Tatort Gehirn versus situativer Zwang. Das Böse im Lichte der Neuro- und Sozialwissenschaften
Fachrichtung: AQUA/Studium generale/Aufbaumodul LA Philosophie/Ethik
Leistungsnachweis: möglich
Zeit: Di 3. DS (11.10-12.40Uhr)
Ort: WEB/243
1895 charakterisierte Le Bon die Massen – für ihn Inbegriff des Bösen – durch Eigenschaften, »wie Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle«, »einfache und übertriebene Gefühle«, Unduldsamkeit, »Herrschsucht und Tendenz zum unmittelbaren Handeln«. Mit dem Gefühl von Macht, welches die Masse dem Einzelnen suggeriert, und mit der Anonymität, die die Masse dem Einzelnen bietet, verschwinden Gewissen und Verantwortungsgefühl.
Ein Jahrhundert später bezeichnet Albert Bandura dieses Phänomen als »moralische Abkopplung«, das nicht nur in großen Massen auftritt, sondern hervorgerufen durch situative Zwänge auch in kleinen sozialen Gruppen. Die den Einzelnen in seinen Bann ziehende Gruppendynamik wurde durch eine Vielzahl von Experimenten nachgewiesen - angefangen von Salomon Aschs Konformitätsexperiment über die Milgram-Experimente bis zu Zimbardos Analysen.
In seiner 2008 in Deutschland erschienenen »Psychologie des Bösen« entdeckt Philip Zimbardo, Leiter des berühmten Stanford Prison Experiments, verblüffende Parallelen zwischen seinem 1971 durchgeführten Experiment und den Misshandlungen in Abu Ghraib. Deindividuation, Autoritätshörigkeit, moralische Abkopplung, Entmenschlichung, Selbstrechtfertigung und Rationalisierung sind nur einige Phänomene, die Zimbardo herausarbeitet, die stark an Le Bon erinnern, jetzt aber auf situative Zwänge, gruppendynamische Prozesse und soziale Systeme zurückgeführt werden. »Was bringt gute Menschen dazu, Böses zu tun?«, ist die Frage, die Zimbardo bewegt.
Die grandiose Analyse von Zimbardo steht dabei (scheinbar?) einer wirkmächtigen Hirnforschung gegenüber, die im Gehirn und damit letztlich in molekulargenetischen Prozessen nach den Ursachen menschlichen Verhaltens fahndet. Für Roth liegen die Ursachen für delinquentes Verhalten in einer Fehlentwicklung, Verletzung oder Erkrankung bestimmter Hirnstrukturen. "Nun kann niemand für eine Fehlentwicklung, Erkrankung oder Schädigung" der entsprechenden Strukturen "verantwortlich gemacht werden – wenn ich als gesetzestreuer Mensch handle, dann habe ich eben das »Glück« gehabt, dass ich ein normal funktionierendes Gehirn habe." Einen reizvolleren Kontrast von jeweils für sich ausgesprochen überzeugenden Argumenten kann man sich schwer vorstellen.
In diesem Seminar soll das erforderliche Sachwissen erarbeitet werden, aber auch die rechtlichen, pädagogischen und ethischen Konsequenzen der betreffenden Forschungen.
Leistungsnachweis: möglich
Zeit: Di 3. DS (11.10-12.40Uhr)
Ort: WEB/243
1895 charakterisierte Le Bon die Massen – für ihn Inbegriff des Bösen – durch Eigenschaften, »wie Triebhaftigkeit, Reizbarkeit, Unfähigkeit zum logischen Denken, Mangel an Urteil und kritischem Geist, Überschwang der Gefühle«, »einfache und übertriebene Gefühle«, Unduldsamkeit, »Herrschsucht und Tendenz zum unmittelbaren Handeln«. Mit dem Gefühl von Macht, welches die Masse dem Einzelnen suggeriert, und mit der Anonymität, die die Masse dem Einzelnen bietet, verschwinden Gewissen und Verantwortungsgefühl.
Ein Jahrhundert später bezeichnet Albert Bandura dieses Phänomen als »moralische Abkopplung«, das nicht nur in großen Massen auftritt, sondern hervorgerufen durch situative Zwänge auch in kleinen sozialen Gruppen. Die den Einzelnen in seinen Bann ziehende Gruppendynamik wurde durch eine Vielzahl von Experimenten nachgewiesen - angefangen von Salomon Aschs Konformitätsexperiment über die Milgram-Experimente bis zu Zimbardos Analysen.
In seiner 2008 in Deutschland erschienenen »Psychologie des Bösen« entdeckt Philip Zimbardo, Leiter des berühmten Stanford Prison Experiments, verblüffende Parallelen zwischen seinem 1971 durchgeführten Experiment und den Misshandlungen in Abu Ghraib. Deindividuation, Autoritätshörigkeit, moralische Abkopplung, Entmenschlichung, Selbstrechtfertigung und Rationalisierung sind nur einige Phänomene, die Zimbardo herausarbeitet, die stark an Le Bon erinnern, jetzt aber auf situative Zwänge, gruppendynamische Prozesse und soziale Systeme zurückgeführt werden. »Was bringt gute Menschen dazu, Böses zu tun?«, ist die Frage, die Zimbardo bewegt.
Die grandiose Analyse von Zimbardo steht dabei (scheinbar?) einer wirkmächtigen Hirnforschung gegenüber, die im Gehirn und damit letztlich in molekulargenetischen Prozessen nach den Ursachen menschlichen Verhaltens fahndet. Für Roth liegen die Ursachen für delinquentes Verhalten in einer Fehlentwicklung, Verletzung oder Erkrankung bestimmter Hirnstrukturen. "Nun kann niemand für eine Fehlentwicklung, Erkrankung oder Schädigung" der entsprechenden Strukturen "verantwortlich gemacht werden – wenn ich als gesetzestreuer Mensch handle, dann habe ich eben das »Glück« gehabt, dass ich ein normal funktionierendes Gehirn habe." Einen reizvolleren Kontrast von jeweils für sich ausgesprochen überzeugenden Argumenten kann man sich schwer vorstellen.
In diesem Seminar soll das erforderliche Sachwissen erarbeitet werden, aber auch die rechtlichen, pädagogischen und ethischen Konsequenzen der betreffenden Forschungen.
Literatur
- Philip Zimbardo, Der Luzifer-Effekt. Die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen.
- Hans J. Markowitsch, Werner Siefer, Tatort Gehirn. Auf der Suche nach dem Ursprung des Verbrechens, Frankfurt am Main 2007.
- Gerhard Roth, Fühlen, Denken Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt am Main 2001
- Michael Pauen, Illusion Freiheit? Möglich und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt am Main 2004.