"Was kommt eigentlich alles dran?"
Marie ist Studentin im 4. Semester. Aufgrund von Sorgearbeit konnte sie nicht regelmäßig an den Veranstaltungen teilnehmen, hat jedoch stets die Inhalte nachbereitet. Sie erkundigt sich am Ende des Semesters bei ihrem Dozenten über die Prüfungsschwerpunkte. Er antwortet: “Es kommt alles dran, was wir behandelt haben.“ Als Marie sich Konkretisierungen wünscht, druckst er herum. Er könne nicht präziser werden, da sie sonst einen Vorteil den anderen Studierenden gegenüber hätte. Marie hatte sich mehr erhofft als diese Aussage. Sie erkundigt sich bei älteren Studierenden nach Klausurschwerpunkten. Deren Erinnerungen sind jedoch lückenhaft und teils widersprüchlich. Marie ist verwirrter und beunruhigter als vor ihren Nachfragen und geht mit einem unguten Gefühl in die Prüfungsphase.
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Warum sollten Prüfungsanforderungen für alle Studierenden transparent sein?
- Andere Kolleg*innen machen ihre Prüfungsinhalte auch nicht transparent. Wieso sollte ich das tun?
- Warum ist die Aussage, es komme alles dran, problematisch?
- Wieso wiederholt Marie nicht das Seminar, wenn sie so selten da war?
- Hat der Dozent sich während des Semesters dafür interessiert, welche Studierenden (nicht) da waren und warum sie nicht da waren? Ist das überhaupt eine Frage, mit der sich Dozierende beschäftigen sollten?
Warum sollten Prüfungsanforderungen für alle Studierenden transparent sein?
Unwissenheit kann zu Unsicherheit führen und Unsicherheit führt zu Stress. Eine Stressreaktion kann als körperlicher Anpassungsprozess und als psychischer Zustand verstanden werden. Jantzen (1987) dekliniert ihn als "die Gesamtheit der Anpassungsreaktionen des Organismus an extreme Belastungsbedingungen, die psychologisch durch einen Gradientenabfall der emotionalen Bewertung in Richtung auf einen Affektzustand eingeleitet werden (Jantzen 1987: 286)." Je nachdem wie die Stessreaktion ausfällt, kann sich das auf den Lernprozess auswirken. In dem Beispiel hat die Auswirkung negative Folgen. Wahrscheinlich wird sie sich Marie aufgrund der wahrgenommenen (Mehr-)Belastung nicht gut konzentrieren können. Für sie ist vermutlich eine mit Angst behaftete Situation entstanden.
Warum ist die Aussage, es komme alles dran, problematisch?
Für Studierende ist das Themenfeld, in das sie sich mit dem Besuch einer Lehrveranstaltung begeben, inhaltlich nur schwer zu überblicken. Was wird diskutiert? Welche Erkenntnisse gelten als gesichert? Was sind Forschungsdesiderata? Auch wenn es Schwerpunkte in der Lehrveranstaltung gibt, kann es für Studierende eine nicht zu bewältigende Aufgabe darstellen, Grenzen abzustecken und in der Literatur den roten Faden zu finden. Umso wichtiger ist es, dass ihnen das, was für die Prüfungsleistung zentral ist, transparent gemacht wird. Doch welche Kompetenz(en), unabhängig vom Inhalt, wird (werden) verlangt? Sollen die Studierenden Inhalte beschreiben, anwenden oder reflektieren?
Hat der Dozent sich während des Semesters dafür interessiert, welche Studierenden (nicht) da waren und warum sie nicht da waren? Ist das überhaupt eine Frage, mit der sich Dozierende beschäftigen sollten?
Dass Studierende ab und an von Lehrveranstaltungen fern bleiben, ist keine Seltenheit und kein einzelphänomengängige Praxis im Studium. Dafür kann es verschiedene Gründe geben: die Universität, die Professionalisierung oder das Privatleben betreffend. So z.B. wie die im Fall angesprochene Fürsorgearbeit. Darüber hinaus ist ein Nebenjob oder fehlende Sinnhaftigkeit der Lehrveranstaltung denkbar. Bei letzterem konnten sich die Studierenden Fragen wie Weshalb nehme ich an der Veranstaltung teil? oder Was bringt mir die Lehrveranstaltung in meiner Professionalisierung? (noch) nicht beantworten.
Wieso wiederholt die Studentin nicht das Seminar, wenn sie so selten da war?
Die Frage kann nur die Studentin beantworten. Marie könnte beispielsweise aus folgenden Beweggründen das Seminar nicht wiederholen wollen bzw. können:
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Es wurden bereits andere Lehrveranstaltungen in spätere Semester verschoben. Dieses Seminar ist eines der wenigen, das die Studentin absolvieren möchte.
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Es ist nicht abzusehen, dass sich Maries Aufwand der Fürsorgearbeit in nächster Zeit ändert. Auch in den nächsten Semestern wird sie vermutlich in einigen Veranstaltungen fehlen.
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Sie hat Zeitdruck, das Studium zu beenden, da sie auf eine Studienfinanzierung (BAföG) angewiesen ist.
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Es besteht keine Präsenzpflicht. Marie darf also eine Prüfungsleistung erbringen, obwohl sie nicht (immer) in den einzelnen Sitzungen anwesend war.
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Wieso ist es meine Aufgabe, auf die Lebensumstände der Studierenden Rücksicht zu nehmen?
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Welche Lehr- und Lernziele habe ich für meine Lehrveranstaltung?
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Was kann und soll die Prüfung überprüfen?
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Hab ich die Prüfung am Ende der Veranstaltung entsprechend meiner Ziele während der Veranstaltung gestaltet?
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Habe ich für alle Lernenden die Möglichkeit geschaffen, zu wissen, was und wie ich prüfe?
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Schaffe ich Möglichkeiten für Studierende, die nicht immer dabei sind, sich adäquat auf die Prüfung vorbereiten zu können?
Intransparenzfalle
Sei es ein wissensbasierte Multiple-Choice Test, eine Hausarbeit, ein Referat oder eine praktische Leistung: Wenn für die Lernenden nicht transparent gemacht wird, was von ihnen erwartet und welche Kriterien bei der Bewertung maßgeblich sind, führt dies auf beiden Seiten schnell zu Frustration - die Lernenden sind "am Thema vorbei" und Sie als Lehrperson sind enttäuscht über die schlechten Bewertungsergebnisse, was Sie wiederum Ihre Lehre anzweifeln lässt.
Gleichbehandlungsfalle
Es ist nicht immer leicht und oft auch gar nicht möglich, auf die Bedürfnisse und Wünsche aller Studierenden einzugehen. Lehrende sollten sich nichtsdestotzotz bewusst sein, dass manche Studierende einfach keine Wahl haben: Um sich das WG-Zimmer oder einen Studienplatz leisten zu können, müssen viele neben dem Studium arbeiten gehen. Anstelle das Fernbleiben der Studierenden von der Lehre per se als 'Faulheit' abzutun, kann es bereits helfen, ein offenes Ohr für die Studierenden zu haben und zumindest zu versuchen, ihnen entgegenzukommen.