"Je mehr Fehler, desto schlechter die Note?"
Conny ist Lehrperson und hat kürzlich eine Weiterbildung zum Thema Prüfen besucht. Durch diese Weiterbildung wurde ihr bewusst, dass sie bisher vor allem wissensbasierte Prüfungsformate eingesetzt hat. Die Weiterbildung hat Kritik an dieser Art zu Prüfen aufgezeigt. Die Alternative seien kompetenzorientierte Prüfungssettings. Conny will es damit zumindest einmal probieren, aber wie kann das gelingen? Sie findet, dass bei wissensbasierten Tests die Note so einfach festlegbar ist: Richtig? Falsch? Fertig! Wie soll sie aber bei diesen für sie ungewohnten kompetenzorientierten Prüfungssettings mit den Fehlern der Lernenden umgehen?
Raul schneidet bei Tests meist gut ab. Das liegt vor allem daran, dass er gut darin ist, etwas auswendig zu lernen und sich Dinge einzuprägen. Für die meisten Tests genügt es, wenn Raul das Auswendig-Gelernt wiedergibt, denn nach Zusammanhängen oder einem Transfer in einen anderen Anwendungskontext wird nur selten gefragt. Meistens vergisst er die Lerninhalte jedoch bereits kurze Zeit nach der Prüfung wieder.
Bald steht ein Test an, bei dem der Lernstoff der vergangenen drei Monate abgefragt wird. Hier wird Raul deutlich, dass er die einzelnen Themengebiete gar nicht wirklich miteinander verknüpfen kann und er auch nicht weiß, was ihm dieses Wissen für Später einmal bringen soll. Aber was solls? Auswendig Lernen und die Fakten herunterbeten hat ja bisher auch für gute bis mittelmäßige Noten gereicht.
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Welche Folgen hat es für die Lernenden, wenn der Fokus bei Bewertungen auf Defiziten und Fehlern liegt?
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Wie korrigiere ich, ohne Defizite aufzuzeigen? Wie korrigiere ich potentialorientiert?
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Was soll ich prüfen, wenn ich nicht Wissen abfrage?
Welche Folgen hat es für die Lernenden, wenn der Fokus bei Bewertungen auf Defiziten und Fehlern liegt?
Vor allem in Lehr-Lern-Kontexten werden Menschen leider ständig mit Fehlern konfrontiert. Mit den eigenen und mit denen anderer. Schnell entsteht durch diesen zumeist eher negativen Fokus auf Fehler der Eindruck, alles und jeder müsse perfekt sein. Hierdurch besteht die Gefahr, dass die Lernenden perfektionistische Ansprüche an sich selbst - aber vor allem auch an andere - haben und sehr streng mit sich selbst und anderen sind (Waibel, Wurzrainer 2016: 120). Im Umkehrschluss sinkt bei Lernenden, die wiederholt negative Rückmeldungen bekommen das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeitserwartung.
"Noch etwas kennzeichnet Fehler: Sie gehen von einer Negativdefinition und nicht von einem positiv formulierten zu erreichenden Lernziel aus" (ebd.: 121).
Der Fokus liegt somit häufig auf einer Abweichung von einer vorausgesetzten Norm, auf dem Nicht-Erfüllen einer Erwartung und in diesem Zusammenhang auf der Menge der Fehler. Das, was eine Person bereits gut kann und richtig gemacht hat, wird dabei kaum gewürdigt. Dies wirkt sich sowohl auf die einzelne Person wie auch auf die gesamte Lerngruppe negativ aus und äußert sich beispielsweise in Konkurrenzdenken, Wettkampf-Verhalten, Angst vor schlechten Bewertungen und vor Bloßstellung (Lesen sie hier mehr zum Zusammenhang von Emotionen und Lernprozessen). Darüber hinaus liegt der Fokus auf der Vergangenheit, wenn es nur um die Fehler geht. Das, was eine Person bereits in der Gegenwart weiß oder kann und dass, was sie in Zukunft wissen und können wird, wird hierbei zu wenig oder gar nicht gewürdigt. Zum einen wird hierbei die “Zone der aktuellen Entwicklung” zu wenig gewürdigt. Zum anderen wird die “Zone der nächsten Entwicklung” vor allem von erwartungen und Vorgaben der Lehrenden oder eines Curriculums bestimmt und viel zu wenig von den Lernenden selbst (mehr zu den Entwicklungszonen lesen Sie im Bereich Lernen verstehen). Hinzu kommt, dass die Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Motivation der Lernenden vernichtend sein können, wenn immer nur die Defizite betont werden (Deci, Ryan 1993).
"Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation macht geltend, daß [sic!] Menschen den intrinsischen (angeborenen) Wunsch haben, ihre Umwelt zu erforschen, zu verstehen und „in sich aufzunehmen"(assimilieren).[...] Wir sind überzeugt, daß [sic!] optimales Lernen unmittelbar an die Entwicklung des individuellen Selbst geknüpft ist und gleichzeitig von de rBeteiligung des Selbst abhängt. Eine Lernmotivation, die nicht den Prinzipien des individuellen Selbst entspricht, z.B. weil sie von außen aufoktroyiert wird, beeinträchtigt die Effektivität des Lernens und behindert zugleich die Entwicklung des individuellen Selbst" (ebd.: 235f.)
Was und wie soll ich prüfen, wenn ich nicht Wissen abfrage?
