Simons Haus
Ein kleines Stück nach der Wende, in den aufstrebenden neunziger Jahren, überraschte uns die Familie unseres jüngeren Sohnes damit, dass sie ein Haus, eine Villa gekauft hätten.
Das ewige Hin und Her zum Kauf und Verkauf des Hauses auf der Zittauer Straße, in dem sie schon über zehn Jahre wohnten, hätten sie sattgehabt. Dieses Haus wurde ihnen von der Stadt nicht verkauft, ein Nachkomme des Besitzers vor dem Kriege melde Ansprüche an und die Landesregierung könne sich nicht entscheiden, womöglich spekuliere sie selber auf Grundstücke in dieser Gegend. Die letzte Erbin war in den sechziger Jahren im Rentenzug nach dem Westen und dort gen Himmel gefahren. Die Stadt hatte das Resthaus übernommen, den nicht abgetragenen Teil provisorisch abgedeckt und so stand es lange Zeit leer, war zum Lager entweiht worden und verwahrloste. Das Haus war kommunal genutzt. Die junge Familie zog aus Mangel an anderen Möglichkeiten ein, und richtete die Räume nach und nach her, so wie es ihre bescheidenen Mittel und Kräfte und Fertigkeiten und ihre Zeit nach Feierabend und am Wochenende erlaubten. Das Land und die Stadt mit ihren neuen Staatsdienern war nicht in der Lage die Besitzverhältnisse zu klären, die Kinder orientierten sich neu, verzichteten auf weitere Investitionen, das Haus und das Grundstück verwahrlosen bis heute.
Das neue Haus war ihnen von einem Makler angeboten worden. Der Verkäufer hatte drei Bedingungen an den Käufer geknüpft. Er sollte aus dem Osten sein, und es könne nur an eine katzenfreundliche Familie verkauft und es müsste bar bezahlt werden. Sie erfüllten die Bedingungen, kauften auf Pump und die Familie war pleite.
Als unsere Kinder mit der Überraschung kamen, schwärmten sie von dem Haus. Direkt hinter dem Großen Garten auf der Stübelallee und rechts und links keine Nachbarn. „Auf der Stübelallee?“ Ich stutzte. „Ja, so eine grün umwobene niedrige Villa, mit grünen Fensterläden.“ Der Sohn malte es auf. „Das ist doch das Haus Simons, meines Lehrstuhlgroßvaters Arthur Simon!“ „Die Besitzerin hieß aber von Schröter. Du verwechselst da vielleicht auch was. Aber morgen bekommen wir den Grundbuchauszug und dann werden wir ja sehen“, meinte der Sohn. Und wir sahen es, in altdeutscher Schrift auf gut lesbarer Kopie. Das Haus wurde 1936 von Arthur Simon, Professor an der TH Dresden, bezogen. Als er 1962 starb, erbte das Haus seine Frau Charlotte. Diese vermachte 1972 das Grundstück Frau Gertrud Roscher, Simons langjähriger Sekretärin und Freundin des Hauses, und als diese Herrn Prof. Richard Schrader heiratete und ihm nach Freiberg zur Bergakademie folgte, wurde das Haus an eine Frau E. von Schröter verkauft, Herr von Schröter war vor Stalingrad geblieben. Als Frau von Schröter in den 80iger Jahren starb, erbte das Haus ihre Tochter C. von Schröter. Der Lebensabschnittsgefährte Frau C. von Schröters gewann an Haus und Garten kein Interesse. Sie erlagen der sintflutartigen Bierschwemme aus dem Westen, verkauften das Haus samt Katze und verlebten ihr Bargeld und Restleben im und mit einem silbernen neuen Wagen in der neuen Freiheit, frei von Haus und Hof und Katze.
Das Haus schien nach 60 Jahren eine tiefe gehende Sanierung notwendig zu haben. Nach dem Enthäuten der Wände und dem Austragen der Dielen und des Parketts zur letzten Ruhe, zeigte das entblößte Haus Falten, weite Risse und Hohlräume. Die Innenwände hingen und schwebten über einer Aufschüttmasse eines Sumpf- und Seebereichs, die Außenwände suhlten im Morast.
