10.10.2023
30.11.-01.12.23 - Workshop "Kippfigur Gemeinplatz: Paradoxien der doxa"
Workshop "Kippfigur Gemeinplatz: Paradoxien der doxa", 30.11.–01.12.2023, Institut für Germanistik und Medienkulturen, TU Dresden
Organisation: Dr. Bernhard Stricker ()
Veranstaltungsort: Wiener Straße 48, 01219 Dresden, Raum 0.16
Keynote:
Prof. Dr. Anna-Louise Milne (University of London, Paris): »A Common Place, or the Limits of Idiom«
Programm
Donnerstag, 30.11.2023 |
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13.00 |
Begrüßung und Einführung |
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13.15 |
Gemeinsames Reading I |
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14.00 |
Antje Junghanß/ |
Gemeinplätze als Ansatzpunkte allgemeiner Betrachtungen. Die Funktion der loci communes in der antiken Rhetoriktheorie |
14.45 |
Kaffeepause |
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15.15 |
Jasper Schagerl (Bremen) |
Unterhaltsame Gemeinplätze. Robert Prutz und der populäre Common sense |
16.00 |
Claudia Liebrand (Köln) |
Gottfried Kellers Der Schmied seines Glückes. Realismus im Modus von Topik und Proverbialität |
16.45 |
Kaffeepause |
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17.15 |
Hendrik Groß (Dresden) |
Idiosynkrasie und Gemeinplatz in Adornos Minima Moralia |
18.00 |
Florian Fuchs (Berlin) |
Commonplace – Border Case – Toponym |
18.45 |
Abschluss Tag 1 |
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19.30 |
Gemeinsames Abendessen |
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Freitag, 01.12.2023 |
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09.00 |
Gemeinsames Reading II |
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10.00 |
Kaffeepause |
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10.30 |
Keynote-Vortrag: Anna-Louise Milne (Paris) |
A Common Place, or the Limits of Idiom |
12.00 |
Mittagessen |
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13.30 |
Bernhard Stricker (Dresden) |
»La figure précise du mystère« : |
14.15 |
Bettina Lindorfer (Dresden) |
Den Gemeinplatz durchqueren: Barthes gegen Paulhan? |
15.00 |
Kaffeepause |
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15.30 |
Jan Knobloch (Köln) |
»Letzten Endes geht das, was er schreibt, von einer korrigierten Banalität aus.« Dummheit und Bewegung bei Barthes und Flaubert |
16.15 |
Johanna-Charlotte Horst (München) |
Arbeit am Gemeinen |
17.00 |
Abschlussdiskussion |
Gemeinplätze genießen keinen guten Ruf. Phrasen, Formeln, Floskeln, Klischees, Stereotypen, Sprichwörter, Redensarten oder Slogans – sie alle sind als »vorgeformte Wendungen« (Gülich 1970) verpönt, nicht allein aus stilistischen, sondern auch aus ideologischen Gründen. Als Inbegriff bürgerlicher Borniertheit sind sie spätestens seit Flauberts Dictionnaire des idées reçues (Flaubert 2004; 2017) Gegenstand einer Kritik, die nicht allein ihrer Banalität, sondern mehr noch ihrer Fixiertheit gilt: Gemeinplätze indizieren demnach ein regelrecht »erstarrtes Denken« (Blaicher 1987). Vor dem Hintergrund des modernen Imperativs der Originalität und der Dynamik permanenter Innovation konnte diese Kritik in paradoxer Weise traditionsbildend wirken. »Den Gemeinplatz vermeiden ist«, nach Raymond Queneaus Worten, »die ganze Essenz der Poesie« (Queneau 1976).
