Sommerkurs Dubrovnik 2011
Dem umstrittenen Thema ‚Zivilreligion‘ auf der Spur
Dubrovnik blickt auf eine bewegte Vergangenheit voller politischer und sozialer Verwerfungen zurück, in der die Stabilität der Stadtrepublik, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs offiziell Ragusa hieß, immer wieder auf die Probe gestellt wurde. Gleichwohl behauptete sich Dubrovnik stets als freies, unabhängiges politisches Gemeinwesen, dessen Überleben nicht zuletzt auf die Existenz kollektiv geteilter, verbindender Werthaltungen, Einstellungen und Normenorientierungen zurückzuführen ist.
Gerade deshalb bot Dubrovnik auch in diesem Spätsommer wieder eine äußerst anschauliche Kulisse für den Sommerkurs ‚Politische Theorie‘ zum Thema Zivilreligion am Inter-University-Centre, welches im nächsten Jahr sein 40-jähriges Bestehen feiert und auf eine ebenso lang andauernde Kooperation mit deutschen Universitäten zurückblickt. Der traditionsreiche Sommerkurs ‚Politische Theorie‘, den Prof. Hans Vorländer, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie der TU Dresden, zusammen mit Prof. Davor Rodin, Inhaber des Lehrstuhls für Politische Philosophie der Universität Zagreb, seit 1997 leitet, wurde bereits während des Ost-West-Konfliktes als – jenseits von Blockzugehörigkeiten – international und interdisziplinär ausgerichtetes Forum ins Leben gerufen. Entsprechend seiner Gründungsintention widmet sich der Sommerkurs ‚Politische Theorie‘ historischen, sozialphilosophischen und politikwissenschaftlichen Thematiken vor dem Hintergrund bedeutsamer Fragen und Probleme gesellschaftlicher Gegenwart.
Im September dieses Jahres stellten Wissenschaftler und Studierende aus Kroatien, der Schweiz und Deutschland das Konzept ‚Zivilreligion‘ auf den Prüfstand. Darunter lassen sich soziomoralische Überzeugungen, Haltungen und Wertvorstellungen verstehen, welche aus religiösen Elementen herrührend eine säkularisierte, bürgerliche Form des Glaubens aufweisen und durch ihre kollektive Verbindlichkeit den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Im Mittelpunkt der Vorträge und Diskussionen des Sommerkurses stand dabei einerseits die begriffliche Bestimmung von Zivilreligion, andererseits ihre Anwendbarkeit.
Den Auftakt bildete der Vortrag von Prof. Hans Vorländer, der die Bedeutsamkeit von Zivilreligion als Gegenstand und Werkzeug geistes-, geschichts- und sozialwissenschaftlicher Forschung hervorhob. Insbesondere für die Frage, aus welchen Ressourcen sich die Legitimität einer demokratischen, politischen Ordnung speist, wenn die Wirkung des verheißungsvollen Gründungsmomentes nachlässt – wie es sich beispielsweise bereits ein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung beobachten ließ – birgt das Konzept der Zivilreligion, so Vorländer, bisher wenig beachtetes Potenzial.
Gleich im darauffolgenden Vortrag des Dresdner Althistorikers Dr. Christoph Lundgreen, der am Dresdner Sonderforschungsbereich 804 „Transzendenz und Gemeinsinn“ forscht, fand das Konzept der Zivilreligion im Kontext der Römischen Republik Anwendung. Der Befund Lundgreens, dass die antike res publica noch keine tragenden Indizien für eine vorherrschende Zivilreligion, wie sie zum Beispiel von Rousseau beschrieben wird, aufweist, wurde äußerst kontrovers diskutiert.