Potentialorientiert zu bewerten bedeutet nicht, dass Fehler nicht mehr aufgezeigt und nicht mehr thematisiert werden sollen. Im Gegenteil: Der Begriff FEHLER ist ein Anagramm für HELFER. Ein Fehler kann ein Hinweis darauf sein, dass der Lerngegenstand nicht ausreichend an die individuellen Bedürfnisse und Lernpfade der Lernenden anschließt. Eine positive Sicht auf Fehler setzt zuallererst voraus, sich darüber bewusst zu sein, welche Potentiale damit verbunden sind. Es sollte nicht um die Fehler der Vergangenheit gehen, sondern um das, was diese Fehler uns über die Lern- und Entwicklungsprozesse der Zukunft sagen können. Welche Fehler wurden gemacht und warum? Welches Angebot braucht die Person, um diese Fehler zukünftig nicht mehr zu machen? Welche Lernziele können formuliert werden und wie können sie erreicht werden? Dieser Blick nach vorn wirkt sich motivationsfördernd auf die Lernenden aus und kann als “potenzialorientiert” bezeichnet werden. Durch eine wertschätzende und förderorientierte Sicht auf Fehler wird der Selbstwert der Lernenden gestärkt, es entsteht ein positives Lernklima und (Leistungs-)Hierarchien werden nicht länger begünstigt (Waibel, Wurzrainer 2016: 122). Lesen Sie mehr dazu, wie Fehler potentialorientiert gedeutet werden können.
Wie korrigiere ich, ohne Defizite aufzuzeigen? Wie korrigiere ich potentialorientiert?
Wenn die Abfrage von Wissen in Form von Einzelinformationen im Fokus steht, tappen Sie schnell in die Wissens-Falle. Damit die Lernenden jedoch Sinn und Bedeutung aufbauen können und nachhaltige Lern- und Entwicklungsprozesse stattfinden, braucht es sinnstiftende Kontexte. Wenn der Lerngegenstand keine persönliche Bedeutsamkeit für die Lernenden hat, werden die Inhalte schnell vergessen. Dies ist typisch für das sogenannte Bulimie-Lernen und ein bekanntes Symptom wissensorientierter Prüfungssettings.
Insbesondere bei Prüfungs- und Bewertungssituationen sollten den Lernenden die Anforderungen und Erwartungen transparent gemacht werden. Außerdem sollten sie in die Formulierung konkreter Lernziele einbezogen werden. Zur Formulierung von Lernzielen eignen sich beispielsweise die SMART-Methode (spezifisch, messbar, anspruchsvoll, realistisch, terminiert) und der WOWW-Ansatz (Working on what works), bei dem gelungene Momente aufgegriffen und an diesen weitergearbeitet wird. Informieren Sie sich im Fundus zum differenzierten und kompetenzorientieren Prüfen und Bewerten sowie einer potenzialorientierten Sicht auf Fehler. Außerdem können Sie in dieser Handreichung zur Leistungsermittlung und Leistungsbewertung (an Schulen) Beispiele und Impulse für individuelle Bewertungen einsehen.
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Sind die Erwartungen und Anforderungen transparent für die Lernenden?
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Welchen Fokus habe ich bei der Bewertung der Lernenden?
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Liegt mein Fokus dem Vergleichen zwischen einem festgelegten Soll-Zustand?
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Stehen abfragbare Einzelinformationen im Vordergrund der Bewertung?
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Nehme ich die individuelle Entwicklung der Lernenden, ihre existierenden sowie sich in der Entwicklung befindenden Potenzial in den Blick?
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Vereinbare ich gemeinsam mit den Lernenden (individuelle) Lernziele?
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Beziehe ich die Lernenden bei der Abstimmung, Planung sowie Auswertung der Bewertungssituationen mit ein?
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Lege ich Wert darauf, dass die Lernenden einen persönlichen Zugang zum Lerngegenstand bekommen?
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Welche Sicht habe ich auf Fehler?
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Wie kommuniziere ich Fehler und wie will ich zukünftig über Fehler sprechen?
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Schaffe ich einen Raum, in dem ich mit den Lernenden über ihre Lern- und Entwicklungsprozesse sprechen kann?
Wissensfalle
Vor allem "klassische Tests" sind häufig wissensbasierte Prüfungsformate, bei denen einzelne Lerninhalte abgefragt werden. Problematisch daran ist, dass die Lernenden die einzelnen "Bausteine" eines Lernthemas dadurch nicht miteinander verknüpfen, reflektieren oder in andere Bereiche transferieren. Beim sogenannten "Bulimielernen" werden die einzelnen Wissensbausteine vor allem für die Prüfung gelernt und im Nachgang schnell vergessen.
Homogenisierungsfalle
Insbesondere in Prüfungssituationen tappen Lehrende häufig in die Homogenisierungsfalle. Sie nehmen an, der gleiche Test für alle würde auch zu vergleichbaren Aussagen zu den Kompetenzen der Lernenden führen. Die individuellen Stärken, Schwächen, Interessen und Bedürfnisse der Lernenden werden hierbei schlichtweg übersehen.
Intransparenzfalle
Sei es ein wissensbasierte Multiple-Choice Test, eine Hausarbeit, ein Referat oder eine praktische Leistung: Wenn für die Lernenden nicht transparent gemacht wird, was von ihnen erwartet und welche Kriterien bei der Bewertung maßgeblich sind, führt dies auf beiden Seiten schnell zu Frustration - die Lernenden sind "am Thema vorbei" und Sie als Lehrperson sind enttäuscht über die schlechten Bewertungsergebnisse, was Sie wiederum Ihre Lehre anzweifeln lässt.