Doch bei genauerem Hinsehen erweist sich der Gemeinplatz als ein durchaus schillerndes Phänomen, das keineswegs ein so rigides, unflexibles Gebilde darstellt, wie seine Kritiker glauben machen möchten (Compagnon 1997; Milne 2001). Wenig überraschend bezieht sich die Literatur seit der Moderne darum auch keineswegs nur negativ, im Modus der Abgrenzung, auf Gemeinplätze – diese sind vielmehr in der Literatur nicht weniger als in außerliterarischen Zusammenhängen geradezu ubiquitär. Nicht bloß haben Gemeinplätze sich beinahe allen literarischen Gattungen eingeschrieben, dabei sind auch die Formen, Verfahren und Funktionen, in denen sie Verwendung finden, überaus vielfältig: Sie reichen, um nur wenige prägnante Beispiele zu nennen, von der Figurencharakterisierung im Roman (Proust 2020; Menasse 2006) bis zur Sprachreflexion in der Lyrik (Wiemer 1971; Aichinger 1978), von den Experimenten der Surréalisten mit Sprichwörtern (Éluard/Péret 1995) bis zu den Sprach-Installationen im öffentlichen Raum von Jenny Holzer (Holzer 1996; Holzer/Dinkla/Guay 2006). Dabei kann der Gemeinplatz, wie sich exemplarisch an dem oben zitierten Gedicht von Safiye Can zeigt, genuin kreative, sprachschöpferische Qualitäten entfalten. Und zwar mit gutem Grund: Der idiomatische Charakter vieler Gemeinplätze macht, dass sich ihre Bedeutung oftmals nicht aus der Bedeutung der einzelnen Elemente des Ausdrucks zusammensetzt, sondern sie eine feste semantische Einheit bilden. So können Gemeinplätze zwischen den Aspekten der Banalität und des Tiefsinns changieren, indem sie abwechselnd entweder ihre übertragene oder ihre latent mitlaufende literale Bedeutung aktualisieren.
Der Workshop möchte eine methodische Neu-Perspektivierung des Gemeinplatzes anregen, indem er ihn als ›kleine Form‹ in den Blick nimmt. Mit diesem Konzept wird eine disparate Gruppe historisch variabler, kurzer Textformen gekennzeichnet, die sich wegen ihrer besonderen Fluidität und Mobilität nicht mittels starrer Gattungskonventionen, sondern nur in einer praxeologischen Perspektive beschreiben lassen (Jäger/Matala de Mazza/Vogl 2020). Kleine Formen, wie sie vor allem unter dem Druck des »Beschleunigungsimperativs« der Moderne einen rapiden Aufschwung erlebt haben (Gamper/Mayer 2017), sind somit nicht in sich abgeschlossen, sondern durch ihre Einbettung in Gebrauchszusammenhänge bestimmt. Überträgt man diesen Begriff der kleinen Form von der Textebene literarischer Formen auf die sprachliche Ebene der noch kleineren ›vorgeformten Wendungen‹, so lassen sich die erstaunlich dynamische Zirkulation und die große funktionale und semantische Variabilität beschreiben, die dem vermeintlich starren Gemeinplatz in den Kontexten seines Gebrauchs zukommen. Nimmt man die ›Performativität‹ des Gemeinplatzes in den Blick, so erweist er sich als ein nicht bloß mehrdeutiges, sondern geradezu paradoxes Gebilde: als Kippfigur (zur Philosophie der Kippfigur mit Bezug auf Wittgenstein vgl. Fortuna 2012).
Die Paradoxie des Gemeinplatzes besteht darin, dass seine Gestaltqualität auf seiner Wiedererkennbarkeit beruht, es aber nach dem Befund der linguistischen Phraseologie keine objektiven Kennzeichen gibt, die es erlauben würden, eine Wendung zweifelsfrei als Gemeinplatz zu identifizieren und von einem frei gebildeten Satz zu unterscheiden (vgl. Hallsteinsdóttir/Farø 2006). Der Gemeinplatz wird als solcher erst durch ein ›reflektierendes Urteil‹ (Kant 1990) bestimmbar, das den besonderen Satz auf dessen allgemeine Form bezieht. Wenn damit gilt, dass kein Satz einfach Gemeinplatz ist, sondern Sätze als Gemeinplätze aufgefasst werden können oder nicht – sowohl vom Autor als auch vom Rezipienten – dann dispensiert der Gemeinplatz keineswegs, wie von seinen Kritikern leichtfertig angenommen, von individueller Urteilsfähigkeit und ›semantischer Autonomie‹ (Hampe 2016). Wie ein Gemeinplatz aufgefasst wird, kann dabei ebenso Ausdruck eines stillschweigenden Einverständnisses mit geltenden Konventionen sein wie Anzeichen einer Fremdheit zwischen Selbst und Anderem, einer Grenze, an der sich die Geister scheiden.