Einen Einblick in das Verhältnis der Philosophie zur Zivilreligion von Platon bis hin zu Rawls bot der deutsche Philosoph Enno Rudolph. Er machte die Rolle von Zivilreligion als Ausfallbürge mangelnder Bürgertugenden und sozialer Integration exemplarisch an den zuweilen nicht unmittelbar erkennbaren zivilreligiösen Fragmenten im Denken bedeutender Philosophen sichtbar, wie beispielsweise Kant, der „den lieben Gott durch die Vordertür der reinen Vernunft hinausgeworfen hat, um ihn durch die Hintertür der praktischen Vernunft wieder hinein zu schmuggeln“.
Der Philosoph und Politikwissenschaftler Prof. Henning Ottmann, München, zeigte sich gegenüber der integrativen Funktion von Zivilreligion in liberalen Gesellschaften deutlich kritischer, da zivilreligiöse Ansprüche stets die Gefahr entgrenzter Normativität in sich tragen, welche leicht zu repressiven Dogmen werden können. Auch Prof. Davor Rodin meldete Zweifel in Bezug auf das soziale Stabilisierungsvermögen von Zivilreligion an, da eine solche stets staatlich vorgegeben, ja geradezu oktroyiert sei.
Dem entgegen argumentierten der Züricher Philosoph Prof. Georg Kohler und der Frankfurter Rechtswissenschaftler Prof. Günter Frankenberg, dass Zivilreligion für einen essentiellen Basiskonsens sorge und Gefahrenherden gesellschaftlichen Auseinanderdriftens entgegenwirke, indem normative Ordnungsvorstellungen auf Dauer gestellt würden.
Der Philosoph Prof. Goran Gretić und der Politikwissenschaftler Prof. Zoran Kurelić, beide von der Universität Zagreb, boten jeweils einen zivilreligiös geprägten Exkurs zum Werk des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek als Entwurf einer „negativen Zivilreligion“ bzw. zum Ansatz Emmanuel Levinas‘ als Sakralisierung gegenseitiger Verantwortlichkeit der Menschen füreinander.
Die bis dahin gewonnen Einblicke und aufgekommenen Fragen rund um den Komplex ‚Zivilreligion‘ wurden anschließend auf einem Exkurs der anderen Art erörtert. Bei einem gemeinsamen nachmittäglichen Ausflug zur nahegelegenen Insel Korčula wurde der Seminarraum gegen ein Boot getauscht, wo die Diskussion in lockerer Atmosphäre und mit Seeluft um die Nase ihre Fortsetzung fand.
Ausgehend von den überwiegend theoretischen Überlegungen zu Zivilreligion wurde vor allem seitens der Studierenden verstärkt nach dem empirischen Einsatz des Konzeptes gefragt. Hier konnten Dr. Stephan Dreischer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 804, und Stefanie Hammer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politische Theorie der Universität Erfurt, schließlich exemplarisch an Hand ihrer aktuellen Arbeiten zeigen, wie sich zivilreligiöse Annahmen auf praktische Problemstellungen beziehen lassen.
In der von Stephan Dreischer und Stefanie Hammer gemeinsam geleiteten Abschlussdiskussion zeigten sich noch einmal die unterschiedlichen Haltungen hinsichtlich der analytischen Anwendbarkeit und Erklärungskraft von Zivilreligion. Doch gerade weil dem Konzept der Zivilreligion ein so markantes Spannungsverhältnis von Ermöglichung und Normierung eines Gemeinwesens, von Säkularisierung und Sakralisierung politischen Handelns, von sozialer Integration und Exklusion innewohnt, wird es die Sozial- und Geisteswissenschaften sicher auch in Zukunft beschäftigen. Zumindest dies kann, aller wissenschaftlicher Kontroverse zum Trotz, als einhelliges Ergebnis des diesjährigen Sommerkurses festgehalten werden.
Dass an dieser besonderen Art des wissenschaftlichen Austausches auch Dresdner Studierende teilnehmen und eine erfahrungsreiche Seminarwoche erleben konnten, ist nicht zuletzt der finanziellen Unterstützung durch die Gesellschaft der Freunde und Förderer der TU Dresden e. V. zu verdanken.
Marlen Gnerlich