Tagungsbericht: Frühjahrstagung der Sektion "Methoden der qualitativen Sozialforschung" der DGS
„Polarisierung und gesellschaftlicher Wandel. Forschungsfelder, Methoden und wissenschaftliche Positionalität“ am 27. – 28.03.2019 an der TU Dresden in Kooperation mit dem SFB 1285 „Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung“.
Die Tagung beleuchtete einerseits Phänomene der Polarisierung, andererseits sollte Polarisierung als gesellschaftsanalytische Perspektive auf Transformationsprozesse fruchtbar gemacht werden. Gleichzeitig wurde die Frage danach erörtert, wie Sozialforscher*innen diesen Begriff zum einen methodisch einfangen können und welche spezifischen Implikationen Forschungen in polarisierten Feldern mit sich bringen.
Heike Greschke (TU Dresden, lokale Organisation) eröffnete die Tagung mit dem Impulsvortrag „Über Polarisierung denken in einer polarisierten Stadt“, der die Teilnehmenden auf das Thema der Tagung und den Veranstaltungsort einstimmte. Anhand exemplarischer Streiflichter auf Dresdner Szenen der Polarisierung von 1990 bis heute, vermittelte der Vortrag nicht nur einen Eindruck zur Stimmungslage in der Stadt. Er zeigte vielmehr, wie sich Konfliktdynamiken über die Zeit verselbstständigen und zu einem sich selbst reproduzierenden Modus der Kommunikation und Repräsentation werden.
Nicole Burzan (TU Dortmund), schloss mit ihrem Vortrag „Hierarchische Polaritäten in der Organisation Museum“ hier an und zeigte, wie sich im Museum wechselseitige polare Abgrenzung um Deutungskonkurrenzen zwischen Aufsichts- und Servicepersonal einerseits und dem künstlerisch verantwortlichen Personal im Museum andererseits vollziehen. Sie diskutierte sowohl methodische Herausforderungen, als auch Grenzen funktionaler Schichtungsmodelle angesichts der Dynamisierung sozialer Ungleichheitsverhältnisse unter Bedingungen des Wandels von Erwerbsarbeit.
Leandro Raszkewicz (TU Dresden) stellte in seinem Beitrag „Rassismus ausstellen: Eine Diskurs und Positionierungsanalyse“ ein methodisches Konzept zur Analyse von Polarisierungsprozessen vor. Die Studie rekonstruiert, wie sich ein Rassismusdiskurs in der räumlichen und medialen Gestaltung der Ausstellung „Rassismus. Die Erfindung von Menschenrassen“ am Deutschen-Hygiene Museum Dresden" materialisiert und welche Affordanzen die Ausstellung als Diskursmedium für die Vermittlungsarbeit bietet.
Marc Dietrich & Günter Mey (Hochschule Magdeburg/Stendal) setzten sich in ihrem Vortrag „Rassismus in der Popkultur unter Bedingungen des Internets. Zur methodischen Rekonstruierbarkeit von Polarisierungen am Beispiel von deutschem HipHop“, ebenfalls mit Kulturproduktionen im polarisierenden Themenfeld Rassismus auseinander. Am Beispiel eines Musikvideos und dessen Reaktionen auf Youtube präsentierten sie das Konzept einer audiovisuellen Grounded Theory zur Analyse intermedialer Kommunikationsverläufe, die Musikvideos, Szenemedien und Social-Media-Kommentare einschließen.
Am zweiten Tag der Tagung schlug Clara Terjung (Goethe-Universität Frankfurt) in ihrem Vortrag „Kriegsberichterstattung als Polarisierung“, die Mitgliedschafts-Kategorisierungs-Analyse als Methode der Rekonstruktion von Polarisierungsprozessen vor. Sie zeigte anhand der Berichterstattung um die "Schlacht von Kobanê" die Dynamiken, die sich innerhalb eines bipolaren Freund-Feind-Schemas vollzogen und Akteur*innen über die eigentlichen Konfliktparteien hinaus als Unterstützer*innen bzw. Gegner*innen positioniert haben.
Sarah Hitzler (Universität Bielefeld) stellte in ihrem Vortrag „Interaktion in Selbsthilfegruppen als Kollektivierung individueller Differenz“ ein konversationsanalytisches Verfahren vor, mit dem sie analysiert, was Hilfe in Selbsthilfegruppen bedeutet. Sie stellte heraus, dass Selbsthilfegruppen individuelle Erfahrungen der Ausgrenzung durch 'Andersartigkeit' in eine kollektive ‚andere‘ Gleichheit transformieren, um die erlittene Isolierung des Individuums zu einer aktiven
Abgrenzung der Gruppe umdeuten zu können. Dabei werde Andersartigkeit in Selbsthilfegruppen normalisiert.
