Zeitzeugen berichten
Das Universitätsarchiv und "oral history"
Neben der Bearbeitung der traditionellen archivfachlichen Aufgaben werden die Archive mit neuen Anforderungen konfrontiert, die eng mit der Transformation von der Industrie- zur Informations- und Mediengesellschaft zusammenhängen. Die Archivierung von digitalen amtlichen und wissenschaftlichen Überlieferungen gehört heute zum Standard archivarischer Tätigkeit. Während Sicherung, Bewertung, Erschließung und Auswertung der schriftlichen und digitalen Überlieferung der gesellschaftlichen Organisationen durch die Gesetzgebung von Bund und Ländern geregelt ist, erfordert die Sicherung der historischen Erinnerung von Zeitzeugen, nicht zuletzt von Zeitzeugen in herausgehobenen gesellschaftlichen Stellungen, ein über die engeren dienstlichen Aufgaben hinausgehendes Engagement. Ein Abgleichen der scheinbar objektiven archivalischen Überlieferung und der retrospektiv entstandenen Zeitzeugenberichte ist in vielen Fällen unumgänglich. Es erfordert eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Archiv und Zeitzeugen, dessen subjektive Wahrnehmung von bestimmten Ereignissen für eine interessante Geschichtsschreibung gegenüber den schriftlichen Quellen nicht unterschätzt werden darf. Wolf Singer, Direktor des Max Planck-Instituts für Hirnforschung, hat aus naturwissenschaftlicher Sicht das Subjektive von Wahrnehmung und Erinnerung als kreativen konstruktiven Prozess charakterisiert, der bei jedem Menschen anders verlaufe und eine Rekonstruktion einer objektiven Realität unmöglich mache. Eine „sinnvolle Trennung zwischen Akteuren und Beobachtern“ kann es nach seiner Auffassung nicht geben, „weil die Beobachtung den Prozess beeinflusst, selbst Teil des Prozesses wird“ [1].
Das Universitätsarchiv hat in den vergangenen Jahren von ehemaligen Angehörigen der TH/TU Dresden eine erhebliche Anzahl von Zeitzeugenberichten erfasst und in Zusammenarbeit mit ihnen bearbeitet und publiziert. Es handelte sich vor allem um Berichte ehemaliger Studenten und Professoren unserer Alma Mater. So liegen Erinnerungsberichte vor, die einen Zeitraum von Anfang der zwanziger Jahre bis zur Gegenwart abdecken und achtzig Jahre Hochschulgeschichte dokumentieren. Sie bieten eine Fülle an Informationen, die so nicht in den Akten überliefert sind. Die Zeitzeugen liefern mit ihren Berichten eigene historische Quellen, die nicht nur die oft lückenhafte schriftliche Überlieferung ergänzen, sondern die Zusammenhänge und Beziehungsgeflechte transparent machen. Darüber hinaus geben die autobiographischen Darstellungen Einblicke in interessante Karrieren nach Abschluss des Studiums oder der Promotion. Interessanterweise haben viele ehemalige Studenten und Assistenten der TH/TU Dresden eine besondere Beziehung zu ihrer ehemaligen Hochschule, ihren Hochschullehrern und nicht zuletzt zum besonderen Flair ihres Studienortes. So blieb der Verkehrspolitiker Edmund Frohne (1891-1971), Absolvent der TH Dresden im Jahre 1914, Zeit seines Lebens in Kontakt zu seiner Hochschule. Selbst als Erster Präsident der Deutschen Bundesbahn hielt er alte Verbindungen im Rahmen der Möglichkeiten im geteilten Deutschland aufrecht, wie sich sein Sohn heute erinnert. Ebenso brachen die Verbindungen von Dr. Sibylle von Schieszl (geb. 1918), heute in Schweden lebend, zu ihrem Heimat- und Studienort Dresden auch nach ihrem Weggang aus der DDR im Jahre 1952 nicht ab. Ausführliche Erinnerungen an die Zeit ihres Studiums und ihrer Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TH Dresden, zuletzt bei Professor Kurt Schwabe (1905-1983), liegen im Universitätsarchiv vor.1 Einige Beiträge werden schrittweise in der folgenden Präsentation vollständig oder auszugsweise veröffentlicht und sollen weiter dazu anregen, persönliche Erinnerungen, Dokumente und andere interessante Überlieferungen dem Universitätsarchiv anzubieten.
[1] Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über den Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. In Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 226 v. 28.9.2000. S. 10