Sumpf und Seen des Gürtels jenseits des Großen Gartens in Gruna, nach Seidnitz und Striesen zu, wurden vor und um die Jahrhundertwende mit Bauschutt und Stadtabfällen aufgefüllt und später zur Bebauung freigegeben. Auf diesem Bauschutt wurde Simons Villa hoch- und Simon über den Tisch gezogen, nachdem er 1932 nach Dresden auf den Lehrstuhl für Anorganische Chemie berufen worden war. Hätte Arthur Simon nun von oben, als Arthur der Engel unter seine schwebenden Dielen und Wände über Ziegelsplitt und Tonscherben schauen können, und wären seine Augen vom grauen Star nicht ganz verdunkelt, er hätte seine Flügel über seinem glatten Altersschädel zusammengeschlagen und zum Himmel schauend ausgerufen: „O Gott, womit haben meine Nachkommen das verdient?“
Als er noch kein Engel war und leibhaftig durch das Haus schwebte und die Doktoranden ihm ihre Arbeiten vor seinem Schreibtisch vorlesen mussten, weil sein Augenlicht immer schwächer wurde, hat er den Dreck unter den Füßen nicht gespürt, wohl auch, weil sein Schreibtisch über der Holztreppe oben stand. Frau Charlotte konnte so die artikulierte und artige, aber oft durch Einfügen und Änderungen unterbrochene Lesung mit hören und mit fiebern und das Werden eines Doktorhutes akustisch verfolgen. Und sie konnte aus der großen Diele über die wahrlich frei schwebende Eichenholztreppe hinaufrufen: „Arthur, bleibt Herr X zum Essen?“
Arthurs Antwort diente Charlotten nur als Schutzschild, seinen Speer abzuwehren, sie mische sich zu sehr in seine Doktormacherei ein. Seine Antwort, weit von oben: „Ja Charlott’, Herr X muss mir nach dem Essen noch einige korrigierte Seiten vorlesen...“, war weder für sie, noch für den erschreckten Doktoranden vor dem Schreibtisch von weittragender Konsequenz und Bedrohung. Denn nach dem meist einfachen, doch dreigängigen Menü und einem Glas Wein, genehmigte sich Arthur eine Zigarre und vertraute den jungen Menschen seiner Charlotte an, die dann oft mütterlich besorgt ausrief: „Ach Arthur, quälst du den Herrn X auch nicht zu sehr?“ Nach dem Mahl stieg Arthur knarrend die Treppe hinan, sein werdender Doktorsohn – und er hatte viele davon, wovon allein zwanzig Professoren und Hochschullehrer wurden und einer gar Minister, wie er, aber nur für eine sehr, sehr kurze und schnell vergessene Zeit – folgte im würdigen Abstand, und jedes Geräusch der schwebenden Treppe meidend, hinterdrein. Oben las dieser Sohn müde und gähnend weiter, während der Doktorvater auf der breiten Ottomane die Wissenschaft mit geschlossenen Augen nur zwei bis drei Sätze lang einsog, dann einen einzog und sein Schnarchen das Abwaschklappern und die „Vorlesung“ übertönte, der Lesende zum Schreibtisch kippte und auch Charlotte unten vor der Treppe ihre wohlverdiente Ruhe fand.
Meine Kinder haben sich jahrelang geschunden, gerackert und gebaut, Haus und Garten neu gestaltet und erhalten. Derweil sind die von Arthur und Charlotten gepflanzten Fichten (Oder haben sie nur anpflanzen lassen?) schroff bis zum Himmel hinauf gewachsen, wo sie ihnen und den himmlischen und engelsgleichen Professoren berichten, wie Simons Haus so königlich in der Neuzeit prunkt, von Beton und Glas eng umschlungen, in Fichten, Föhren, Wacholder und Eiben gebettet, von Lorbeer- und Weinlaub umrankt, wie ein Kind in seiner Wiege beschirmt, in seine junge Welt leuchtet.