Meine Jahre vor dem Studium – Das Jahr 1957
Nach dem Skiurlaub war noch Zeit für eine Woche Arbeit in der Gießerei Bauer Großröhrsdorf. Die schwere körperliche Arbeit, verbunden mit ständiger Zugluft, forderte ihren Tribut – eine starke Grippe.
Auch meine Weisheitszähne bereiteten mir wieder Schmerzen und etwas Fieber. Beim vierten Weisheitszahn, der im Mai folgte, kam sogar infolge der Schmerzen eine Kiefersperre dazu, so dass es ohne zahnärztliche Hilfe nicht mehr abging. Dann litt ich zusehends schon bei geringen Belastungen an Schweißausbrüchen, verbunden mit Herzrasen und allgemeiner Schlappheit.
Ein EKG zeigte keine normale Sinuskurve mehr, sondern deutliche Zacken. Der Grund war schnell gefunden – die eitrigen Mandelentzündungen, die ich seit dem Herbst 1954 öfters hatte. Außerdem hatte ich noch das Stöckeroden (heute wahrscheinlich kaum noch bekannt, geschweige denn ausgeführt) allein fortgeführt, welches mein Vater begonnen hatte, aber nicht mehr abschließen konnte. Den Rest gab mir sicher die Arbeit in der Gießerei und die nachfolgende Grippe. Da gab es nur eine Alternative: Mandeln raus! Danach zeigte das EKG wieder eine einwandfreie Sinuskurve, wie es auch heute noch ist.
Dann hatten wir noch Fasching. Unter lautem Grölen zogen wir von der ABF aus in die Innenstadt, auch durch verschiedene Geschäfte, immer mit genügend Bier bei der Hand. Disziplinarische Nachwirkungen hatte das aber diesmal nicht. Wohl aber bekam ich einen deutlichen Rüffel vom Klassendozenten, Herrn Polhard, wegen so genannter „Annäherung“ an Fräulein Konrad, unsere Russisch-Dozentin. Ich gebe zu, dass ich sie sehr mochte, aber ob das schon eine rüffelnswerte Annäherung war? Wie ich später erfuhr, soll sie diejenige gewesen sein, die sich beim Disziplinarverfahren im vergangenen Jahr deutlich für mein Verbleiben an der ABF eingesetzt hatte, denn es gab Stimmen, die meine Exmatrikulation gefordert hatten. Dann kamen die Osterferien, die ich mit Arbeiten in der Ziegelei Pulsnitz verbrachte.
Im April begann die Wiederholungsperiode, und am 22. Mai war zum letzten Mal regulärer Unterricht. Von Luft holen konnte noch keine Rede sein, denn bereits zwei Tage später begann die Prüfungsperiode mit dem Aufsatzschreiben, 07:45 Uhr bis 13:00 Uhr. In den nächsten Tagen ging es sofort mit Mathematik, Russisch und Physik weiter, immer jeweils reichlich 5 Stunden. Die Physikprüfung fand an einem Sonnabend statt und schon am folgenden Montag fand man mich wieder an einer Werkbank, diesmal bei Matticks in Pulsnitz (Wärmeübertragerbau, z.Zt. in endgültiger Stilllegung) fünf Wochen lang, zwischenzeitlich absolvierte ich noch die mündlichen Prüfungen. Ich wusste, dass man mich für „mit Auszeichnung bestanden“ vorgesehen hatte, trotz Disziplinarverfahren, aber so leicht wollte man es mir nicht machen. An drei aufeinander folgenden Tagen war ich in Physik, Russisch und Gesellschaftswissenschaften dran. Es lief alles glatt. Doch bei „Auszeichnung“ durfte auch keine Note Drei auf dem Zeugnis stehen. Es gab aber zwei Fächer, in denen es hätte problematisch werden können. Da war Körpererziehung, wo zwar in den Teilbereichen Leichtathletik, Schwimmen und Mannschaftsspiele keine Gefahr bestand, wohl aber im Teilbereich Geräteturnen. Um auch dort auf eine Zwei zu kommen, übte ich etwa ein Vierteljahr lang wöchentlich in der Turnstunde der Sportgemeinschaft Großröhrsdorf. Für meine Sportkameraden war es selbstverständlich, mich so zu unterstützen, dass ich auch im Turnen die Zwei schaffte.