Till Jansen (Universität Witten/Herdecke) betonte in seinem Vortrag „Kontexturanalyse als Methode zur Analytik sozialer Polarisierung“ die Polykontexturalität von Gesellschaft, die immer eine Übersetzung zwischen widersprüchlichen Interessen erfordere. Polarisierung sei ein Zeichen
für gescheiterte Übersetzung. Er stellte ein methodisches Verfahren vor, das an die
dokumentarische Methode sowie an die Unterscheidung von Stimme und Sprecherinstanzen nach Bachtin und Ducrot anschließt und dazu geeignet sei, unterschiedliche Rationalitäten und Sprecherpositionen in einer Situation zu identifizieren und die hieraus entstehenden Arrangements und Ordnungen zu analysieren.
Linda Spiekermann und René John (Institut für Sozialinnovation e.V. Berlin) diskutierten in ihrem Vortrag „(De-)Polarisierung durch Bürgerwissenschaft“ das politisch beförderte Konzept der „Bürgerwissenschaften“. Ausgehend von der Beobachtung einer zunehmenden Polarisierung zwischen professioneller Wissenschaft und Alltagswissen, sowie der damit einhergehenden Delegitimierung und Ablehnung ganzer Wissenschaftsdisziplinen und ihrer Erkenntnisse, sollen "Bürgerwissenschaften" durch die Beteiligung von Amateur*innen eine Übersetzung zwischen Wissenssphären und De-Polarisierung ermöglichen. Spiekermann und John zeigten anhand der Begleitforschung eines bürgerwissenschaftlichen Forschungsprojekts Probleme der Bürgerwissenschaften auf, die Gefahr laufe, Polarisierungstendenzen zu verstärken, wenn die Zusammenarbeit zwischen Laien und Professionellen nicht komplementär angelegt würde und Übersetzungskompetenzen in den Auswertungsverfahren fehlten.
Die Vorträge haben eine Bandbreite an Feldern und Anlässen der Polarisierung und eine Vielfalt an methodischen Zugängen zur Polarisierungsanalyse zur Diskussion gestellt, wie Larissa Schindler zum Abschluss der Tagung feststellte. Polarisierung, lässt sich zusammenfassend als (Neu)ordnungsprozess beschreiben, der eine Zunahme an fluiden Bewegungen erzeugt, deren Richtung und Pole oft nicht eindeutig zu bestimmen sind, da sie sich erst allmählich formieren. Polarisierung als paradoxes Verhältnis von wechselseitiger Bekämpfung und intensiver Bezugnahme konnte anhand der Dresden-Szenen und in den Themenfeldern Kriegsberichterstattung und Rassismusdiskursen plausibilisiert werden. Dabei wurde deutlich, dass Polarisierung nicht nur konkurrierende Gruppen in ihrer Gegensätzlichkeit erst hervorbringt, sondern dass diese sich auch gegenseitig Aufmerksamkeit verschaffen und sich so eine bedeutsame und andere ausschließende Diskursposition sichern. In der Diskussion wurde daher
mehrfach die Frage aufgeworfen, inwieweit sich Polarisierung unter aufmerksamkeitsökonomischen Gesichtspunkten als eigensinniges Geschäftsmodell erweisen kann und sich mithin Steigerungsdynamiken der Polarisierung zumindest teilweise durch diese aufmerksamkeitsökonomische Eigenlogik erklären lassen. Schließlich wurde immer wieder deutlich, dass Polarisierung in mehrfacher Hinsicht mit Invektivität zusammenhängt. So können invektive Erfahrungen (der Stigmatisierung, Ausgrenzung, Herabsetzung, etc.) zur Vergemeinschaftung der Invektivierten Anlass geben. Auch sind gegenseitige Beleidigungen, Schmähungen, bis hin zu persönlichen Verletzungen typische Erscheinungen in Polarisierungskontexten. Letztere sind jedoch, so ließe sich invektivitätstheoretisch schlussfolgern, gar nicht das entscheidende Moment in Polarisierungsprozessen. Die im konzeptionellen Sinne des Wortes "Invektivierten" sind vor allem diejenigen, die in keinem der Pole Platz finden und keine
Adresse (nicht einmal für Beleidigungen) sind; diejenigen also, die aus dem sich neuordnenden Diskursfeld ausgeschlossen werden und allenfalls Thema, aber nicht Teilnehmende sind.