Fragen der sprachlichen und der Sozial- bzw. Lebensform erweisen sich so im Gemeinplatz als aufs engste miteinander verschränkt und fordern die Frage heraus, inwiefern der Gemeinplatz sich als Anzeichen eines »Nachlebens der Topik« (Fuchs 2023) verstehen lässt: als in »konkreter Dinglichkeit« materialisierte doxa (Plett 2000, 225), an der gerade die Unselbstverständlichkeit des Miteinander-Reden-Könnens, das die Grundlage politischer Teilhabe und Partizipation darstellt (Arendt 2016), deutlich wird. Lässt sich so der Gemeinplatz einerseits auf die Problematik dessen beziehen, was Kant in Bezug auf das Geschmacksurteil als die ›Form der Mitteilbarkeit überhaupt‹ bezeichnet (Kant 1990), rückt der Gemeinplatz andererseits auch als ein Mittel sprachlicher ›Formalisierung‹ bzw. ›Technisierung‹ innerhalb der Lebenswelt (Blumenberg 1981) in den Blick. Als ein möglicher Fluchtpunkt der Überlegungen zum Gemeinplatz zeichnet sich so schließlich die Frage ab, inwieweit die aktuellen Entwicklungen im Bereich der KI-basierten language models nur die konsequente Weiterentwicklung einer in der menschlichen Rede bereits angelegten Tendenz zur Technisierung darstellen (Weatherby 2022) oder ob der Gemeinplatz durch die Möglichkeiten automatisierter, maschineller Kommunikation in unserer Gegenwart schließlich ein historisierbares Phänomen geworden ist.
Wenn der Gemeinplatz in diesem Sinne Theoriebildung regelrecht provoziert, dann wird umgekehrt gerade am Gemeinplatz deutlich, inwiefern jede Beobachtung sprachlicher Phänomene diese durch die Aufmerksamkeit, die sie ihnen widmet, je schon verändert (Paulhan 2009). Darum, so die Hypothese, setzen Gemeinplätze Reflexionsprozesse in Gang, die nicht allein im Modus der Theorie, sondern auch in der Gestalt literarischer Texte Form annehmen, welche die Reflexivität zwischen Beobachter und Beobachtetem und die daraus erwachsenden Paradoxien ohne die Gefahr eines Selbstwiderspruchs thematisch werden lassen können.
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Der Workshop möchte in Form von Vorträgen, gemeinsamen Lektüren und Diskussionen dazu anregen, »Abgründe dort sehen zu lehren, wo Gemeinplätze sind […]« (Kraus 1987, 373). Die Texte zur gemeinsamen Lektüre werden im Vorfeld in einem Reader zur Verfügung gestellt. Gäste sind willkommen. Um Anmeldung unter wird gebeten.
Bibliographie:
- Aichinger, Ilse (2008): Werke. Verschenkter Rat: Gedichte / Ilse Aichinger (= Fischer-Taschenbücher 11048). 4. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag.
- Arendt, Hannah (2019): Sokrates: Apologie der Pluralität (= Fröhliche Wissenschaft 078). 4. Auflage. Berlin: Matthes & Seitz.
- Blaicher, Günther (Hg.) (1987): Erstarrtes Denken: Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur ; [Vorträge, gehalten auf einem Symposium vom 7.-9.10. 1985 in Eichstätt]. Tübingen: Narr.
- Bloy, Léon/Henschen, Hans-Horst/Bloy, Léon (1995): Auslegung der Gemeinplätze (= Die andere Bibliothek 124). 1. bis 6. Tsd., einmalige, limitierte Ausg. im Buchdr. vom Bleisatz. Frankfurt am Main: Eichborn.
- Blumenberg, Hans (1981): Wirklichkeiten in denen wir leben: Aufsätze und eine Rede (= Universal-Bibliothek 7715). Stuttgart: P. Reclam.
