Von Kirmes und Kuchensingen
Alle Studenten des Semesters waren im Kartoffeleinsatz. Unsere Seminargruppe wurde 1957 an die LPG Langenwolmsdorf verlost. Die schweren Kartoffelrodemaschinen steckten im ebenso schweren Lehmboden fest oder förderten mehr Erdklumpen als Kartoffeln übers Band.
Wir hatten schon dreijährige Erfahrung und rodeten diszipliniert. Teils machte es uns auch Spaß, unsere junge Kraft im Spiel mit den Unbilden der Natur und dem Unvermögen unserer jungen Landwirtschaft bestätigt zu finden.
Unsere Gruppe war bunt zusammengesetzt und bewährte sich auch unter härteren Umweltbedingungen. Nicht zuletzt Dank des Eifers unserer koreanischen, vietnamesischen, chinesischen und bulgarischen Kommilitonen. Es bleibt dem Dorf ein unvergessenes Bild, wie unsere „internationale Brigade" in blauem Drillich und Gummistiefeln jeden Morgen in Reih und Glied mit Liedern der fünf Nationen zum Acker zog. Das Dorf kam in Bewegung, musste auch am Sonntag Wagen, Schlepper und Leute stellen, um die eingesammelten Knollen abzufahren. Mittags brachten Gudrun, Sorka und Ursel das Essen und die Mädels sangen von weitem: „Alle Tage Eintopf." Früh schon hatten wir lange Gesichter gezogen, dass selbst am Sonntagmorgen der LPG-Vorsitzende nur Mehlsuppe auffahren ließ.
Von den Rodern der LPG erfuhren wir, dass an diesem Wochenende in Polenz Kirmes war. Polenz lag sieben Kilometer Luftlinie entfernt. Die alten Kartoffelleserinnen erzählten, wie zünftig es früher zur Kirmes zugegangen sei, welche herrlichen Bräuche durch die Zeit verschüttet worden waren. Keine lustige Reiterei, kein Kuchensingen mehr, kaum noch Tanz zur Kirmes. In Polenz aber werde noch fleißig gebacken und getanzt. Wir hatten uns schnell entschieden und zogen bei Sonnenuntergang querfeldein nach Polenz. Christian führte die Gitarre und damit die Gruppe an. Unsere ausländischen Freunde waren voller Begeisterung und alle voller Spannung über den Ausgang unseres Unternehmens. Im ersten Haus mussten wir ein zweites Lied anstimmen, ehe uns von der Treppe ein freundliches „Bravo Jungs" mit einem Krug Bier und einem großen Teller Kuchen entgegenkam. Nach vielen Jahren waren wir die ersten lustigen Sänger, und gar ein internationaler Trupp, im Dorf. Im Nachbarhaus wurden wir gleich zweimal bewirtet, mit Kuchen, Braten und selbst gemachtem Wein. Im dritten Haus sangen wir die Bäuerin vom Melkschemel unter der Kuh hervor, die bedauerte, keinen Kuchen zu haben. Aber sie koche uns gleich etwas Milch ab und hätte noch guten Schinken. Unsere Ankunft ging im Buschfunk durch das Dorf. Überall freundliches Nicken und Winken für unsere bunte Gruppe und Freude über unsere Sangeskunst. Allmählich wurden wir satt und sammelten die Pakete ein, die im Gitarrensack verstaut wurden. Neben Kuchen trugen wir Braten, Schinken, Eier, gekocht und roh, einige Flaschen Bier und Wein durch das Dorf. Der Bürgermeister lief in den Dorfkrug und kaufte uns eine Flasche Schnaps, weil wir ihm „Am Brunnen vor dem Tore" mehrstimmig sangen und summten. Beim Zahnarzt gaben wir - schon im Dunkeln - unter der Treppe seiner Villa den „Alten Harung" zum Besten, und er streute uns mehrere Münzen auf den Weg. Als wir die Zugabe „Gaudi Amos" schmetterten, wurde sein Herz gerührt und seine Tasche weit und ihr entstieg, fast symbolisch für uns, ein Schein mit der Erntekombain (die Rückseite eines DDR-Fünfzigmarkscheines). Das Gaudium war groß. Im Dorfkrug wurde bei unserem Einzug vom Bürgermeister eine Damenwahl bestellt und die Mütter des Dorfes schwenkten uns zum Walzer der Takte der freiwilligen Feuerwehr und dem Fiepen des ersten Sputniks um unsere Erde.
Am nächsten Morgen legten wir unsere Sangesgaben auf den Tisch, ließen die Eier in die Pfanne schlagen und luden den Vorsitzenden zur Mehlsuppe ein. Seine Augen quollen fast über und sein Groll wollte sich gegen die Köchin entladen, die ̶ ihn verhöhnend ̶ von unserer abendlichen Sangestour berichtete. Er kam in Zugzwang, sein Geiz war gebrochen und die Köchin holte durch listiges, geschicktes Wiegen und Tarieren nach, was sie in den ersten Tagen nicht durfte.