Konzeptionelle Grundlagen
Konzeptionelle Grundlagen zur Erforschung von Disruption und Disruptivität
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Heike Greschke, Lars Koch, Susann Wagenknecht
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Disruptivität ist eine paradoxe Grundeigenschaft gesellschaftlicher Wirklichkeit. Gesellschaften können und müssen immer mit Disruptionen rechnen, können jedoch oftmals nicht vorhersehen, wann eine fundamentale (Zer-)Störung eintreten wird und in welchen Teilbereichen sie welche Effekte erzeugt. Diese paradoxe Logik der Disruptivität zeigt sich sehr deutlich am Klimawandel, mit dem disruptive Naturereignisse und -prozesse als zugleich erwartbar und etwa im Begriff der „Kippelemente“ (Tipping Points) als unberechenbar gelten. Auch im Zusammenhang mit der „digitalen Revolution“ hat sich Disruptivität im Begriff der „disruptiven Innovation“ deutlich in den gesellschaftlichen Erwartungshorizont eingeschrieben. Während Disruption als Geschäftsmodell das Wirtschaftssystem in einen Kreislauf beständiger Störung und Erneuerung zwingt, verweisen Disruptionen in größeren gesellschaftlichen Kontexten auf die Fragilität und Vulnerabilität von sozialen, technischen oder diskursiven Ordnungen, innerhalb derer sie sich ereignen und als solche registriert werden. Dies unabhängig davon, ob Disruption im konkreten Fall als progressive Innovation auf die (Zer-)Störung und Erneuerung von etablierten Unternehmen, Verfahren oder kulturellen Praktiken gerichtet ist, als destruktives Naturereignis oder kriegerischer Angriff die materiellen Grundlagen sozialer Ordnungen prekär werden lässt, als biotechnologisches Reproduktionsverfahren den Umbau von Menschenbildern forciert oder in Form einer globalen Pandemie zu einer selbstinitiierten radikalen Unterbrechung unmittelbarer menschlicher Austauschbeziehungen zwingt.
Was als disruptiv gilt, bestimmt sich in Bezug auf jene Ordnungen und Systeme, die durch eine Disruption unterbrochen, beschädigt oder zerstört werden. Disruptionen unterschiedlicher Intensität existieren nur relational bezogen auf einen angenommenen Normalverlauf, den sie sabotieren. Sie verweisen auf das, was in Routinen verarbeitet oder ausgeschlossen werden muss, um Stabilität und Kontinuität zu erreichen. Disruption ist somit grundsätzlich ein relationales Phänomen, das bestehende Begrifflichkeiten und analytische Paradigmen immer wieder herausfordert. Um der Breite des Gegenstandsbereichs gerecht zu werden und im Sinne einer größtmöglichen interdisziplinären Anschlussfähigkeit ist eine im Folgenden zu skizzierende, heuristische Beschreibungsmatrix hilfreich, die der begrifflichen Präzisierung und Einordnung der jeweils adressierten Forschungsgegenstände dient:
- Relationalität: Disruptionen sind abhängig von Beobachterstandpunkten. Darum ist zu fragen, welche expliziten oder impliziten Normen (moralische, juristisch, ästhetische usw.) in der Wahrnehmung und Benennung von Disruptionen eine Rolle spielen und von welchen Faktoren das Erleben, die Deutung und Kommunikation eines Ereignisses als Disruption beeinflusst wird (etwa materielle und kulturelle Grundlagen von Resilienz, kulturelle Vorstellungen von Ordnung, Aufmerksamkeitsökonomie der Medien, wissenschaftspolitischem Resonanzkalkül usw.).
- Situierung: Disruptionen können mit unterschiedlichen Kausalitäten und Auslösungsmechanismen in Verbindung gebracht werden. Zu fragen ist demnach, ob die Ursachen von Disruption als linearer Einbruch von außen (etwa als Kometeneinschlag, der eine Stadt auslöscht) oder innersystemisch zu konzeptualisieren sind (z.B. anthropogene Klimaerwärmung). Die Vermutung liegt nahe, dass in der Gegenwart Disruptionen in einem komplexen Geflecht multipler Einflussfaktoren zu situieren sind.