- Can, Safiye (2017): Kinder der verlorenen Gesellschaft: Gedichte. Göttingen: Wallstein Verlag.
- Compagnon, Antoine: Théorie du lieu commun. In : Cahiers de l’association internationale des études françaises 49 (1997), S. 23-37.
- Eluard, Paul/Péret, Benjamin/Hörner, Unda (Hg.) (1995): 152 Sprichwörter auf den neuesten Stand gebracht. 1. Aufl. Giessen: Anabas-Verl.
- Flaubert, Gustave/Henschen, Hans-Horst (2017): Bouvard und Pécuchet: der Werkkomplex. Göttingen: Wallstein Verlag.
- Flaubert, Gustave/Herschberg Pierrot, Anne (2004): Le dictionnaire des idées reçues et le catalogue des idées chic (= Le livre de poche 3139). 2. éd. Paris: Librairie generale francaise.
- Fortuna, Sara (2012): Wittgensteins Philosophie des Kippbilds. Aspektwechsel, Ethik, Sprache. Wien/Berlin: Turia + Kant.
- Fuchs, Florian (2023): Civic Storytelling. The Rise of Short Forms and the Agency of Literature. New York: Zone Books.
- Gamper, Michael/Mayer, Ruth (Hg.) (2017): Kurz & Knapp: zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (= Edition Kulturwissenschaft Band 110). Bielefeld: Transcript.
- Gülich, Elisabeth (1978): »Was sein muß, muß sein.« Überlegungen zum Gemeinplatz und seiner Verwendung. In: Bielefelder Papiere zur Linguistik und Literaturwissenschaft 7,.
- Hallsteinsdóttir, Erla/Farø, Ken (2006): Neue theoretische und methodische Ansätze in der Phraseologieforschung. Vorwort. In: Linguistik online 26 (2), S. 3–10.
- Hampe, Michael (2016): Kollektive Macht und semantische Autonomie: Sprache, Technik und Aufklärung, in: Deutsches Jahrbuch Philosophie 6. S. 121-141.
- Holzer, Jenny (1996): Writing: = Schriften. Ostfildern-Ruit: Cantz.
- Holzer, Jenny/Dinkla, Söke/Guay, Abigail (2006): Die Macht des Wortes. Ostfildern: Hatje Cantz.
- Jäger, Maren/Matala de Mazza, Ethel/Vogl, Joseph (Hg.) (2020): Verkleinerung (= Minima literatur- und wissensgeschichte kleiner formen). Boston: DE GRUYTER.
- Kant, Immanuel (1990): Kritik der Urteilskraft (= Philosophische Bibliothek 39a). 7. erweiterte Aufl. Hamburg: F. Meiner.
- Kraus, Karl (2012): Die Sprache (= Schriften / Karl Kraus Bd. 7). 11. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Menasse, Eva (2007): Vienna: Roman (= btb 73253). 5. Aufl. München: btb-Verl.
- Milne, Anna-Louise (2001): Placing the Commonplace. In: Palimpsestes. Revue de traduction 13, S. 129-139.
- Paulhan, Jean/Baillaud, Bernard (2011): Les fleurs de Tarbes (= Oeuvres complètes 3). Paris: Gallimard.
- Paulhan, Jean (2009): Oeuvres complètes. II: l’art de la contradiction. Paris: Gallimard.
- Plett, Heinrich F. (2000): Rhetorik der Gemeinplätze. In: Schirren, Thomas/Ueding, Gerd (Hg.): Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium (= Rhetorik-Forschungen). Tübingen: Niemeyer. S. 223–236.
- PROUST, MARCEL (2020): LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU, I A IV. Place of publication not identified: GALLIMARD.
- Queneau, Raymond (1976): Loin de Rueil (= Collection Folio 849). Paris: Gallimard.
- Weatherby, Leif (2022): Intermittent Legitimacy: Hans Blumenberg and Artificial Intelligence. In: New German Critique 49 (1), S. 11–39. https://doi.org/10.1215/0094033X-9439601.
- Wiemer, Rudolf Otto (1971): beispiele zur deutschen grammatik. gedichte. Berlin: Wolfgang Fietkau Verlag.