Welche Folgen hat es für die Lernenden, wenn der Fokus bei Bewertungen auf Defiziten und Fehlern liegt?
Vor allem in Lehr-Lern-Kontexten werden Menschen leider ständig mit Fehlern konfrontiert. Mit den eigenen und mit denen anderer. Schnell entsteht durch diesen zumeist eher negativen Fokus auf Fehler der Eindruck, alles und jeder müsse perfekt sein. Hierdurch besteht die Gefahr, dass die Lernenden perfektionistische Ansprüche an sich selbst - aber vor allem auch an andere - haben und sehr streng mit sich selbst und anderen sind (Waibel, Wurzrainer 2016: 120). Im Umkehrschluss sinkt bei Lernenden, die wiederholt negative Rückmeldungen bekommen das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeitserwartung.
"Noch etwas kennzeichnet Fehler: Sie gehen von einer Negativdefinition und nicht von einem positiv formulierten zu erreichenden Lernziel aus" (ebd.: 121).
Der Fokus liegt somit häufig auf einer Abweichung von einer vorausgesetzten Norm, auf dem Nicht-Erfüllen einer Erwartung und in diesem Zusammenhang auf der Menge der Fehler. Das, was eine Person bereits gut kann und richtig gemacht hat, wird dabei kaum gewürdigt. Dies wirkt sich sowohl auf die einzelne Person wie auch auf die gesamte Lerngruppe negativ aus und äußert sich beispielsweise in Konkurrenzdenken, Wettkampf-Verhalten, Angst vor schlechten Bewertungen und vor Bloßstellung (Lesen sie hier mehr zum Zusammenhang von Emotionen und Lernprozessen). Darüber hinaus liegt der Fokus auf der Vergangenheit, wenn es nur um die Fehler geht. Das, was eine Person bereits in der Gegenwart weiß oder kann und dass, was sie in Zukunft wissen und können wird, wird hierbei zu wenig oder gar nicht gewürdigt. Zum einen wird hierbei die “Zone der aktuellen Entwicklung” zu wenig gewürdigt. Zum anderen wird die “Zone der nächsten Entwicklung” vor allem von erwartungen und Vorgaben der Lehrenden oder eines Curriculums bestimmt und viel zu wenig von den Lernenden selbst (mehr zu den Entwicklungszonen lesen Sie im Bereich Lernen verstehen). Hinzu kommt, dass die Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Motivation der Lernenden vernichtend sein können, wenn immer nur die Defizite betont werden (Deci, Ryan 1993).
"Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation macht geltend, daß [sic!] Menschen den intrinsischen (angeborenen) Wunsch haben, ihre Umwelt zu erforschen, zu verstehen und „in sich aufzunehmen"(assimilieren).[...] Wir sind überzeugt, daß [sic!] optimales Lernen unmittelbar an die Entwicklung des individuellen Selbst geknüpft ist und gleichzeitig von de rBeteiligung des Selbst abhängt. Eine Lernmotivation, die nicht den Prinzipien des individuellen Selbst entspricht, z.B. weil sie von außen aufoktroyiert wird, beeinträchtigt die Effektivität des Lernens und behindert zugleich die Entwicklung des individuellen Selbst" (ebd.: 235f.)
Was und wie soll ich prüfen, wenn ich nicht Wissen abfrage?
Potentialorientiert zu bewerten bedeutet nicht, dass Fehler nicht mehr aufgezeigt und nicht mehr thematisiert werden sollen. Im Gegenteil: Der Begriff FEHLER ist ein Anagramm für HELFER. Ein Fehler kann ein Hinweis darauf sein, dass der Lerngegenstand nicht ausreichend an die individuellen Bedürfnisse und Lernpfade der Lernenden anschließt. Eine positive Sicht auf Fehler setzt zuallererst voraus, sich darüber bewusst zu sein, welche Potentiale damit verbunden sind. Es sollte nicht um die Fehler der Vergangenheit gehen, sondern um das, was diese Fehler uns über die Lern- und Entwicklungsprozesse der Zukunft sagen können. Welche Fehler wurden gemacht und warum? Welches Angebot braucht die Person, um diese Fehler zukünftig nicht mehr zu machen? Welche Lernziele können formuliert werden und wie können sie erreicht werden? Dieser Blick nach vorn wirkt sich motivationsfördernd auf die Lernenden aus und kann als “potenzialorientiert” bezeichnet werden. Durch eine wertschätzende und förderorientierte Sicht auf Fehler wird der Selbstwert der Lernenden gestärkt, es entsteht ein positives Lernklima und (Leistungs-)Hierarchien werden nicht länger begünstigt (Waibel, Wurzrainer 2016: 122). Lesen Sie mehr dazu, wie Fehler potentialorientiert gedeutet werden können.
Wie korrigiere ich, ohne Defizite aufzuzeigen? Wie korrigiere ich potentialorientiert?
Wenn die Abfrage von Wissen in Form von Einzelinformationen im Fokus steht, tappen Sie schnell in die Wissens-Falle. Damit die Lernenden jedoch Sinn und Bedeutung aufbauen können und nachhaltige Lern- und Entwicklungsprozesse stattfinden, braucht es sinnstiftende Kontexte. Wenn der Lerngegenstand keine persönliche Bedeutsamkeit für die Lernenden hat, werden die Inhalte schnell vergessen. Dies ist typisch für das sogenannte Bulimie-Lernen und ein bekanntes Symptom wissensorientierter Prüfungssettings.
Insbesondere bei Prüfungs- und Bewertungssituationen sollten den Lernenden die Anforderungen und Erwartungen transparent gemacht werden. Außerdem sollten sie in die Formulierung konkreter Lernziele einbezogen werden. Zur Formulierung von Lernzielen eignen sich beispielsweise die SMART-Methode (spezifisch, messbar, anspruchsvoll, realistisch, terminiert) und der WOWW-Ansatz (Working on what works), bei dem gelungene Momente aufgegriffen und an diesen weitergearbeitet wird. Informieren Sie sich im Fundus zum differenzierten und kompetenzorientieren Prüfen und Bewerten sowie einer potenzialorientierten Sicht auf Fehler. Außerdem können Sie in dieser Handreichung zur Leistungsermittlung und Leistungsbewertung (an Schulen) Beispiele und Impulse für individuelle Bewertungen einsehen.