Ist das Lehrer*innenzimmer nicht genau als Rückzugsort für einen zwanglosen Austausch im Kollegium da?
Ja und nein. Zum einen sollen Lehrer*innenzimmer natürlich "die Möglichkeit der kollegialen Kommunikation und einer gewissen informellen Privatheit außerhalb des Beobachtungshorizontes" (Tenorth, Tippelt 2007: 468) Lernender bieten. Auch im Fall, der sich der Kontinuität von pädagogischen Beziehungen widmet, wird betont, wie hilfreich der kollegiale Austausch über Emotionen oder herausfordernde Unterrichtssituationen sein kann. Es ist also gerade im Sinne der Resilienzförderung nichts dagegen einzuwenden, sich unter Kolleg*innen einmal "Luft zu machen". Zum anderen ist die Lehrer*innenzimmersituation im skizzierten Fall problematisch. Denn scheinbar findet außerhalb des "Sich-Luft-Verschaffens" keine produktive oder reflektierte Kommunikation über Lernende mehr statt. Gerade für neu dazukommende Lehrkräfte kann dieses Umfeld verunsichernd sein.
Damit es nicht so weit kommt, dass die Klagen über "unmotivierte, widerständige, freche, dumme Schüler*innen" zu unhinterfragten Narrativen heranwachsen, die in Dauerschleife unreflektiert geäußert werden, müssen individuell und kollegial Strategien entwickelt werden (mehr dazu unter den folgenden zwei Fragen).
Warum sind unreflektierte Annahmen und Vorurteile schädlich für pädagogische Beziehungen und wie kann man mit ihnen umgehen?
Unreflektierte Annahmen und Vorurteile gegenüber Lernenden sind gefährlich, weil so "Identitäten [..] als statische Gebilde" (Emcke 2000: 322) in der Wahrnehmung der Lehrenden - und auch Lernenden - verankert werden. Dies ist aus mehreren Gründen folgenreich: Einerseits werden so anhand des sogenannten heimlichen Lehrplans "nicht-akzeptable Normen und Werte sowie Verhaltensstile unreflektiert erzeugt und reproduziert" (Tenorth, Tippelt 2007: 313). Sie erhalten und vermehren sich auf diese Weise über Kollegien und Zeiträume hinweg. Andererseits haben Zuschreibungen auch einen direkten Einfluss auf das Lernen und die Entwicklung der Lernenden (Prengel 2013b: 40, 56). Prengel leitet aus der aktuellen Studienlage ab, dass Lernende oder Klassen schlechter abschneiden, wenn zuvor eine ihnen zugeschriebene Eigenschaft hervorgehoben wurde (ebd.).
Ein Umfeld, in dem die Lehrenden schlecht über die Lernenden reden und damit auch negativ über sie denken, wirkt sich lernhemmend (ebd.) sowie langfristig gesundheitsschädlich auf alle Beteiligten aus (zur Wirkung von Wohlbefinden und Druck im Lehrer*innenberuf Grams Davy 2017: 25f). Negative Effekte zeigen sich, wie im Perspektivwechsel aus Schüler*innensicht deutlich wird, nicht nur in Bezug auf die Emotionen (“fühlen sich schlecht”) und Motivation (“sind nicht gern in der Schule [...].”) der Lernenden. Die Vorurteile gegen die Klasse - also die Fremdbilder - verändern auch die Selbstwahrnehmung der Lernenden, sodass diese "tendenziell den Lehrererwartungen entsprechen." (Prengel 2013b: 56) Dies wird im Perspektivwechsel daran sichtbar, dass die Lernenden zunehmend denken, verdient zu haben, wie mit ihnen umgegangen wird und darüber nachdenken, ihr Verhalten zukünftig daran auszurichten. Somit wirken die Lehrer*innen unmittelbar auf die Indentitätsbildung der Lernenden ein. Der Fachbegriff dafür ist Pygmalion-Effekt.
Lehrende haben die Aufgabe, sich diesen Wirkmechanismus bewusst zu machen und verantwortungsvoll damit umzugehen. Der von den Lehrkräften erlebte Frust muss also thematisiert, aber im Anschluss ebenso themenzentriert - d. h. ohne die Lernenden für alles Schlechte verantwortlich zu machen - reflektiert werden. Nur mit einer grundsätzlich wertschätzenden Haltung gegenüber den Lernenden, die Personen vom aufgetretenen Problem zu trennen weiß (siehe systemische Betrachtungsweise), können pädagogische Beziehungen sowie Lernen und Entwicklung gelingen.
Was hat mein Kollegium mit meinen Problemen zu tun? oder Warum sollten wir uns (nicht) gegenseitig belasten?
Während Lehrende ihre Lehre überwiegend allein vorbereiten, durchführen und evaluieren, haben sie im Arbeitsalltag dennoch selten eine Zeit oder einen Ort für sich allein (Grams Davy 2017: 24). "Dieses Paradoxon lässt sich als „ständige Interaktion bei völliger Einsamkeit und ohne wirklich allein sein zu können“ zusammenfassen. Und es ist eng mit dem Belastungserleben der meisten Lehrkräfte verstrickt." (ebd.) Dieses Phänomen des sogenannten Einzelkämpfer*innentums kann nur durch kollegiale Kooperation aufgelöst werden. Da so eine Basis für gelingendes Arbeiten sowie eine Ressource für Resilienz geschaffen wird (ebd.: 47). Denn auch Misserfolge und Enttäuschungen können leichter bewältigt werden, wenn sie im Kollegium besprochen und reflektiert werden (ebd.). "Ein Rückzug aus der kollegialen Interaktion aufgrund von Überlastung sowie anhaltende Konflikte und Uneinigkeit im Kollegium sind Warnzeichen, die individuell und auf Organisationsebene [...] ernst genommen und aktiv bearbeitet werden sollten." (ebd.)
Es ist also ratsam, sich Vertrauenspersonen im Kollegium zu suchen, um sich mit ihnen auch über Probleme austauschen zu können. Wichtig ist, dass diese Beziehung beidseitig hilfreich ist, nicht nur ein einseitiges Abladen von Problemen und auch ein Reflektionsprozess stattfindet. Dann ist die kollegiale Kooperation fruchtbar und wird nicht als gegenseitige Belastung wahrgenommen.
Leider wird die kollegiale Kooperation ebenso wie die Beziehungsarbeit zwischen Lehrenden und Lernenden durch die Verfügbarkeit zeitlicher Ressourcen stark beeinflusst. Wünschen sich Lehrende (mehr) kollegiale Kooperation, beispielsweise durch Hospitation oder Beratungsgruppen, ergibt sich daraus meist ein Mehraufwand bei ansonsten gleichbleibendem Aufgabenpensum (ebd.: 24). Denn Ressourcen für Zusammenarbeit im Kollegium sind nicht immer eingeplant (ebd.). Im Rahmen der Schulentwicklung sollten Räume für kollegiale Kooperation daher stets von der Leitungsebene mitgedacht und eingeplant werden. Methoden, um die gegebene Zeit dann effektiv zu nutzen, sind beispielsweise die Kollegiale Fallberatung (KFB), Hospitation und Teamteaching außerdem die themenzentrierte Kommunikation oder der restorative practice approach.