik erwuchsen politische Probleme, aufgrund derer er sein Studium an der TH Braunschweig abschloss.
Der Abgabetermin für meine Diplomarbeit bei Prof. Karl Kühn („Entwurf einer Übertragungsanlage mit hochgespanntem Gleichstrom zur Übertragung von 1200 MW über 1200 km von Namsos/Norwegen nach Hamburg“) wurde deutlich verlängert, da sich erhebliche Schwierigkeiten in der Literaturbeschaffung zeigten. Ein Teil der aktuellen internationalen Fachzeitschriften stand seinerzeit zudem nur in der Bibliothek der Humboldt-Universität zur Verfügung, dort aber nur im Lesesaal.
Unsere alten Studentenausweise (gefaltet 10 x 13 cm) trugen auf der Rückseite unter Ziffer 2. folgenden Hinweis: „Der Ausweis ist Polizeibeamten auf Verlangen unweigerlich vorzuzeigen oder auszuhändigen. Die Abgabe des Ausweises wird in der Regel gegen Festnahme schützen“' – was mir beides erspart geblieben ist.
Nach der Diplom-Abschlussprüfung unterbreitete mir die staatliche Vermittlung drei Angebote. Ich entschloss mich zur Arbeitsaufnahme beim VEB-Energieprojektierung Berlin/Behrenstraße. Dort wurde ich mit Kurzschlussberechnungen für das Verbundnetz Ost betraut: wie seinerzeit nur so möglich, unter Benutzung eines „Rechenschiebers“ – noch nicht durch Eingabe von Daten in ein Rechenprogramm.
Die Energieprojektierung unterstand einem Ministerium, m.W. dem Ministerium für Schwerindustrie. Beim Betreten und Verlassen des Gebäudes erfolgte eine Ausweiskontrolle und außerhalb der Arbeitszeit mussten die Unterlagen unter Verschluss gehalten werden: in der eigenen Schreibtisch-Schublade, die nur mit einem Schloss einfachster Art versehen war. Außerdem war die Anwesenheit in einer besonderen Liste durch sein eigenes Namenskürzel zu dokumentieren. Als ich das am dritten Tag so vollziehen wollte, wurde ich „belehrt“ – das erledigt für uns alle unsere Sekretärin; übrigens meisterhaft echt, wie ich feststellen konnte.
Mein erstes Bruttogehalt (Dezember 1954), den Lohnstreifen habe ich bis heute aufgehoben, betrug 700 Mark entsprechend Tarif J II. Davon verblieben mir (unverheiratet) nach Abzug von Lohnsteuer (126) und SozVers (60) noch 514 Mark. Dieses erste Gehalt wurde allerdings mehr als aufgezehrt durch den Erwerb einer Spiegelreflex-Kamera Praktika-FX mit Biotar 1:2 für 637 Mark.
Im Vergleich zum Anfangsgehalt von Christian Müller im Januar 1963 (in Radeberg 690 Mark brutto, Gehaltsgruppe J II) war mein Anfangsgehalt im Dezember1954 (in Berlin 700 Mark brutto, auch Gehaltsgruppe J II) also fast gleich.
Die kleine Differenz (möglicherweise durch Betrieb und Arbeitsort bedingt) muss man wohl vor dem Hintergrund stabiler Verbraucherpreise sehen, die als EVP (Einheitsverbraucherpreise) so vorgegeben waren. Ein großer Unterschied zwischen Dresden und Berlin-Ost bestand 1954 aber in Verfügbarkeit und Qualität von Lebensmitteln, wozu mir Salami-Wurst aus einem Geschäft am Bahnhof Friedrichstraße im Gedächtnis haften geblieben ist.
Im Rahmen meiner späteren Laufbahn fand ich über Schaltgeräte (Hersteller und Studiengesellschaft) und Sonderverbraucher (elektro-thermische Verfahren) immer wieder zurück in Hochspannungsnetze, so seit 1972 auch in die fast aller südamerikanischen Staaten.