- Temporalität: Disruptionen können unterschiedliche Temporalitäten aufweisen, deren Spektrum von plötzlichem Ereignis (z.B. 9/11) über sukzessive Prozesse (z.B. die biotechnologische Arbeit am menschlichen Genom) bis hin zur kaskadenartigen Entgrenzung (z.B. Singularität der KI) reichen kann. Zudem können auch einzelne Disruptionen – etwa der Atomunfall von Tschernobyl – ein ganzes Set von Eigenzeiten mit sich bringen, im Beispiel etwa die akute Katastrophe, dann die Halbwertszeiten der Strahlung, die Präsenz in Medien und Öffentlichkeit usw.
- Reichweiten: Die Wirkungen von Disruptionen variieren in ihrer Reichweite und lassen sich oftmals nicht in einfachen Kausalitätsannahmen rekonstruieren. In komplexen Gegenwartsgesellschaften ist ein kompliziertes Geflecht von Auslösungsgeschehen, Effekten und Nebenfolgen anzunehmen. U.a. kann es zudem dazu kommen, dass Versuche der Entstörung weitere Sekundär- oder Tertiär-Disruptionen produzieren, die in ganz unterschiedlichen Teilbereichen der Gesellschaft situiert sein können (z.B. die Unterbrechung von Lieferketten als Folge des Corona-Lockdowns).
- Intensität: Disruptionen haben abhängig von ihrer Intensität unterschiedliche Effekte auf die Ordnungen, in denen sie sich ereignen. Während manche Denormalisierungen nach kurzen Momenten der Irritation in den bestehenden Normalzustand integriert werden (Disruption als Aufstörung) erfordern andere Disruptionen einen größeren adaptiven Umbau der Ordnung (Disruption als Verstörung). Massive Disruptionen können gar einen irreversiblen Zwang zum umfassenden systemischen Neuaufbau von Ordnung entwickeln (Disruption als Zerstörung).
- Funktionalität: Disruptionen lassen sich – u.a. abhängig von Beobachterstandpunkt, Temporalität und Intensität – in ihrer Funktionalität unterschiedlich bewerten. Während in Nahbereich einer Disruption vor allem die Beeinträchtigung der Ordnung registriert wird, rückt mit zunehmender Distanz mehr das kreative Potenzial zur Steigerung von Entstörungskompetenz oder zum Aufbau von neuer Komplexität in den Fokus.
- Epistemischer Status: Disruptive Geschehen oszillieren hinsichtlich ihrer Erwart- und Erkennbarkeit zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Sie sind Anlass und Gegenstand unterschiedlicher Wissensprozeduren und -dispositive mit jeweils eigenen Vorstellungen von Temporalität, Reichweite, Situierung und Intensität von Disruption. Entsprechende Dispositive der Versicherheitlichung wären etwa das der „Hygiene“ (Schutz gegen externe Störungsanlässe), der „Immunisierung“ (statistische Kalküle als Instrument der internen Resilienzsteigerung, Vorsorgeprinzip) und der „Precaution“ (Scenario-Planning als Umgang mit Zukunft als Gefahrenraum).
- Affektivität: Disruptionen affizieren, abhängig von Registern der Beobachtung, ihrer Temporalität, ihrer Situierung und Intensität Gesellschaften in unterschiedlichem Maße. Je nachdem, ob eher die produktive oder die destruktive Seite von Disruptionen in den Blick gerät, werden sie von differierenden und sich wechselseitig überlagernden Gefühlskomplexen begleitet. Diese haben ihrerseits wiederum Einfluss auf Bewertungen, Handlungsmotivationen. Gefühlskomplexe, die es im Einzelfall in ihren jeweiligen Polaritäten und Überblendungen genau zu beschreiben gilt, sind: Sorge – Furcht – Angst – Panik // Staunen – Hoffnung – Genuss – Euphorie.
Disruptionen sind vielfältig. Sie können als erwartbare und gleichzeitig unvorhersehbare Unterbrechungen, Beschädigungen oder gar Zerstörungen von sozialen, technischen, physisch-materialen und diskursiven Ordnungen verstanden werden. In ihren Voraussetzungen, Ermöglichungszusammenhängen und Effekten können Disruptionen demnach in komplexen Gesellschaften nur multiperspektivisch und interdisziplinär erforscht werden. Die Basis dafür stellen disziplinäre Forschungsperspektiven dar, die es problemorientiert auf notwendige interdisziplinäre Anschlüsse zu prüfen gilt.
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