Ein anderes Problem war Musik. Ich war total unmusikalisch, konnte weder richtig singen noch mit Noten etwas anfangen. Das muss wohl auch der Musiklehrer Herr Buchheim erkannt haben. Was tun? Ganz beiläufig sagte er oder Studiendirektor Richter zu mir: „Herr Müller, sehen Sie sich die Lebensläufe unserer Komponisten gut an.“ Und damit war die Musik- Zwei auch geschafft. In dieser Zeit hatten wir auch noch eine Klassenfahrt nach Fürstenberg/Oder (heutiges Eisenhüttenstadt), wo wir das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) und das angegliederte Hüttenzementwerk besichtigten. Ich erinnere mich noch ans Baden in der Oder, denn es war sehr heiß. Das Besondere daran, in einem Fluss zu baden, war das uns eingeschärfte Verbot, bis zur Strommitte zu schwimmen: die Polen würden sofort schießen. So martialisch waren die Sitten noch zwölf Jahre nach Kriegsende. Die Heimfahrt barg noch eine Überraschung – ein Zusammenstoß unseres Personenzuges mit einem Güterzug auf dem Bahnhof Pulsnitz. Es gab aber nur einige Leichtverletzte. Wir waren gerade beim üblichen Skatspielen, als ein Koffer aus dem Gepäcknetz meinem Gegenüber so an die Backe „segelte“, dass er Blut und einen Zahn ausspuckte. Am Sonnabend, dem 6. Juli packte ich mein Werkzeug bei Matticks zusammen und schon am nächsten Tag, einem Sonntag(!), ging es zum nächsten Arbeitseinsatz ins Braunkohlewerk Senftenberg. Diesmal jedoch nicht selbst organisiert, um Geld zu verdienen, sondern von der ABF, um etwas gegen den zunehmenden Arbeitskräftemangel in der DDR zu unternehmen. Die Zeiten hatten sich geändert! Wenn 1954/55 Ferienarbeit noch unerwünscht war (ein sozialistischer Student hat das nicht nötig), so war es jetzt nicht nur erwünscht, ja sogar fast obligatorisch. Es gehörte sich, dass unsere Seminargruppe geschlossen daran teilnahm. Zwei Wochen haben wir im Gleisbau im Tagebau Koschen (heute einer der Lausitzer Seen) geschuftet. Um 04:00 Uhr mussten wir aufstehen, 05:10 Uhr fuhr der Pendelzug in die Grube und von 06:00 bis 14:00 Uhr währte die Schicht.
Womit wurde die Freizeit verbracht? Mit Skaten, Bier trinken, beim „Witwenball“ im Gesellschaftshaus Senftenberg, aber auch Besichtigungen der Brikettfabrik und Einfahren in den Tiefbau (Entwässerung). Gewohnt haben wir in einer Baracke, deren Standort wahrscheinlich später von der Grube „aufgefressen“ wurde.
Am Freitag ging es zurück nach Dresden, und am Sonnabend, dem 20. Juli war die große Abschlussfeier in der ABF. Das Disziplinarverfahren war vergessen, vielleicht hatte ich mich auch gebessert, denn ich bekam große Ehrungen neben dem „mit Auszeichnung bestanden“, u.a. die Herder- Medaille für gute Leistungen in Russisch. Möglicherweise habe ich diese Fräulein Konrad zu verdanken, die ich wirklich sehr mochte.
Bei diesem guten Abschluss war es kein Problem, zum Studium an der TH in der Fakultät Luftfahrtwesen (Flugzeugbau) zugelassen zu werden, wobei allerdings noch erforderlich war, dass man als staatsbewusster Student eingeschätzt wurde. Trotz des Disziplinarverfahrens wurde ich als solcher eingeschätzt und war es inzwischen wohl auch geworden. Zwei Tage zum Ausruhen und am Dienstag war ich schon wieder in meinem Ausbildungsbetrieb.
Bis zum 1. Februar 1958 arbeitete ich dort bei vollem Leistungslohn im Werkzeugbau (damals eine Abteilung, in der man überdurchschnittlich verdiente) und bekam zusätzlich das Stipendium für das so genannte Vorpraktikum von der TH überwiesen. Mich hatte niemand gefragt, was ich im Vorpraktikum tue und ich habe nichts gesagt. Auf diese Weise wurde der finanzielle Verlust, den ich durch Streichung des Leistungsstipendiums infolge des Disziplinarverfahrens erlitten hatte, mehrfach kompensiert.
Gab es überhaupt einen Urlaub trotz der vielen Arbeitseinsätze? Oh doch – ein Urlaub musste sein. Mit einem Freund radelte ich von Erfurt nach Eisenach, hoch auf den Rennsteig, diesen entlang – mit gelegentlichen Abstiegen nach links und rechts bis zum Sperrgebiet bei Lauscha und dann wieder hinunter bis nach Weimar (Übernachtung in Jugendherberge).